τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Dienstag, 28. Februar 2012

In der Metaphysik lesen (989b 21 – 990a 32)


Aristoteles macht nun eine große Zweiteilung in bezug auf seine „Vorgänger“: die einen beschäftigen sich nur mit Dingen oder Phänomenen, die entstehen, vergehen und sich bewegen, die anderen hingegen „machen die Theorie (Betrachtung) aller Seienden, sowohl der sinnlich wahrnehmbaren wie der nicht wahrnehmbaren.“ Da er sich diesen näher fühlt, will er auf Richtigkeit und Unrichtigkeit prüfen, was sie für seine bevorstehende Untersuchung zu sagen haben. Und dabei hat er die Pythagoräer im Auge, die sich entfernterer Prinzipien bedienen als die „Physiologen“ (welche nur die „Natur“ im engeren Sinn betrachten). Doch auch die Pythagoräer beginnen mit der Betrachtung der „Natur“ – also des Himmels mit seinen Teilen, Zuständen und Aktivitäten. Sie behaupten jedoch, sie könnten sich zu höheren Dingen erheben; tatsächlich können Sie mit ihren Prinzipien nicht einmal die natürlichen Dinge erklären, für deren tatsächliche Eigenschaften (leicht, schwer, Feuer, Erde) sie sich gar nicht zu interessieren scheinen. Um es im traditionellen philosophischen Jargon zu sagen: wer keine „Physik“ zustandebringt, ist deswegen noch lange kein guter „Metaphysiker“: so einfach-negativ geht es nicht.

Sodann formuliert Aristoteles eine Kritik an den Pythagoräern, die sich deren unterschiedliche Lehrmeinungen zunutze macht sowie die Tatsache, daß sie sowohl Phänomene (physische wie moralische) wie auch deren Ursachen mit Zahlen identifizieren. Demgegenüber habe Platon den Pythagoräismus plausibler gemacht, indem er nicht die wahrnehmbaren Zahlen sondern nur die noetisch einsehbaren zu Ursachen erklärt habe.

Walter Seitter

Mittwoch, 22. Februar 2012

Francis Ponge am 9. März im Französischen Kulturinstitut

Am Freitag, dem 9. März, um 19 Uhr werden im Französischen Kulturinstitut (Währingerstraße, 1090)
zwei Bücher des französischen Schriftstellers Francis Ponge präsentiert:

Malherbarium (übersetzt von Leopold Federmaier)

Der Tisch (übersetzt von Walter Seitter)

Francis Ponge ist zunächst durch sein Werk Le parti pris des choses - Parteiergreifung für die Dinge
bekannt geworden, in dem er sich nichts Geringeres als eine "Kosmogonie" vorgenommen hat. Walter Seitter stellt sein Werk unter den Titel "Poetische Physik" – und vergleicht diese sowohl mit der Wissenschaftlichen wie auch mit der Philosophischen Physik.

Freitag, 17. Februar 2012

In der Metaphysik lesen (988b 26 – 990a 20)


Aristoteles setzt seine kritische Auseinandersetzung mit den ihm vorausgehenden Ursachenforschern fort und in diesem Zusammenhang nennt er eine bestimmte Disziplinbezeichnung zum ersten Mal: er spricht von denen, die „Physiologie“ machen, wörtlich also „Naturlehre“ oder „Naturkunde“. Diese Bezeichnung hat er aber nicht erfunden, sie hat durchaus „historischen“ Charakter, denn einige Vorsokratiker hatten ihre Bücher so genannt. Aristoteles hat in der Poetik Empedokles als Physiologen bezeichnet (1447b 20). Wir können annehmen, daß Aristoteles sich diese Bezeichnung nicht zueigen macht – weder für seine Vorlesungen über die Natur und schon gar nicht für die hiesige Untersuchung. Pauschal wirft er jenen Vorläufern vor, daß sie die Beweg-Ursache sowie die Was-Ursache nicht berücksichtigen, ferner daß sie von den sogenannten „einfachen Körpern“ – damit sind hier die vier Elemente gemeint – allzu leichtfertig eines zum Prinzip erklären: mit der Erde machen sie das allerdings nicht, die scheint ihnen denn doch dazu ungeeignet (dazu gleich weiter unten). Zu diesen Elementen macht Aristoteles nun eine Ausführung, die sie im Grunde genommen auf ein Grundelement zurückführt: denn sie entstehen, so seine Ansicht, auseinander durch Zusammendrückung oder Auseinanderziehung in der Reihenfolge Feuer-Luft-Wasser-Erde (oder umgekehrt). Die erste Reihenfolge, die vom Feuer ausgeht, scheint ihm die plausibelste, weil dieses der kleinteiligste und feinste, daher auch der höchste und vornehmste Körper ist. Rudolf Steiner hat in seiner Rede vom sogenannten „Feinstofflichen“ diese Hierarchisierung übernommen: das Feinstoffliche bildet bei ihm den Übergang zum „Geistigen“ - so eindeutig liegen die Verhältnisse bei Aristoteles aber wohl nicht.

Aristoteles behauptet, Feuer, Luft oder Wasser seien von einzelnen Theoretikern jeweils zum ersten Prinzip ernannt worden. Und schließt dann die Frage an: Wieso nicht die Erde, wie doch die meisten Menschen meinen? Jetzt führt er ein anderes Wissenssubjekt ein, sozusagen ein demokratisches oder populistisches. Und dessen These lautet: Alles, genauer gesagt alle Dinge ist (sind) Erde: 989a 10. Übrigens hatte Aristoteles in seinem allerersten Satz „alle Menschen“ zum Subjekt eines - eben allgemeinen -  Wissensstrebens gemacht. Aber in seiner nun schon viele Seiten langen Theoriegeschichte kommen eben nur Theoretiker vor und demgegenüber scheint mir sein Eingehen auf eine andere Ansicht der „vielen Menschen“ bemerkenswert. Ich würde meinen, es handelt sich um eine bäuerliche, vielleicht sogar um eine jägerisch-sammlerische, Ansicht. Und deshalb gerade nicht um die Ansicht der frühen Theoretiker, die ja, wie Lacan gemeint hat, Herren waren, welche sich zusätzlich Wissen aneigneten. Aristoteles nennt diese Ansicht „archaisch und volkstümlich“. Diese Stufe liegt noch vor der der „Physiologen“. Aber auch sie hat einen prominenten Sprecher: den schriftstellernden Bauern Hesiod, der nicht in seinem Buch über die Bauernarbeit sondern in dem über die Kosmo- und Theogonie von der Erde als dem zuerst entstandenen Körper schrieb: meinte er damit eher den Himmelskörper oder das weich-harte Material, aus dem alles wächst? Hesiod zählt nicht zu den Philosophen, sondern zu den Dichtern, und zwar zu den ältesten Dichtern; eventuell kann man ihn in die Nähe der „Weisen“ rücken, die hauptsächlich Staatsmänner waren und von denen „Sprüche“ überliefert sind. Gleichzeitig betont Aristoteles das Volkstümliche dieser Ansicht – um sie jedoch als für Theoretiker zu unfein, zu grobschlächtig hinzustellen. Für diese kann nur das Feuer seiner Natur nach das erste Element sein – was aber nicht ausschließt, daß der Entstehung nach doch die Erde das erste Element ist. Diese Diskussion steht wie angedeutet unter der Voraussetzung, daß die vier Elemente nur vier Versionen oder auch Aggregatszustände eines einzigen Grundstoffes sind.

Andere Theoretiker wie Empedokles, die ebenfalls diese vier Elemente ansetzen, sehen darin tatsächlich vier oder immerhin zwei eigentliche Grundstoffe, die nicht aufeinander zurückgeführt werden können. Relativ ausführlich wird wiederum Anaxagoras kritisiert, der zwei Pinzipien ansetzt: das Eine oder die Vernunft, das Andere oder das Unbestimmte oder das Vermengte. Die Formulierung dieses zweiten Prinzips hält Aristoteles für ungenügend, gleichwohl gesteht er Anaxagoras zu, etwas geahnt zu haben, was als moderne oder heutige Ansicht gilt.

Walter Seitter

Donnerstag, 9. Februar 2012

In der Metaphysik lesen (988b 22 - 26)


Wenn laut erstem Satz des IV. Buches dem Seienden als solchem mehrere Hyparchonta („Existenzialien“, „Koexistenzialien“, „Immanenzialien“) zukommen, dann dürften das die Eigenschaften sein, die im Mittelalter „Transzendentalien“ genannt worden sind: ein, wahr, gut, schön. Wir können aber aus der Tatsache, daß es mehrere sind, schließen, daß darunter als Gegenpol zum Einssein auch eine gewisse – innere – Vielheit oder Mannigfaltigkeit sein könnte (damit das Einssein überhaupt etwas zu tun hat, nämlich die Einheit herzustellen), weshalb man auch die „moderne“ Eigenschaft der „Komplexität“ hier nennen könnte. Oder aber die Eigenschaft, die zur Seiendheit einen gewissen Gegenpol bildet: die Werdendheit, die Prozeßhaftigkeit. Oder die Eigenschaft, die darin besteht, daß jedes Seiende Akzidenzien haben muß. Die Hyparchonta selber sind keine Akzidenzien, aber das Akzidenzien-Haben-Müssen könnte eines sein: metahafte Notwendigkeit von nicht-notwendigen Akzidenzien, und die könnte man „Akzidenzialität“ nennen (so etwas war in der Lektüre der Poetik aufgetaucht, wo die Akzidenzien – unter der Bezeichnung pragmata - sogar die Überhand zu gewinnen scheinen).

Im Kapitel 8 setzt Aristoteles seine Kritik an jenen Vorgängern fort, die immer nur eine oder höchstens zwei Ursachen annehmen, oder nur die Ursache für einen Aspekt ins Auge fassen oder zu leichtfertig einen Körper für ein Prinzip halten, ohne seine innere Zusammensetzung zu bedenken. Also Kritik an verschiedenen Arten von „Vereinfachung“. In den beiden ersten Sätzen richtet sich die Kritik außerdem an diejenigen, die nur körperliche Dinge annehmen, „wiewohl es doch auch körperlose Dinge gibt“. Die Aussage steht so da, als würde sie Aristoteles von sich aus und für sich machen. Aber welche körperlosen Dinge hat er denn überhaupt angenommen? Leichter läßt sich die Frage für Platon beantworten, bei dem sowohl die Seelen – die menschlichen, wie auch die Ideen körperlos sein dürften. Wie kann man sich die platonischen Ideen vorstellen. Jede Idee ist das Urbild einer Art von Dingen oder Qualitäten, auch von körperlichen Dingen, wie etwa der Tiere. Aber die jeweilige Idee ist eine Steigerung – sei es des Menschen oder des Baumes oder des Schönen. Jeweils eine Superversion – also ein Supermensch, ein Superbaum, oder eben das Superschöne. Dasselbe in größter Vollkommenheit: wie eine Art Statue, wie aus Diamant, aber in größter Deutlichkeit das jeweilige Wesen darstellend, urbildlich vorzeigend. Aristoteles hat dagegen eingewendet, daß damit die die uns bekannten Dinge „verdoppelt“ werden und daß diese Verdoppelung dann noch weiter getrieben werden könnte ... Platon würde dazu sagen, die „Verdoppelung“ vollzieht sich in der umgekehrten Richtung: von der Idee aus geschieht eine Verdoppelung, nein eine Vervielfältigung – allerdings mit qualitativer Minderung. Die vielen Rinder sind Abbilder, aber eher schwache, des Urrindes, des Superrindes.

Aber die Frage, was für körperlose Dinge Aristoteles annehmen könnte, ist damit nicht geklärt. Die „Kategorien“ sind zwar gewiß körperlos, aber sie sind ja keine Dinge. Sondern allgemeinste Begriffe. Die platonischen Ideen sind zwar auch „allgemein“ – aber gleichzeitig real existierend, selbständig existierend, wie Dinge – nämlich Superdinge.

Walter Seitter

Samstag, 4. Februar 2012

In der Metaphysik lesen (988b 6 – 22)


Unser Vorgriff auf die Stelle 1003a 20 eröffnet einen Blick auf die „andere“ Untersuchungsrichtung dieser „gesuchten“ Wissenschaft, und zwar auf diejenige, die den nacharistotelischen Namen „Ontologie“ im pointierten Sinn verdient, während für diejenige, die im letzten Buch mit der Lehre vom „unbewegten Beweger“ zum Abschluß gebracht wird, der ebenfalls nacharistotelische Name „Metaphysik“ nicht schlecht paßt.

„... das Seiende als Seiendes“ klingt nach purer Verdoppelung oder Tautologie und dieser Eindruck geht auch keineswegs fehl, denn es geht da um das Insistieren auf Immanenz, ums Sich-Verbohren in das was ist und zwar nicht in seiner Zusammensetzung aus vier Ursachen, nicht einmal in seinem Bestehen aus der „wesentlichsten“ Ursache – nämlich Form oder Wesen. Sondern in seiner Zuspitzung auf die schiere Seiendheit, also auf die Tatsache, daß es ist und nicht etwa nicht ist. Diese ganz feine Spitze der Seiendheit oder, wenn man will, des Seins wird hier zum Thema, eine sozusagen punktförmige Größe, die aber ganz gut mit den Bildern der Spitze, der Schneide des Messers oder aber des Aufzuckens des Blitzes umschrieben werden kann. Denn bei aller „Dünnheit“ ist die Seiendheit des Seienden doch etwas anderes als die bloß formallogische Identitätsfeststellung A=A oder x=x, die nun wirklich nur den Signifikanten bestätigt.
Mit dem Seienden als solchem hingegen ist – wie mit den Gegenständen anderer Wissenschaften, etwa den Vögeln oder den Tragödien – etwas Reales gegeben, ja man kann sagen, daß mit diesem Gegenstand, nämlich Gegenstand mitsamt Betrachtungsperspektive, das Reale als Reales, das Reale in seinem Realsein, beinahe das Etwas als Träger des „Realen“ im Sinne von Lacan vorgenommen wird. Während bei den Vögeln oder den Tragödien zunächst einmal eine jeweilige Wesenheit vor Augen steht, nämlich diejenige, die durch den Begriff „Vogel“ oder „Tragödie“ mitsamt den übergeordneten Gattungsbegriffen wie „Tier“ oder „Dichtwerk“ angezeigt wird, wozu dann noch Stoff usw. kommen, fallen beim Seienden als Seienden alle diese Bestimmungen, jedenfalls zunächst einmal weg. Wir haben es mit etwas in seinem bloßen, nackten, Foucault würde sagen „brutalen“ Sein zu tun. Nur Seiendes und sonst nichts – Seiendes mit Seiendsein in seiner Schärfe – wird zum Gegenstand gemacht. Seiendes und sonst nichts – und gerade mit seiner Seiendheit sich vom Nichts abhebend. Weil dieses Seiende gerade das Nur-Seiende ist, kommt zu ihm nichts hinzu als eben Nichts. Exklusivität des Seienden als Seienden, die ihm nichts hinzufügt als das „nur“: nur dies zu sein und sonst nichts. Das Nur agiert sozusagen wie der Wächter des Seienden und paßt auf, daß die Untersuchung nicht abschweift und zu irgendwelchen Wesenheiten, Elementen übergeht, die farbiger oder sonstwie interessanter sein mögen. Dieser Nur-Aspekt, den ich so herbeirede, und den man auch als ein strikte Insistenz=Kontinenz bezeichnen könnte, ergibt indessen schon einen Aspekt eben des Seienden, der mit ihm Hand in Hand geht, und den die Griechen „das Eine“ nannten. Das heißt es sieht so aus, als ob sogar das Nur-Seiende mit anderem verbunden wäre.

Und der zweite Teil des ersten Satzes von Buch IV. kommt auf solches Dazukommendes zu sprechen: nämlich die Aspekte oder Bestimmungen, die demselben, d. h. dem Seienden, an ihm selber zukommen. Neuerlich ein Partizip Präsens zur Bezeichnung des Gegenstandes. Hyparchon von hyparchein. Im Neugriechischen bedeutet das Wort schlichtweg „existieren“. Im Altgriechischen bezieht das Wort aus seinem Zwiespalt zwischen dem Präfix hypo, d. h. unter, und dem Verb  archein = anfangen, herrschen  eine innere Spannung, die dem damit gemeinten Sein – auch dieses Wort bedeutet „Sein“ – einen Doppelcharakter aus Untertänigkeit und Durchsetzung, Festigkeit verleiht. Subsistieren, also existieren an der unteren Grenze, dies aber mit der Festigkeit des Niedrigen und Elementaren, und dieses ganze Sein ist hauptsächlich dazu da, um Besserem zur Verfügung zu stehen: zukommen, zu etwas gehören, ja jemandem gehören. Das heißt hyparchein. Und was dem strikt einen Gegenstand „das Seiende“ als Zweitbestimmung zugesagt wird, das sind pluralische „Dazuseiende“, “Dazugehörige“, Bestimmungen, die ihm „zukommen“. Allerdings nicht als Akzidenzien, so niedrig sind die Hyparchonta denn doch nicht, sondern als notwendig im selber zukommende.

Der Plural des dritten Geschlechts hat im Griechischen die Besonderheit, daß der nominale Plural das darauffolgende Verb nicht veranlaßt, selber die Pluralform anzunehmen. Man kann daher von einem Pseudo-Plural sprechen, der gar kein Plural ist. Gar kein Plural – das ist auch wieder übertrieben. Denn wenn das Nomen in der Pluralform auftritt, dann tut es das sozusagen aufgrund einer Entscheidung, es könnte auch im Singular auftreten. Ein bekanntes Beispiel dafür ist im Griechischen das panta, das in aller Regel mit „alles“ übersetzt wird. So in dem berühmten Satz des Heraklit „Alles fließt.“, oder in dem bekannten aristotelischen Satz über die Seele, der im Lateinischen „Anima quodammodo omnia.“ heißt. Ich würde sagen, es handelt sich um einen schwachen Plural, der jedoch im Kontrast zum deutschen Sprachgebrauch ein „auffälliger“ und nicht ein bedeutungsloser Plural ist. Der deutsche Sprachgebrauch ist gerade durch ein entgegengesetztes Paradox gekennzeichnet: „alles“ ist ein quasi-nominaler Singular, der aber bedeutungsmäßig immer einen Plural ausdrückt: nämlich ein Maximum des Vielen, in Wirklichkeit ein Maximum der Vielheit der Vielen. Während das griechische panta in sich selber syntagmatisch vom Plural zum Singular übergeht, enthält das deutsche „alles“ in sich selber den Übergang, ja den Sprung vom singularischen Wortlaut zum semantischen Plural: ich würde sagen ein Pseudo-Singular. Zwei gegenläufige wortimmanente Paradoxien.

Nehmen wir den Plural hyparchonta ernst, obwohl wir noch gar nicht wissen, was oder wer diese hyparchonta sind, so kommen wir nicht um die Feststellung herum, daß Aristoteles innerhalb einer Gegenstandsbestimmung von Insistieren auf Selbigkeit zur Eröffnung einer Vielheit übergeht. Aus einer strikt einen Spitze geht eine mannigfaltige Explosion hervor, die aber wie in einem Bogen sich ganz und gar auf die Spitze zurückbezieht: sie gehört existenziell – nicht akzidenziell – zu ihr, die selber nur aus Existieren besteht: das Seiende als Seiendes mitsamt seinen gleichermaßen seienden oder mitseienden Zugehörigkeiten.

Dasjenige oder vielmehr diejenigen, die mit dem Seienden Hand in Hand gehen, können nur solche sein, die es in seiner Seiendheit bewahren, aufrechterhalten, garantieren – aber was das für welche sind, das werden wir erst sehen – hoffentlich, wenn wir das Buch IV lesen. Zurück zum Buch I: 988b 6. Aristoteles faßt jetzt seinen Bericht über die früheren Ursachenforscher – nur auf diese bezieht er sich – so zusammen, daß sie die Ursachen für Bewegungen angegeben haben oder angeben wollten, nicht aber die Ursachen für Sein, Entstehen bzw. Nicht-Sein. Das heißt: er besteht auch hier auf der Ebene des Seins, und zwar des Seins, für das Ursachen genannt werden sollten. Die von jenen Theoretikern genannten Ursachen  Freundschaft, Vernunft, die unter „Gutes“ subsumiert werden können, seien also nicht als Ursachen im vollen Sinn des Wortes einsichtig gemacht worden. Ähnlich die Ursache, die als „das Eine oder das Seiende“ (988b -12) benannt worden ist: sie sei zwar als Ursache des Wesens aufgestellt worden, nicht aber als Ursache für Sein oder Entstehen. Auch diese Ursache sei unter „das Gute“ zu resümieren, sie gelte aber nur als Ursache im akzidenziellen Sinn. Das Eine oder das Seiende als Ursache? Das Eine als Ursache, das ist von Pythagoras behauptet worden, und in einem etwas anderen Sinn von Platon, nämlich auf der Ebene der Elemente tatsächlich als Prinzip des Wesens oder der Form. Aber das Seiende als Ursache? Diese Formulierung taucht hier zum ersten Mal auf: für uns eine zufällige Kongruenz mit dem Vorgriff auf Buch IV, allerdings keine sehr sachhaltige. Das Seiende als Ursache: wird das nun durch die Verbindung mit dem Einen dem Pythagoras und dem Platon zugeschoben, eigentlich klingt es so – oder doch eher dem Parmenides? Was Aristoteles einklagt ist aber gerade die Angabe von Ursachen für das Sein. Mehr oder weniger deutlich postuliert er für das Seiende als Ursache für das Sein. Wie dem auch sei, wir sehen, daß auch in der Richtung der Ursachenforschung Begriffe wie „Seiendes“ und „Sein“ nicht fehlen. Aristoteles kritisiert an seinen Vorgängern das Nicht-Berücksichtigen oder das Nicht-Erklären des Seins, des Seins als Verursachten. Wirft er ihnen Seinsvergessenheit vor? Spielt er sich als Hüter, als philosophischer Anwalt des Seins auf? Wenn er das hier in der Ursachenforschung tut, dann gewinnt sein Eintreten für die andere Untersuchungsrichtung, nämlich die ontologische, eine zusätzliche Plausibilität.

Walter Seitter