τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 24. November 2011

In der Metaphysik lesen (987a 30 – 987b 27)


„Nach den besprochenen Philosophien entstand dazu, kam dazu ...“ Zum ersten Mal (?) in dieser später „Metaphysik“ genannten Schrift die Präposition meta im Sinne von „nach“, nach den in den Plural gesetzten „Philosophien“. Diese Pluralsetzung ist die typische Geste der Philosophiegeschichte und sie wird von manchem Philosophen als eher unphilosophisch oder antiphilosophisch empfunden, als Relativierung, Vergleichgültigung. Was kam dann dazu? Die Philosophie Platons? Ja, gewiß. Aber jetzt setzt Aristoteles statt „Philosophie“ – wieder – das Wort ein, das uns schon oben ziemlich unphilosophisch vorgekommen ist: pragmateia – was ja eigentlich Aktivität, Unternehmung bedeutet.

Aristoteles behält also seinen eher distanzierten Ton bei, obwohl sein historischer Bericht jetzt eigentlich eine andere „Positionalität“ einnimmt: denn während er von den „vorplatonischen“ Philosphien wohl eher aufgrund von „Hören-Sagen“, vielleicht aufgrund der Lektüre von Texten berichten konnte, kennt er die Lehre Platons aus eigenem und zwar jahrelangem Zuhören bei Platon persönlich, gewiß auch von vielen Diskussionen, die er selber mit ihm geführt hat, also von direktem Hören und Sprechen, vom „Sprechen-Hören“ (oder wie man das nennen soll). Allerdings merkt man dadurch – jedenfalls zunächst – keine Veränderung in seinem Ton, nur daß der Bericht ausführlicher, detaillierter wird. Aristoteles erwähnt die sehr verschiedenen Lehrer Platons und betont, daß er ihnen allen in gewissen Punkten folgte: wie ein Fortsetzer und Zusammenführer unterschiedlicher Traditionen. Seine pragmateia hatte aber auch viele eigene Züge gegenüber der „Philosophie der Italiker“. Den Lehrmeinungen des Heraklit (hier eine sehr andere Bezeichnung für dessen Philosophie) folgte er insofern, als auch er daran festhielt, daß die wahrnehmbaren und ständig fließenden Dinge wissenschaftlich nicht erfaßt werden können, also nicht definiert werden können: dies sei nur für die „Ideen“ möglich, die neben jenen existieren und für die auch der Ausdruck eidos gebraucht wird. Wörtlichste Übersetzungen für idea und eidos: die „Sicht“ und das „Gesicht“ (Aussehen, Gestalt). Mit diesen Wörtern unterstellt Platon, daß die Ideen „eigentlich“ sehr wohl sichtbar sind – allerdings nicht für unsere irdisch-körperlichen Augen. Sichtbar sind sie für ein „Mehrsehen“ oder ein „Fernsehen“, das wir vor der Geburt hatten (ob auch nach dem Tod, sei dahingestellt).

Sozusagen zwischen den Sinnesdingen und den Ideen gibt es noch die mathematika: sie sind ewig (wie die Ideen) aber pluraler als diese: während es als Idee nur „das Gerechte“  oder „den Tisch“ gibt, gibt es das ideale „Dreieck“ in mehreren Versionen (wie wir neulich zufällig bemerkt haben) – nicht aber den Eßtisch, den Schreibtisch, den Operationstisch: diese Untertypen haben selbst für Platon nicht „platonischen“, sondern erfundenen, zufälligen Charakter.

Und dann fügt Aristoteles dieser bekannten platonischen Lehre noch eine weitere Ebene, ein zusätzliches Geschoß hinzu: die Ideen beruhen auf „Elementen“, die sich in die „stofflichen“ und die „wesenhaften“ (= ideenhaften) gliedern: „das Große und das Kleine“ (oder die „Zweiheit“) sowie „das Eine“. Also eine sehr abstrakte zusätzliche Ebene von Prinzipien, die übrigens vor einigen Jahrzehnten als Platons „ungeschriebene“ oder gar „Geheimlehre“ ein gewisses Aufsehen erregte. Wie Aristoteles bemerkt, nähert sich Platon damit der pythagoräischen Lehre an. Auffällig scheint mir, daß auf dieser tieferen (oder höheren) Ursachenebene so etwas wie „Gott“ nicht aufzutauchen scheint, ebensowenig wie auf der Ebene der Ideen. Insofern bei Platon eine „gottlose“ Prinzipienlehre?

PS.: Zur Erinnerung an unsere seinerzeitige Lektüre der aristotelischen Wörterkunde in der Poetik weise ich auf ein Buch hin, das sich einen Teilbereich einer solchen Wörterkunde – und zwar für die deutsche Sprache – vorgenommen hat.

Sein Kernsatz: „Fremdwörter sind Wörter der deutschen Sprache.“ Neben historischen Darlegungen bringt das Buch auch Ausführungen zur Grammatik, zur „Form“ und zum „grammatischen Verhalten“ der Fremdwörter; ein Punkt, den wir für die griechische Sprache mit den Suffixen sis und ma öfter berühren.

Da für die philosophische Erkenntnis die Erkenntnisrichtung „Reflexion“ eine wichtige Rolle spielt, gehört auch die linguistische Reflexion dazu. Und vor allem kann diese eine Schule für eine wichtige philosophische Tugend sein: die Genauigkeit.


Walter Seitter

Montag, 21. November 2011

"Der Meister des Realen"


In Frankreich erscheint seit einigen Jahren das Philosophie Magazine und trägt mit Erfolg zum Öffentlichwerden der Philosophie bei. Nun gibt es auch eine deutsche Ausgabe: Philosophie Magazin.

Das umfangreichste Dossier der ersten Nummer (November 2011) ist Aristoteles gewidmet. Bemerkenswert der Titel, unter dem es im Inhaltsverzeichnis angekündigt wird: "Aristoteles - Der Meister des Realen". Der Titel scheint direkt aus dem Französischen übernommen zu sein - jedenfalls klingt er total lacanianisch. Denn maître ist bei Jacques Lacan das Wort für den hegelschen "Herrn" und daher auch der Inhaber des "Diskurses des Herrn". Und das "Reale" erinnert sehr, obwohl das Wort gar nicht so ungewöhnlich ist, an den Spezialbegriff bei Lacan, der eine Zuspitzung, eine Extremisierung des Wirklichen meint. 

Kann der Titel "Aristoteles - Der Meister des Realen" selber als lacanianisch gelten? Vermutlich ja, obwohl die Formulierung in sich einen "Widerspruch" enthält, denn das "Reale" kann gerade nicht "gemeistert" werden. Doch Lacan unterstellt dieses Unmögliche dem Aristoles - weshalb er sich von ihm distanziert, so im Seminar XX; in einer anderen Hinsicht auch im Seminar VII. Und dennoch läßt Lacan den Aristoteles als Meister, als Lehrer auch für sich gelten, setzt er ihn quasi ununterbrochen als Begleiter, als Stichwortgeber für seine eigene Lehre ein. Ganz bestimmt würde er ein Ignorieren des Aristoteles nicht als Fortschritt zu einem höheren Standpunkt betrachten wollen.

WS

Donnerstag, 17. November 2011

In der Metaphysik lesen (986a 29 – 987a 29)


Wir fragen uns noch, wie wir uns die pythagoräische Vorstellung von dem Einen denken können, das selber keine Zahl sein soll, wohl aber die „Ursache“ der Zahl(en). Sofern die Zahlen mit dem Zählen auftauchen, beginnen sie erst mit der Zwei: das Eine liegt „davor“ – wird nicht gezählt sondern schlicht gesetzt oder gesehen.
Und das Eine, das sowohl gerade (teilbar) wie auch ungerade (unteilbar) sein soll? In Weimar gibt es heute noch den Ginkgo-Baum, den Goethe gepflanzt haben soll, weil ihm das Ginkgo-Blatt mit seinem tiefen Einschnitt in der Mitte als Urbild der Einheit von Einheit und Zweiheit galt: 

Goethes Ginkgo-Blatt

Den Chinesen gilt die geteilte Blattform als Symbol für ihre Yin- und Yang-Naturphilosophie. Der Ginkgo-Baum ist die älteste noch lebende Pflanzenart. Seine Usprünge reichen 280 Millionen Jahre zurück; in Europa gab es ihn bereits vor der Eiszeit. Danach brachten ihn um 1700 holländische Seefahrer aus Japan wieder nach Europa.
Auch in Wien gibt es so einen Baum, und zwar im Burggarten, in der Nähe des Eingangs beim Palmenhaus.
Nach dem Gesagten können wir das Ginkgo-Blatt – neben der Tetraktys – als ein einfacheres pythagoräisches Emblem betrachten: nämlich für den Doppel-Charakter des Einen.
Die Lehre von den Gegensätzen als Ursachen ist auch von anderen frühen Philosophen vertreten worden; die Pythagoräer sind dabei genauer vorgegangen, doch Aristoteles zufolge haben sie nicht klargestellt, welche von den – aristotelischen Ursachenarten – sie dabei im Auge hatten; Aristoteles selber meint: die Stoffursachen.
Aristoteles geht dann zu den Denkern über,  welche die Natur als ein Eines betrachtet haben: Melissos, Xenophanes, Parmenides. Der „extremste“ Denker unter ihnen war Parmenides, für den das Seiende existiert, das Nichtseiende nicht; daneben läßt er aber auch die Ebene der Erscheinungen und der Sinneswahrnehmung gelten und da gebe es nicht nur das Eine sondern das Mehrere und als Ursachen sowohl das Warme und das Kalte: das Warme für das Seiende, das Kalte für das Nichtseiende. Auf diese Weise nimmt auch er eine Polarität an – aber mit verschärfter Asymmetrie (im Vergleich zu den zehn Gegensätzen, erst recht gegenüber Yin-Yang).

Die reinen Pythagoräer fassen ihre Ursachen rein mathematisch und versuchen außerdem, sie nach ihrem „Was“ zu definieren. Aristoteles sagt nicht nur „das Was“, sondern „das was ist“, umschreibt es also mit einer Art Frage-(oder Relativ-)satz, womit er seine eigene Terminologie den Pythagoräern überstülpt.
Figuratives Emblem versus logische Terminologie.

Walter Seitter

Donnerstag, 10. November 2011

In der Metaphysik lesen (986a 12 – 28)


Am 15. Dezember 1971 sagte Lacan in seinem Seminar ein paar Sätze zur Metaphysik des Aristoteles, die ich jetzt zitiere, ohne auf ihren Kontext – bei ihm, in seinem Seminar vom 15. Dezember 1971 – einzugehen.

„... ich möchte Ihnen sagen, lesen Sie die Metaphysik von Aristoteles, ich hoffe, daß Sie ebenso wie ich spüren werden: das ist ziemlich verrückt, beinahe saublöd ... Es geht nicht um die Metaphysik des Aristoteles in ihrem Wesen, in ihrem Signifikat .... Dieses Büchl, denn es ist ja bloß ein Büchl, ist etwas ganz anderes als die Metaphysik. Ich sprach eben von einem Buch, das geschrieben worden ist. Man hat ihm einen Sinn gegeben, den man die Metaphysik nennt, man muß jedoch das Buch vom Sinn unterscheiden. Seitdem man dem Buch diesen Sinn gegeben hat, ist das Buch nicht mehr leicht aufzufinden ...“[1]

Lacan steigert den herabsetzenden Ton noch, indem er in Bezug auf das Buch Blödheit und Echtheit zusammenfallen läßt, womit er aber nicht das Buch lächerlich machen will, sondern im Gegenteil diejenigen, die von „der Metaphysik“, also von so einer Disziplin oder von einer derartigen Realität so reden, als wüßten sie, was das ist.

Nun, diese merkwürdigen Sätze, die vor genau 40 Jahren ausgesprochen worden sind, und nicht etwa von einem Klassischen Philologen oder von einem professionellen Philosophen, sind mir gerade jetzt unter die Augen gefallen, das Seminar XIX ist ja erst in diesem Jahr publiziert worden. Ich zitiere sie, weil ich den Eindruck habe, daß unsere bisherige Lektüre dieses Buches ungefähr auf der Linie liegt, die von Lacans überragender Intelligenz hier angedeutet wird.

Unsere Lektüre ignoriert allerdings keineswegs das, was Lacan das „Signifikat“ nennt: wir stoßen jeweils auf die Signifikate, die in den einzelnen Sätzen, Absätzen, Kapiteln vorgeführt werden: Suche nach einer irgendwie bestimmten Wissenschaft, erkenntnistheoretische Überlegungen, wissenschaftshistorische Ausführungen mitsamt Beurteilung bestimmter „Vorgänger“.

Aristoteles wiederholt die Feststellung, daß für die Pythagoräer die Zahl eine Ursache sei: „sowohl als Stoff für Dinge wie auch als Erleidungen und Verhaltensweisen, die Elemente der Zahl aber sind das Gerade und das Ungerade, wovon dieses das Begrenzte, jenes das Unbegrenzte ist.“

Wir können uns diese Zuordnung veranschaulichen, indem wir drei Steine nebeneinander legen und sie in zwei Hälften teilen wollen: es geht nicht, weil wir in der „Mitte“ auf einen Stein stoßen, der sich widersetzt: da ist eine Grenze, eine Barriere. Aber der Satz davor ist noch nicht geklärt: Zahl als Stoff als Ursache – das paßt einigermaßen ins Schema; aber Zahl als Erleidungen und Verhaltensweisen als Ursache weniger: pathe und hexeis sind ja Akzidenzien; sollten etwa die dann genannten polaren Eigenschaften „gerade“ und „ungerade“, die als „Elemente“ bezeichnet werden, sowie die folgenden Gegensatzpaare damit gemeint sein? Eigenschaften (Plural) als Ursache (Singular)?

Ein weiteres Rätsel – für uns – vielleicht nicht für die Pythagoras-Kenner: das Eine weder gerade noch ungerade sondern Ursache der Zahl – analog zum Himmel als dem Ganzen (der Wirkung). Das Eine wäre somit eine allererste Ursache.

Es folgen dann noch mehrere Gegensatzpaare, insgesamt sind es zehn. Man bemerkt, daß die beiden „Seiten“ Übereinstimmungen mit den beiden altchinesischen Prinzipien Yin und Yang aufweisen, die auch die Polarität zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen enthalten – nicht aber die zwischen schlecht und gut.
Bei den Pythagoräern steht das Weibliche aufseiten der geraden Zahlen, das Männliche aufseiten der ungeraden. Diese Zuordnung können wir nach dem Beispiel der Teilbarkeit bzw. Unteilbarkeit der zwei bzw. der drei Steine verstehen: das weibliche Geschlechtsorgan erscheint als Spaltung, das männliche als eine Ausstülpung in der Mitte.

Übrigens stammt die Benennung des gleichschenkeligen Dreiecks (im Deutschen) offensichtlich von den geöffneten Oberschenkeln.

Walter Seitter

Mittwoch, 2. November 2011

In der Metaphysik lesen (985b 22 – 986a 11)


Die Ursachen-Annahmen oder -Theorien der Pythagoräer werden von Aristoteles relativ klar resümiert: die Pythagoräer behaupten, sie sehen Ähnlichkeiten zwischen den Zahlen und ihren Harmonien einerseits und den empirischen Phänomenen der Welt andererseits: solchen Phänomenen wie Gerechtigkeit, Seele, Augenblick, Himmelskörper – also sehr unterschiedlichen Phänomenen (Aristoteles spricht vom Seienden und Entstehenden). Dieser – man könnte sagen induktive oder empirische - Erkenntnisweg führt von den Wirkungen zu den Ursachen (die allerdings als Sachen schon bekannt sein müssen). Sehen und Vergleichen, Ähnlichkeiten sehen: nach Aristoteles muß auf das Sehen das Resümieren und Korrelieren folgen. Man kann bzw. soll da auch eine materialistische Ebene einziehen: zum Sehen muß das Sagen kommen: das Formulieren, sei es das diskussive oder das notative.

Es geht auch hier darum, was das ist: Wissenschaft machen. Und ich ergänze das, was Aristoteles dazu sagt, ein bißchen materialistisch, aristotelisch gesprochen: physikalisch. Physik der Wissenschaft: welche „Teile“, Bestandteile, gehören dazu, auch welche Tätigkeiten. Wissenschaft ist ein Komplex oder ein Feld von Tätigkeiten – und dann womöglich ein Komplex von Ergebnissen, die ihrerseits in Aussagen bestehen (welche überwiegend sprachlicher Art sind).

Den Tätigkeitscharakter der Wissenschaft bringt Aristoteles zum Ausdruck, indem er von den Pythagoräern sagt: „Und wenn etwas fehlte, fügten sie etwas hinzu, damit ihre ganze Theorie geschlossen sei.“ (986a -7) Das Tätigkeitsmoment „hinzufügen“ impliziert, daß Wissenschaft nicht unbedingt (vielleicht gar nicht) in einem Augenblick, mit einem Schlag gemacht wird: weder als totale Vision noch als einmalige Schöpfung – ein für alle Mal. Sondern eine Tätigkeit, die bestimmte Ziele anpeilt, verbunden mit Reflexion und Kontrolle über das Erreichen oder Nicht-Erreichen der Ziele und dementsprechend mit Fortsetzung oder Modifizierung der Tätigkeit.

Allerdings steht im Griechischen hier gar nicht das Wort „Theorie“ – sondern beinahe das Gegenteil davon: pragmateia. Und das heißt: Beschäftigung, Unternehmung, Arbeit, Studium. Mit pragmateia bringt Aristoteles den Tätigkeitscharakter der Wissenschaft geradezu schlagartig-metaphorisch zur Darstellung: er setzt einfach das Wort „Tätigkeit“ oder „Pragmatik“ für Wissenschaft, Theorie, Forschung. Er ersetzt durch diese Benennung „Wissenschaft“ durch – „Machenschaft“. „Machenschaft“ war das schon ziemlich polemische Prädikat, das Heidegger der Wissenschaft zugesagt hat. Die Pragmatisten und Heidegger – beides haben wir in diesem aristotelischen Satz mit dem Wort pragmateia – das auf die Pythagoräer gemünzt ist.

Und zwar spricht er nun von dem zweiten Erkenntnisweg, der von den Ursachen ausgeht, um über die Wirkungen etwas zu sagen. Man könnte sagen: der deduktive oder „theoretische“ (im engeren Sinn) Erkenntnisweg. Die angenommene Ursache ist die Vollkommenheit und zahlentheoretische Wesentlichkeit der Zahl Zehn. Die Vollkommenheit weist darauf hin, daß die oben schon genannte „Harmonie“ bei den Pythagoräern doch nicht rein deskriptiv so etwas wie „Proportion“ heißt, sondern daß etwas Optativ-Normatives damit verbunden ist. Und die Wesentlichkeit der Zahl Zehn haben die Pythagoräer in der Figur der Tetraktys dargestellt, welche den Anfang der Zahlenreihe als  gleichseitiges Dreieck zeichnet.

Aber das Beispiel der Schlußfolgerung von der Zahl Zehn (Ursache) auf die Zahl der Planeten (Wirkung), das Aristoteles referiert, zeigt, daß die Pythagoräer es mit ihrem Sagen und mit ihrem Machen sozusagen übertreiben: sie „machen“ einen zehnten Himmelskörper. Der Aktionismus der Theorie versteigt sich zu einem Konstruktivismus, den man nun irrig oder mutig nennen kann ...

Interessant, daß Aristoteles bzw. die Pythagoräer den erfundenen zehnten Himmelskörper antichthon nennen: daß sie ihn also nicht in weitester Ferne etwa als Meta-Saturn ansetzen, sondern sehr „geozentrisch“ von der Erde aus benennen. Aber auch nicht als antigaia. Das Element Erde wird mit dem ganz und gar irdischen Wort für Erde benannt: chthon.

Die heutige Wissenschaftliche Physik ist genauso spekulations- und konstruktionsfreudig wie die pythagoräische seinerzeit: sie redet von „Antimaterie“, „Dunkle Materie“, „Dunkle Energie“ ...

Walter Seitter