τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 24. Januar 2013

In der Metaphysik lesen (996b 1 – 18)



 Die Tätigkeit des Mathematikers ist wie jede andere Tätigkeit eine „Bewegung“ oder „Änderung“: ein Übergehen von einem Ruhezustand zu einer mentalen bzw. sprachlichen Operation, einer Abfolge von Operationen, und diese Tätigkeit hat wie jede andere auch ein Ziel, eine Zweckursache: Einsicht, Aufweis, Darlegung in bezug auf Wahrheiten, die selber allerdings nicht neu sind; neu ist diese konkrete Operation dieser oder jener Person.

Daß Aristoteles auch das Ziel oder den Zweck als Ursache bezeichnet, mag uns befremden, auch das Gute als „Ursache“. Eher würden wir von „Grund“ sprechen, von Motiv – die wir unserer Innerlichkeit zurechnen. Er kennt eben sehr vielfältige Ursachen: kein univoker Begriff, sondern ein analoger. Das Gute als „Ursache“ entspricht überhaupt nicht der neuzeitlichen Wissenschaftsauffassung, die sich ja in der Zweiteilung Naturwissenschaften-Geisteswissenschaften manifestiert. Weder für diese noch für jene kommen Gutes, Zweck, Wert als maßgebliche Kriterien in Frage; beide kennen nur „Tatsachen“, die man unter „Sein“ subsumieren kann, aus welchem man auf kein „Sollen“ schließen kann. Sogenannter Positivismus, der laut Hans Kelsen sogar für die Rechtswissenschaft maßgeblich sein soll. Obwohl andererseits die alte Fakultäten-Einteilung mit Jurisprudenz, Medizin, Theologie Ausbildung zu Berufstätigkeiten vorgesehen hat, die als Tätigkeiten natürlich nicht „wertfrei“ sein konnten, sondern staatsfördernd, gesellschaftsfördernd sein mußten. Andererseits haben die Technik- und die Kunsthochschulen indirekt an den griechischen techne-Begriff angeknüpft, der ohne die Besser-schlechter-Unterscheidung nicht auskommt (wie die obige Erwähnung der Handwerker zeigt).

Dann kommt Aristoteles auf seine Formel von der „gesuchten Wissenschaft“ zurück und stellt die Frage, zu welcher Art von Ursachen-Wissenschaft diese wohl gehören dürfte. Er wiederholt die Frage in Richtung Personen: wer könnte der kundigste in „der gesuchten Sache“ sein, womit immerhin vorausgesetzt wird, daß es die gesuchte Wissenschaft mit einer bestimmten Sache zu tun habe. Wobei er eine bestimmte Ursachen-Art im Auge hat und die vier Ursachen-Arten rekapituliert er im folgenden am Beispiel des Hauses: dessen Bewegursache sei die Kunst und der Baumeister (was genaugenommen doch zweierlei ist), der Zweck sei das Werk (eine doch eher tautologische Auskunft, die nichts über die Funktion oder den Gebrauchswert des Hauses verrät), der Stoff Erde und Steine, die Form aber der Begriff. Damit werden eidos und logos so gut wie gleichgesetzt – noch direkter als in der oben herangezogenen Stelle aus der Physik. Eine Gleichsetzung, die doch stark in Richtung linguistic turn oder gar Nominalismus geht.

Jedenfalls werden mit diesen vier Ursachen vier Ursachen-Wissenschaften suggeriert. Welche davon kann am ehesten den altehrwürdigen Titel der „Weisheit“ für sich in Anspruch nehmen, der oben in 982a eingeführt worden ist – und zwar als mögliche Bezeichnung für die „gesuchte Wissenschaft“. Dort hat Aristoteles mehrere Definitionen der Weisheit vorgelegt. Jetzt werden für die Weisheit mehrere Kriterien namhaft gemacht: herrschendste Wissenschaft, Wissenschaft vom Ziel und vom Guten, Wissenschaft von den ersten Ursachen und vom Wißbarsten, Wissenschaft vom Wesen (ousia), Erkennen mittels des Seins und nicht des Nicht-Seins (siehe Hegel, Heidegger, Buddhismus), Wissenschaft vom „was ist“ und nicht vom Wieviel, Wiebeschaffen, vom Tun oder Leiden. Die letzten Bestimmungen zielen auf das Wesen im Unterschied zu den Akzidenzien – und somit nicht auf das Ziel sondern eher auf die Form. Also scheint Aristoteles hier die Weisheit kumulativ zu definieren: Zweckursache und Formursache sowie Abweisung des Nichtseins. Die Definition geht in Richtung Maximum, Maximalwissen, Superlativstellung und Superlativanspruch.

Walter Seitter

Freitag, 18. Januar 2013

In der Metaphysik lesen (996a 21 – 36)


  
Mit den sogenannten Aporien hat Aristoteles die ihm vorausliegende „Tradition“ nicht historisch dargestellt sondern strikt „sachlich“ schematisiert: in Einzelfragen zerlegt, die sich allerdings wie Kettenglieder aneinanderfügen und bereits ganz und gar in seiner eigenen Terminologie formuliert sind. Mit der Formulierung dieser Fragepunkte liefert er also Diskussionspunkte, die auf seinen Schulbetrieb zugeschnitten sind und die mit ihren ursprünglichen Kontexten vielleicht nicht mehr allzu viel zu tun haben.

Obwohl er ja noch immer auf der Suche nach einer (seiner) „gesuchten Wissenschaft“ ist (die offensichtlich mit Philosophie zu tun haben soll), wird mit der ersten Aporie unter einer bestimmten Hinsicht die Frage aufgeworfen: eine oder mehrere Wissenschaften? Damit bezieht er sich auf eine andere Voraussetzung als die einer „rein philosophischen“ Tradition. Nämlich die Voraussetzung einer Pluralität von Wissenschaften. Ich nenne das in Anlehnung an eine kantische Formulierung das „Faktum der Wissenschaftskultur“. Dieses Faktum existierte zu seiner Zeit einmal in der Form, daß es eine ganze Reihe von Wissenschaften schon seit langem oder auch seit kürzerem gab und zwar ohne großes Zutun aristotelischerseits: Mathematik, Medizin zum Beispiel; zum anderen auch in der Form, daß Aristoteles selber sich bereits in einigen Wissenschaften betätigt hatte und wohl auch schon seine Wissenschaftsklassifikation entworfen hatte (worauf jedenfalls eine Andeutung in Buch I verweist).

Übrigens ist es das Faktum einer entfalteten Wissenschaftskultur, die es in Österreich zum ersten Mal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab und die dann fast unvermeidlicher-, man kann auch sagen fast ungewollterweise zur Emergenz von Philosophie führte.

Das erste Argument, das Aristoteles hier vorbringt, lautet, daß unbewegte Dinge keine Bewegungsprinzipien brauchen und das Bewegungsprinzip, das er hier meint, ist das Gute, er sagt sogar „die Natur des Guten“: die Qualität, die Eigenart, ja die Kraft des Guten, Wertvollen, Nützlichen usw. Denn diese Qualität löst die Handlungen, die menschlichen Aktionen aus, die ja auch Bewegungen, Veränderungen sind. Als Beispiel für „unbewegte Dinge“ nennt er die Mathematik: das sind zunächst die Elemente, Formen und Gesetze, denen Aristoteles zwar keine „abgetrennte“ Existenz, wohl aber eine bestimmte Struktur, man könnte sagen eine „idealische“ Struktur zuspricht. In diesem Feld gibt es sehr wohl „Ursachen“, besser gesagt, „Prinzipien“, aber keines von der Art des „Besseren“ oder „Schlechteren“. Das Dreieck hat die Winkelsumme von 180° - die Ursache dafür liegt in der planen und geschlossenen Dreieckigkeit und nicht etwa in irgendeiner Vorzüglichkeit der Zahl 180. Im Feld der mathematischen Sachen gibt es kein Besser oder Schlechter, schon gar nicht etwas „Selbstgutes“, wie Aristoteles in Anlehnung an seinen obigen Sprachgebrauch ((991a 29) sagt, womit er zweifellos auf die platonische Idee des Guten anspielt.

Allerdings richtet sich seine Argumentation weniger gegen die Platoniker, sondern eher gegen Pragmatizisten sophistischer (oder angelsächsischer) Art, die sich keine Wissenschaft vorstellen können, in denen es nicht um Besser oder Schlechter geht. Aristoteles erwähnt hier den Sokrates-Schüler (und Libyer) Aristippos von Kyrene (425-355), der die Nutzlosigkeit von Logik und Mathematik betont haben soll. Derartige Pragmatizisten hätten darauf  hingewiesen, daß selbst in so „banausischen“ Künsten wie dem Zimmerhandwerk oder dem Schusterhandwerk viel von Besser und Schlechter die Rede sei. Wenn die Mathematik das Gute außer Acht lasse, dann würde sie sich selber sozusagen aus dem Spiel nehmen.

Aristoteles scheint hier die relativ moderne Frage zu berühren, ob Wissenschaft wertfrei zu sein habe oder nicht. Für die Mathematik beamtwortet er die Frage mit ja, weil im Feld der mathematischen Sachen ein Besser oder Schlechter nicht vorkomme. Daher dürfe auch der Mathematiker sie in seiner Argumentation, also in seiner Tätigkeit nicht einführen. Andernfalls würde er die Qualität seiner Tätigkeit zerstören – denn quer zur Wertfreiheit der mathematischen Sachen und der mathematischen Argumentation steht diese - wie ich nun sage - sehr wohl unter einem Wertgesichtspunkt: nämlich dem der guten Argumentation, die auf ein hohes Gut gerichtet ist: die Erkenntnis oder Wahrheit.

Aristoteles selber führt hier die Erörterung gar nicht weiter und im übrigen würde er das moderne Vokabular von „Werten“ sowieso nicht gebrauchen. Aber er teilt die zitierte Geringschätzung von banausischen Handwerkskünsten und würde sich auch die Hochschätzung einer rein theoretischen Tätigkeit wie der mathematischen durchaus zu eigen machen. Dabei handelt es sich um „soziale“ Geringschätzungen und Hochschätzungen. Die Hochschätzung der theoretischen Tätigkeit impliziert einerseits eine sachliche Wert- oder Schätzungsfreiheit der theoretischen Tätigkeit und andererseits eine metasachliche aber ebenfalls immanente Schätzung, ja leidenschaftliche Hochschätzung der Wahrheit.

Walter Seitter

Donnerstag, 10. Januar 2013

In der Metaphysik lesen (996a 10 – 21)


Die Aporien Nr. 12 bis 15 bilden die letzten in der Aufzählung. Im Schlußsatz wird ähnlich wie am Anfang von Buch III das Wort „Aporie“ in die eher „positiven“ Verben „diaporein“ und „euporein“ gewendet – nämlich so, daß das Durcharbeiten der Aporien zur Bedingung ihrer Lösung, ihrer Überwindung erklärt wird. Kein Ausweg ohne Nachvollzug der „Inwege“, ohne Durchgang durch die Suchbewegungen, als welche sich die „Unwegsamkeiten“ darstellen. Immerhin besteht das Wort „Aporie“ überwiegend, ja fast ausschließlich aus „porie“ also Wegsamkeit. Zwar sind jene Wege steckengeblieben, haben sich im Kreis gedreht oder sind sonstwie zu Sackgassen geworden. Aber man muß sie nachgehen, nachvollziehen, um sie gangbarer zu machen.

Auf diese Weise postuliert Aristoteles ein sorgfältiges, intensives, arbeitsames Sich-Einlassen auf die Tradition, auf die Vorgeschichte der von ihm „gesuchten“ Wissenschaft. Er spielt nicht den ersten Anfang, den „ersten Philosophen“ im chronologischen Sinn. Er weiß, daß er in der dritten oder vierten Generation philosophiert. Meint allerdings auch, daß die vorausgehenden Generationen jedenfalls für diese Wissenschaft den sicheren, den erfolgreichen Weg noch nicht gefunden haben. Gleichzeitig nimmt er an, daß sie Wege zu dieser Wissenschaft versucht haben.

Im Buch I hat er selber einen anderen Zugang zu dieser Tradition versucht. Einen, den wir „historisch“ im üblichen Sinn nennen würden: Nennen von Namen, kurzes Referieren der Positionen, abwägendes, manchmal auch polemisches Kritisieren jener Thesen als unzureichend. Obwohl er selber von Anfang an die „Wissenschaft“, die Suche nach „Ursachen“, in den Vordergrund gestellt hat, hat er da auch „theologische“, wir würden sagen „mythologische“ Antworten einbezogen. Außerdem hat er sogar die gesuchte Wissenschaft selber als „Weisheit“ bezeichnet. Wohl wissend, daß „Weisheit“ in seiner Kultur ein längst etablierter Begriff war, daß die „Weisen“ eine angesehene soziale Position innehatten. Zu ihnen gehörten eher Staatsmänner, Redner, Verfassungsgeber (im 20. Jahrhundert hat dann der russisch-französische Philosoph Alexandre Kojève den Titel des Weisen dem des Philosophen vorgezogen). Allerdings die genaue Definition dieser Art von Weisheit stand nicht fest. Aristoteles gibt ungefähr drei verschiedene Definitionen der Weisheit – womit er bereits den Anspruch der Wissenschaft über sie drüberstülpt.

Er möchte die Philosophie mit dem sozialen Prestige der Weisheit ausstatten – und absichern. Und dazu hatte er einigen Grund. Denn die Philosophen galten zu seiner Zeit, obwohl es solche doch schon seit 200 Jahren gab, immer noch als unsichere Kantonisten, verdächtige Neuerer, gefährliche Avantgardisten, aggressive Aporetiker. Bekanntester und bekanntlich athenischer Fall: Sokrates.

Mit dem Buch III schlägt Aristoteles einen anderen Zugang zur Tradition „seiner“ gesuchten Wissenschaft ein: theoretische Reduzierung auf 15 Sachfragen, die aber nicht einfach als Fragen oder Schwierigkeiten aufgelistet werden, sondern zu gescheiterten Versuchen, Verrennungen, Sackgassen und Labyrinthen minidramatisiert werden. Auflistung von Verrennungen. Und Aufforderung, eben diese Verrennungen wieder und wieder nachzuvollziehen, zu modifizieren. Modern gesagt: sie produktiv zu erneuern.

Also Fortsetzung des Avantgardismus in der Bearbeitung bisher vorliegender Avantgarden.

In der Bearbeitung bisher vorliegender philosophischer Avantgarden?

Oder in der Bearbeitung bisher geleisteter – auch von ihm selber geleisteter – und heterogener Erkenntnisse?

Abkehr von der Vorstellung, alle Prinzipien, auch die heterogensten, könnten von einer Wissenschaft gesucht und gefunden werden?

Hat das etwas mit philosophischer Traditionslosigkeit zu tun, aus welcher in Österreich nach 1900 zum ersten Mal so etwas wie Philosophie entstand, neu entstand? Und in verkleinertem Maßstab bei dem aus dem  zentraldeutschen kommunistisch gewordenen Jena geflüchteten Max Bense (1910-1990) ab 1949 an der Technischen Hochschule Stuttgart? Der neben seiner Nähe zu Mathematik, Naturwissenschaft und Technik auch diejenige zur Kunstavantgarde pflegte (wie zum französischen Dichter Francis Ponge (1899-1988) (der als Sechzigjähriger zur Gründung des Pariser Avantgarde-Organs Tel Quel beigezogen wurde)).

Walter Seitter

Mittwoch, 9. Januar 2013

Berliner Notizen, Dezember 2012

3.12. Nächtliche Zugfahrt nach Berlin. Bin immer noch irritiert, wie sich mir hier, der ich in einem starr ostwestgeteilten Europa aufwuchs, schemenhaft dieser alte Kulturraum entlang der Metropolen Wien – Prag – Dresden öffnet und dabei auch wieder deutlich die nördliche Erstreckung des Barock kennzeichnet.
 
4.12. Zwischenaufenthalt in Dresden. Gang durch die verschneite Stadt mit ihren noch immer sichtbaren ,Leerstellen‘. Fragmentarisierte europäische Geschichte zwischen kurfürstlichen Barockbauten, großbürgerlichen Villen und einer die Bombenruinen notdürftig verdeckenden realsozialistischen Architektur. Erfreulich produktives Arbeitstreffen mit Frank Böckelmann zur neugegründeten Vierteljahreszeitschrift TUMULT. Abends weiter nach Berlin. Hotel.

5.12. An diesem winterlich-kalten Morgen zum nahegelegenen Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte. Schon traditioneller Besuch des Grabs von Brecht. In unmittelbarer Nachbarschaft liegen auch Hanns Eisler und Heinrich Mann. Letzter Ort für einen Großteil der DDR-Kulturschaffenden, aber auch für Herbert Marcuse, George Tabori oder Fritz Teufel – und inmitten von allen die „Ruhestätten“ von Hegel und Fichte (mit Gattinnen). Ein Rundgang also durch 200 Jahre deutscher Aufklärung mit all ihren Um- und Seitenwegen, skizziert als Gräberfeld. Am Ende, wie einer geheimen Logik folgend, dann vor Heiner Müllers schlichtem Grab.
Später dann Savignyplatz. In einer der Buchhandlungen überraschend Klossowskis „Bad der Diana“ in Händen, jene elegante, längst vergriffene deutsche Ausgabe mit Zeichnungen von Brinkmann & Bose. Unmittelbar danach Treffen mit Christian Bertram, Berliner Regisseur und intimer Kenner des Klossowskischen Werks im Café Savigny. Lesen gemeinsam die heute in der „Süddeutschen“ erschienene Rezension zum letzten „MEGA“-Band des „Kapitals“ (und aller Vorarbeiten). Damit liegt Marxens Analyse des kapitalistischen Produktions- und Zirkulationsprozesses in nunmehr 15 Bänden (23 Teilbänden!) vor dem Leser ausgebreitet wie ein riesiger Archipel. Was jetzt erstmals auch sichtbar wird, ist ein über Jahrzehnte hinweg überbordender Schreibfluss, in hohem Maße ,ineffizient‘ in Form und Ziel, nicht aber in der tiefschürfenden Beschreibung seines Gegenstands (fast ist man gewillt zu sagen, die hier quantitativ entfesselte Zeichenproduktion verhält sich kontrapunktisch zu jeglicher industriellen Logik). Eine hochaktuelle Einsicht von Marx lautet dabei, dass im Streben nach Profit die eigentliche Produktion nur mehr „ein bloßes Mittel zur Verwerthung des Kapitalwerths“ ist. Unser Gespräch dreht sich im Folgenden wieder um die ,grundlegende‘ Bedeutung der „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte“ von 1844 für „La monnaie vivant“. Wichtig erscheint mir dazu, dass beide Texte, geschrieben im Abstand von rund 125 Jahren in Paris, gleichzeitig flüchtige und konzentrierte Denkbewegungen vollführen, die wie kleine Geschosse wirken. Abgefeuert in zwei zeitlich markanten Beobachtungsmomenten, ist ihre zentrale Intention die Befreiung der Sinne des von den industriellen Produktionsmitteln beherrschten modernen Individuums. Fourier, Marx, Klossowski zeigt auch an, dass Benjamins Paris als Hauptstadt der 19. Jahrhunderts mitten in das krisenerschütterte 20. Jahrhundert transformiert wurde, nunmehr als hedonistisch umkämpfter phantasmatischer Ort des US-amerikanischen Kapitalismus (etwa am Beispiel Filmindustrie).
Im Anschluss an unsere Diskussion über Klossowski und die geplante Berliner Ausstellung zu „LMV“ gemeinsame Fahrt zur Universität der Künste, wo Siegfried Zielinski, dort Professor für Medientheorie, eine Gesprächsreihe programmiert. Sein Gast an diesem Abend: Florian Rötzer. Dessen Vorstellung hörte sich vorerst ein wenig nach professoraler Faktenhuberei an, erschloss jedoch im weiteren Verlauf eine beeindruckende und wirkungsvolle publizistische Produktion, etwa den zahlreichen klug geführten Gesprächen mit den wichtigsten deutschen und französischen Philosophen und Künstlern der Zeit. Als Redakteur für das „Kunstforum international“ hat er damit jahrelang zukunftsweisende Theoriedebatten initiiert. Dazu war er auch Mitglied der Redaktion von TUMULT. Im Gespräch mit Zielinski kam er dann noch auf die persönliche Zäsur in seinem Schreiben Mitte der 1990er zu sprechen. So riskant ihm anfangs die Entscheidung zu einem radikalen Medienwechsel als Autor des Online-Magazins „Telepolis“ auch erschien, war dieser Schritt reizvoll, da sich bereits die Verschiebung der Kommunikation in den telematischen Bereich hinein abzeichnete. Im künstlichen Raum des Netzes konnte man, so Rötzer, anders als in den alten künstlichen Welten der Stadt, noch viel aktueller und unmittelbarer agieren.

6.12. Treffen mit Walter Seitter und Christian Bertram im Literaturhaus in der Fasanenstraße. Vom Tisch aus einen schönen Blick in den verschneiten Garten. So fühlt man sich als alpiner Mensch in Berlin noch wohler. Wir sprechen über die Zusammenarbeit Klossowskis mit dem Filmemacher und Fotografen Pierre Zucca für „LMV“. Dabei muss vieles natürlich spekulativ bleiben. Trotzdem nochmal aufschlussreiche Erläuterungen zum Zustandekommen der einzelnen Bildinszenierungen, die nach Klossowski wie eine „große Maschine“ (die Theatermaschinen von der Antike bis ins 19. Jh. zum Vorbild nehmend) funktionieren. Die Bildfolge in der Originalausgabe von „LMV“ zeigt sich, anders als der parallel verlaufende ,unförmige‘ Textkorpus, im Einzelnen streng komponiert, als Ganzes jedoch ebenso bastlerisch-experimentell angelegt. Ästhetische Strategie in beiden Fällen: die Subversion des Sinns. Wir kamen noch auf das Klossowski-Buch von Alain Jouffroy, „Le secret pouvoir du sens“, zu sprechen. Schwierige Frage dabei, ob man im Titel „Sinn“ oder „Sinne“ übersetzen soll, da die Bedeutungen im Deutschen merkwürdig auseinanderdriften. (Am Abend sollte ich in einer Buchhandlung in Kreuzberg auf Brigitte Burmeisters erhellende Studie zu Claude Simons Werk stoßen: „Die Sinne und der Sinn“!)

Am Abend Konzert im Festsaal Kreuzberg von Peter Brötzmanns Full Blast. Eineinhalb Stunden hochenergetische Musik des siebzigjährigen Saxophonisten, der, stets geistesgegenwärtig, den aufbrechenden Sound der sechziger Jahre heute sinnlicher denn je weitertreibt. Im Publikum sehe ich Zielinski wieder, so klein kann Berlin sein.

7.12. Vormittags zur „Mythos Olympia“-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau. Draußen herrscht tiefer Winter, während ich mit Walter Seitter durch die lichtdurchfluteten ,imperialen‘ Räume des Museums schlendere. Überraschenderweise wirken die zahllosen Ausstellungsobjekte, also allerlei Kult- und Gebrauchsgegenstände, sowie die Modellrekonstruktionen und Pläne weniger anstrengend als erwartet. Spannend nachgezeichnet ist dabei die archäologische Forschungsgeschichte der Kultstätte in ihrer für das 19. Jahrhundert typischen ,kolonialistischen‘ Geste, auch wenn damals viele der originalen Skulpturen(-fragmente) in Griechenland verblieben. Das 3000 Jahre alte, dem Zeus geweihte Heiligtum wird hier anhand von bedeutenden Grabungsfunden und Modellen als gigantischer Schauort inszeniert (schön die Abbildung der Stieropferstätte mit meterhoher Asche!), dem die architektonischen Gegebenheiten des Gropius-Baus optimal entsprechen. Der Zeustempel aus dem 5. Jh. v. Chr. mit der monumentalen Götterstatue – einem der antiken Sieben Weltwunder – bildet ein zentrales Thema der Ausstellung, wobei dem mit der Statue des Zeus beauftragten Phidias, berühmtester Bildhauer seiner Zeit, sogar ein eigenes ,Atelier‘ gebaut wurde, im Maßstab des Tempels! Den höchsten Gott zu modellieren oblag also nur dem Starkünstler – ein frühes Beispiel des Zusammenwirkens von Religion und Kunst. Was die Herausbildung der einzelnen Disziplinen aus Leicht- und Schwerathletik angeht, so scheinen sie, im festlichen Rahmen des Wettstreits unter nackten Männern, der Einübung in kriegerische Fähigkeiten zu dienen – man erinnert sogleich, dass die Stadt dieser Schau 1936 eine pervertierte Wiederaufnahme solcherart „Weihespiele“ als demonstrative Vorbereitung für einen Krieg mit rassistischer Ausrichtung lieferte. Auch heute enthalten die Olympischen Spiele noch zahlreiche Kampfsport- und Schießbewerbe. Weniger bekannt ist hingegen die Tatsache, dass es bei den antiken Spielen auch Frauenbewerbe gab, etwa einen Jungfrauenlauf zu Ehren der Hera. Und eine letzte Analogie bietet sich an: der brutale Wettstreit um die Ausrichtung der Spiele, den das antike Elis (mit Hilfe Spartas) für sich entschied. Als Trainingsort lag es rund 60 km von den heiligen Wettkampfstätten entfernt – eine Distanz, die heute üblich für Olympia ist.
Gemeinsam mit Walter Seitter am Nachmittag noch zur Konferenz „Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten“ im Haus der Kulturen der Welt. Interessante Präsentationsform dieser Theorie-„Session“: Die einzelnen Beiträger fungieren abwechselnd als Moderatoren und Protagonisten. J. Hörisch leider versäumt, aber Ch. v. Braun nimmt in ihrem Beitrag so manche bekannte Überlegung Hörischs wieder auf, irritiert aber mit der These von der Schuldproduktion der christliche Religion durch den Tod des Gottessohns. Damit werde auch die Gelddeckung nur mehr über den menschlichen Körper vollzogen (Hostie – Münze). Der junge tschechische Ökonom T. Sedlacek vertritt eloquent-theatralisch die These von der religiösen Struktur der Ökonomie. B. Priddat spannt dazu einen großen kultur- und wirtschaftshistorischen Bogen vom Übergang des Religiösen zum Ökonomischen, und weiter vom Verpflichtungszusammenhang der Familie zu jenem der neuen, anonymisierten Handelsgesellschaften, wodurch der Vertrauensvorschuss (so nebenbei: heute ein Alltagsbegriff) noch viel wichtiger für die Entwicklung des Kapitalismus wird. W. Pircher unternimmt einen vorerst überraschenden Dekonstruktionsversuch zur Entstehung der Schrift. An ihrem Beginn in Mesopotamien standen demnach nicht Dichter, sondern Ingenieure und Buchhalter, die für die Technik der Bewässerungsanlagen wie für die Aufzeichnung der Lagerbestände und Schuldverhältnisse sorgten. Der Zusammenhang zwischen dem Entstehen von Schulden und Schrift in sesshaften Gesellschaften erscheint so irritierend wie einleuchtend.
Höre noch M. Hutter, der zwei soziale Figuren des Schuldenmachens zeichnet: die positive des Kreditnehmers und die negative des Verschuldeten. Kredite erfordern aber auch die nötige Geduld beim Gegenüber: dem Kreditgeber.
Heimgang durch den dunklen, verschneiten Park vor dem Hauptbahnhof.

8.12. Vormittags zum Workshop „Georges Bataille. Kulturtheorie an den Rändern der Wissenschaft“ im Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. C. Wild referiert über die Souveränität der Zeichen und ihre Transgressionsbewegungen vor allem in den frühen Erzählungen „Madame Edwarda“ und „Die Geschichte des Auges“. Nacktheit der Figur bedeutet für den Erzähler auch Nacktheit der Zeichen, Schreiben also als pornographischer Akt. Das ,alte‘, nicht der Repräsentation dienende Zeichen soll nach Bataille in der Moderne neu sichtbar werden. Treffe hier noch mal Walter Seitter, der mich Rita Bischof vorstellt, deren Bataille-Arbeiten ich seit langem kenne. In der langen Mittagspause trotz der Kälte lieber auf den Bücherflohmarkt an der S-Bahnstation Friedrichstraße. Dort Rudolf Arnheims „Film als Kunst“ von 1932 gekauft. Darin eine frühe Analyse filmischer Mittel und eine Theorie der Wahrnehmung anhand dieses neuen Mediums. Am späteren Nachmittag Fortsetzung der Referate mit G. Maisuradze zum „Souveränen Menschen bei G. Bataille und C. Schmitt“. Moderne Souveränität wurde erst durch Tod des Königs möglich – dessen Platz musste also entsakralisiert werden. Beide setzen nun der neuen Ordnung der Normalität – der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Souverän, dem Beamten – eine neue Souveränität entgegen. Bei Bataille ist es der individuelle Exzess, um ein freier, souveräner Mensch zu werden, bei Schmitt der staatliche zu einer neuen Ordnung. Beide Souveränitätsbewegungen verhalten sich dabei gleichgültig gegenüber ihren Opfern. Allgemein etwas enttäuscht vom Gehörten dieser sehr ,internen‘ Veranstaltung, die nur wenig über bekannte historisierende Leseweisen Batailles hinausging. Seine heterogen gesetzten, exzessiven Denk- und Schreibbewegungen boten den Referenten, entgegen der Ankündigung, überraschend wenig aktuelle Anknüpfungspotentiale.
Am frühen Abend überhasteter Aufbruch Richtung Bahnhof. 

Horst Ebner