τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 28. Februar 2013

In der Metaphysik lesen (997b 13 – 998a 6)


Aristoteles setzt seine Kritik an dem, was wir die „platonische Ideenlehre“ nennen, fort und erläutert sie mit dem Verweis auf die spezifischen Gegenstände mehrerer Wissenschaften (womit er den obigen Hinweis auf die von ihm angenommene bzw. vorgeschlagene „Wissenschaftskultur“ ausführlich bestätigt). Die Unterscheidung zwischen „Linien an sich“ und „wahrnehmbaren Linien“ erkläre den Unterschied zwischen geometrischen Größen und geometrischem Zeichnen und leite über zur Unterscheidung von reiner Mathematik und angewandter Mathematik, bedeute aber nicht, daß beide in gleicher Weise existieren. Die angewandte Mathematik unterteile sich in die mathematischen Wissenschaften wie Astronomie (bei Aristoteles „astrologia“), die mathematische Optik, die sich mit den geometrischen Gesetzmäßigkeiten von Lichtreflexion und –brechung beschäftigt (während die physikalische Optik auf Farberscheinungen wie den Regenbogen eingeht), sowie die mathematische Harmonik (Musiktheorie). Eine angewandte Geometrie stellt die Geodäsie dar: Landvermessung.

Der Wissenschaftspluralismus stellt verschiedene Wissenschaften nebeneinander: zum Beispiel Arithmetik und Geometrie; und übereinander: zum Beispiel Geometrie und Geodäsie; doch diese behandeln nicht Gegenstandsfelder, die gleichermaßen „getrennt“ existieren. Die platonische Realitätsverdoppelung wird von Aristoteles mit dem ironisch-polemischen Hinweis auf eine daraus folgende Realitätsverdreifachung abgelehnt.

Walter Seitter

 

Montag, 25. Februar 2013

Wo kommen die Ideen her?

Philosophisches Café am 23. Februar 2013 mit den Herren Zeidler und Gabriel.

Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Was ist eine Idee, und wie erhält man sie? Es falle schwer, ohne Platon zum Thema Stellung zu beziehen – aber zunächst wird es  nicht um die sogenannten platonischen Ideen, sondern eher um Ideen im Sinne eines Einfalls oder eines gewichtigen Gedankens gehen. Zwei Beispiele: Kekulé träumte nachts von einer Schlange und hatte am Morgen die Idee für das Modell des Benzolrings; Archimedes saß in der Badewanne, spielte mit Seife und Seifenschale und dabei kam ihm die Idee für die Formel zur Berechnung des spezifischen Gewichts.

Ideen sind ein Mittel zur menschlichen Lebensführung, sie tauchen auf, um Probleme zu bewältigen – in vielen Stresssituationen tendiert man jedoch dazu Gewohntes zu wiederholen: Ist Gelassenheit die Voraussetzung für Neues? Oder eher Extrembedingungen, Notfälle, Zwangslagen? Welche Ideen werden weiterverfolgt oder unterstützt, welche fallengelassen? Es scheint gute und schlechte, ja sogar böse Ideen zu geben. Inwieweit ist eigentlich jede Idee ein Plagiat? Fast alles was wir denken, hat wohl schon irgendwann jemand anderes gedacht.

Die psychologisch-evolutionäre Herleitung einer Idee scheint eine schwierige bis sinnlose Frage, da die Idee von der Frage nach der Idee schon dagewesen sein musste, bevor jemand fragen konnte, wo sie herkam. Ist die Idee etwas, das nur im Kopf existiert, ein aus Erfahrung gewonnener Geistesblitz, oder das Bleibende, dahinterliegende? Wir nähern uns nun doch Platon an und fragen sokratisch: Was ist das aber, eine Idee? Aus neuzeitlicher Sicht, seit Descartes liegt die Idee auf der in der bisherigen Diskussion verfolgten Linie: Vorstellung, Einfall, Leitbild, Programm, Bewusstseinsinhalt. Bei Platon ist die Idee der Begriff der Sache selbst. Der tapfere Mensch, oder die fromme Handlung sind hiesige Vertreter der Tapferkeit, der Frömmigkeit an sich. Alles was irgendwoher kommt, kommt aus den Ideen, weil die Ideen auch das Sein verleihen. Für Aristoteles, der Platon hier eine „Verdoppelung“ der Dinge vorwirft, sind die Ideen in den einzelnen Dingen präsent, im konkreten Einzelnen, das ebenso konkretes Allgemeines repräsentiert. Der Mensch Sokrates ist einzig und konkret und gehört der Gattung Menschheit an.

Es stellt sich das Lokalisierungsproblem (vgl. Universalienstreit): die Frage ob die Ideen, bzw. Begriffe im Jenseits, in den Dingen oder im menschlichen Geist zu finden seien. Konkret auf die Idee als Einfall bezogen: woher empfange ich sie, „von oben“, durch einen Sinnesreiz, oder aus der Seele? Künstler und Kreative werden befragt, woher sie ihre Ideen nehmen, es wird überlegt, wie Dostojevski dazu kam Die Brüder Karamasow nierderzuschreiben, oder woraus Schubert die Musik für seine Sinfonie in c-Moll schöpfte? Wer von sich behauptet, Urheber oder Besitzer einer Idee zu sein, vermittelt damit einen gewissen Anspruch, an etwas Wesentlichem teilzuhaben, in Richtung der platonischen Unvergänglichkeit ... vielleicht sogar etwas Ewiges geschaffen zu haben.

Das Insistieren auf einem Ort führt zu Problemen. Wahrnehmbar sind Ideen als „Begriffe, die motivierende Kraft haben“. Die Frage nach dem Woher stellt sich nicht wirklich, sondern die Frage nach ihrer Wirksamkeit im Täter oder im Akteur und wie sie sich dann weitervermitteln, miteinander in Beziehung treten.

Noch ein paar spirituelle Fragen: Hat Gott die Ideen geschaffen oder hat er auf einen Bestand schon existierender Ideen zurückgegriffen? Nach Augustinus sind die Ideen die Gedanken Gottes vor der Schöpfung. Was sind die Empfangsbedingungen für Ideen? Bestehen Ideen in der Teilhabe im Kontakt mit den obersten Ideen? Wenn unsere Erkenntnis begrenzt ist, dann muss es noch etwas geben, das „außen“ ist. Man kann sich auch fragen: „Bin ich selber eine Idee?“

Nach Platon empfinden wir Glück im Anschauen der höchsten Ideen, des reinen Seins. Die höchste Idee ist das Gute. Das Gute ist wie die Sonne im Sonnengleichnis, die durch ihr Licht den Dingen erst Sichtbarkeit verleiht, sie wachsen lässt. Mehr als Sein. Was soll das aber sein? Überfließendes Sein. In der asiatischen Tradition wird das überfließende Sein mit dem Nichts assoziiert. Unsere Tradition insistiert tendenziell eher auf dem Sein. Dennoch liefert uns das einen Hinweis: Zum Empfang großer Ideen oder für deren Verkörperung, scheint eine gewisse Leere Vorbedingung zu sein.

Nicola Schößler

Freitag, 22. Februar 2013

Menschengestaltige Götter? (997b 11)

Wir kommen auf den religionskritischen Seitenhieb zurück, den Aristoteles zur Erläuterung seiner Platon-Kritik einschiebt, damit ihn auch die verstehen, die von Platon noch nicht so viel gehört haben, wohl aber von den Göttern – und das sind alle. Seine Aussage klingt durchaus nach asebeia, sodaß sie von interessierter politischer Seite gegen ihn verwendet werden könnte (nach dem Vorbild der seinerzeitigen Anklage gegen Sokrates). Sie richtet sich gegen diejenigen, die sagen, es gebe Götter, und zwar menschengestaltige (997b 11). Damit sind zweifellos die Götter der griechischen Volksreligion gemeint, die ja allgemein als „anthropomorph“ gelten: im Aussehen, welches uns ja durch die Bilddarstellungen überliefert ist, aber auch im Sprechen, Wollen und Verhalten, von dem uns die Mythen erzählen. Handelt es sich dabei nur um ihre Gestalten, um Erscheinungsweisen, denen eigentlich andersartige, also göttliche Wesenheiten zugrundeliegen (welche sich fallweise auch in anderen Erscheinungen zeigen können; besteht also ihre Göttlichkeit gerade in ihrer Metamorphose-Fähigkeit?)? Oder handelt es sich tatsächlich um „ewiggemachte“ historische Menschen, wie eine religionskritische Theorie in der Antike schon angenommen hat – oder eben um eine „platonische“, aber mit Namen und Geschichten angereicherte Verdoppelung der Menschen?

Beschränken wir uns auf die Annahme, daß Aristoteles die anthropomorphen Gottheiten der griechischen Volksreligion abgelehnt hat, so könnte das auf so etwas wie „Atheismus“ hinauslaufen. Oder aber im Gegenteil auf eine Kritik an falschen Göttern, denen eine göttliche Wesenheit, also eine andersartige morphe, ein göttliches eidos gerade fehlt. Aristotelischen Gottheiten müßte eine göttliche Wesensform eignen, die sich von der menschlichen unterscheidet. Ob diese Wesensform sich auch in einer anderen Erscheinungsform äußern müßte, sei jetzt einmal dahingestellt; tendenziell ja, denn der griechische Begriff von „Wesen“ impliziert eben auch die Begriffe eidos und morphe.

Den griechischen Göttern die Göttlichkeit absprechen, weil sie so menschlich daherkommen – das könnte auch so verstanden werden, daß ein anspruchsvoller Begriff von „Gott“ aufrechterhalten wird, wie er im jüdischen Monotheismus entwickelt worden ist, und der Gott nicht nur von den Menschen sondern sogar von der Welt überhaupt absetzt: als „ganz Anderen“, als „Transzendenz“, als „Absolutes“, als Unnennbaren und Undarstellbaren. Diese Begriffe zeigen bereits, daß der Gott des Monotheismus philosophische Begriffe nahelegen kann, die ihn von den bunten Göttergeschichten der Griechen weit entfernen. Derselbe Gott ist andererseits in den Quellen, in den Gründungstexten der jüdischen Religion, als sprechender, als fordernder, als befehlender , als beleidigter, als rächender, als auserwählender, als bündnisschließender, als versprechender, als zorniger, als barmherziger und so weiter und so weiter Gott dargestellt worden: also wiederum als menschlicher, um nicht zu sagen allzumenschlicher Gott. Bis er schließlich, und das ist die christliche (halb ägyptische und griechische) Fortsetzung der Judenreligion, offiziell und historisch zusätzlich Mensch geworden ist: Jesus (0-33). Da ist also ein richtiger Mensch „ewiggemacht“ geworden: entsprechend dem kritischen Diktum des antiplatonischen Aristoteles.

Das Göttliche bei Aristoteles sieht anders aus, wenn schon.

Walter Seitter

Freitag, 15. Februar 2013

In der Metaphysik lesen (996b 26 – 997b 12)

Obwohl die Suche nach der „gesuchten Wissenschaft“ offensichtlich auf eine bestimmte Wissenschaft hinauslaufen soll, stellt Aristoteles immer wieder die Frage, ob diese oder jene Wissenschaftsaufgabe von einer Wissenschaft oder von mehreren bewerkstelligt wird. Und so gut wie immer antwortet er: von mehreren. Es geht also nicht um die Gründung einer Wissenschaft, in der alle übrigen aufgehen oder verschmelzen sollen. Zwar schreibt er der gesuchten Wissenschaft allerhöchste Qualitäten und Titel und Superlative zu: aber eine Monopol- oder Einheitswissenschaft hat er nicht im Sinn. Derlei ist im Abendland gelegentlich ins Auge gefaßt, ja gewünscht worden – sei es mehr von philosophischer Seite oder mehr von einer anderen Seite; aber nie hat es sich durchgesetzt. Abendländische Wissenschaftskultur heißt geradezu: Wissenschaftspluralismus. Die gesuchte Wissenschaft mag noch so sehr als Fundierung oder als Bekrönung aller anderen Wissenschaften, als ihre Grundlegung und gewissemaßen als ihre Ermöglichung  verstanden werden. Tatsächlich kommt sie zu ihnen dazu, denn sie – die Wissenschaften – sind immer schon da: mindestens zwei bescheidene Igel organisieren und gliedern das Wissen von diesen Dingen und von jenen Dingen: von den mathematischen, von den eßbaren, von den heilenden.

Fundament oder Supplement?

Ist die Wissenschaft von den logischen Denkgesetzen dieselbe wie die Wissenschaft von den Wesen? Nein, denn die Denkgesetze werden in allen Wissenschaften vorausgesetzt, angewandt. Die Wesenserfassung gehört zu den Annahmen, die nicht bewiesen werden: „Es scheint nicht, daß es eine Beweisführung des Was ist? gibt.“ (997a 32). Wohl aber werden die „wesentlichen Akzidenzien“ von den Wesenheiten abgeleitet, denen sie notwendig zugehören (997a 22). Zwar spricht Aristoteles hier hauptsächlich von den „wesentlichen Akzidenzien“ – aber nicht nur. Die Betrachtung der Akzidenzien wird hier entschieden zur Aufgabe der Wissenschaft erklärt – weniger eindeutig entschieden wird darüber, ob die Betrachtung und das Studium der Akzidenzien einer gesonderten Wissenschaft zugewiesen wird.

Jedenfalls widersprechen diese Äußerungen der allgemeinen aristotelischen Linie, derzufolge es keine Wissenschaft von den Akzidenzien gibt. In seinem Gesamtsystem könnte die wissenschaftliche Behandlung der Akzidenzien nur in einer „niedrigen“ Stufe von Wissenschaft stattfinden – also weit weg von der „gesuchten Wissenschaft“. Diese „Herablassung“ zu den Akzidenzien findet sich übrigens viel prägnanter im Buch über die Seele, wo Aristoteles zuerst betont, daß man die Wesenheit kennen muß, um die Usachen der Akzidenzien zu betrachten. Sodann gelte aber auch das Umgekehrte: „Die Akzidenzien tragen viel dazu bei, um die Washeit zu verstehen .... Daher sind alle Definitionen, aus denen sich keine Erkenntnis der Akzidenz ergibt, nur dialektische und leere Redensarten.“ (402b 30ff.)

Und im Anschluß steigt Aristoteles wiederum auf eine sogenannte höhere Ebene und stellt die Frage, ob es tatsächlich neben den veränderlichen Dingen der Natur, sei es am Himmel oder sonstwo, die gleichen Dinge aber unveränderlich, ewig gebe, und zwar selbständig existierend. Also eine Verdoppelung der Dinge – aber sozusagen in verbesserter, ja idealer oder optimaler Ausgabe. Diese Verdoppelung, die eine vollkommene, eine unvergängliche Welt bilden könnte, wird von Aristoteles nicht für wahrscheinlich gehalten. Und er wagt es, eine solche Konstruktion deutlich als Konstruktion zu kennzeichnen, und außerdem wagt er es, sie mit einer anderen Konstruktion zu vergleichen, die er ebenfalls zu einer Konstruktion erklärt, nämlich der Annahme von Göttern, die menschengestaltig seien, was nichts anderes sei, als ewige Menschen zu „machen“ (997b 10ff.) Es sieht so aus, daß er damit den seinerzeitigen griechischen Polytheismus aufs Korn nimmt. Und auch das Christentum, das es damals noch nicht gab, dürfte damit an entscheidender Stelle getroffen sein.

Mit anderen Worten: die Suche nach einer „gesuchten Wissenschaft“, die mit allerhöchsten Qualitäten tituliert wird, besteht nicht in der Annahme, Aufstellung, Konstruktion irgendwelcher Vollkommenheiten.

Walter Seitter

Donnerstag, 7. Februar 2013

Metaphysik als Superlativ-Wissenschaft


Anstatt im Text weiterzulesen, schauen wir uns noch einmal die Bestimmungen an, die Aristoteles der „gesuchten Wissenschaft“ unter dem Titel „Weisheit“ zuspricht. Und zwar zuerst ihre spezifischen Objekte: das sind – entsprechend dem Duktus der bisherigen Ausführungen – die ersten Ursachen, also hier bereits eine Superlativierung der Ursachenforschung, die laut Aristoteles das Kennzeichen aller theoretischen Wissenschaften ist; sodann das Erkennen über das Sein (und nicht das Nicht-Sein); die Wissenschaft vom Wesen (und nicht von den Akzidenzien); die Wissenschaft vom Wißbarsten, also vom Klarsten, Deutlichsten, das mit „Wesen“ ineinsfällt; und im Übergang zum nächsten Typ die Wissenschaft vom Erscheinendsten laut Platon also vom Schönen bzw. Schönsten; sodann der andere Typ von Objekten: das Ziel und das Gute – womit wohl nicht nur irgendwelche Ziele oder Güter gemeint sind, wie sie von den praktischen und den poietischen Wissenschaften anvisiert werden: gute Handlungen, gute Hervorbringungen, sondern das Ziel schlechthin und das Selber-Gute (das Höchst-Gute), das Höchst-Gelingen; mit diesen Objekten „kippt“ die gesuchte Wissenschaft von einer bloß theoretischen zu einer auch praktischen und poietischen, d. h. sie ist selber die theoretisch-praktisch-poietische Höchst-Wissenschaft. Und dann die „subjektiven“ Merkmale dieser gesuchten Wissenschaft: die erkennendste, die wissendste Wissenschaft: nicht nur Feststellung von Akzidenzien oder irgendwelchen naheliegenden Ursachen (Vaterschaftstest siehe Gerichtsurteil vom 6. Februar 2013); eventuell beweisende Wissenschaft oder aber noch höhere nämlich einsehende Wissenschaft; herrschendste und führendste Wissenschaft – jedenfalls gegenüber den anderen Wissenschaften, und zwar aufgrund ihrer Einsicht hinsichtlich des Zieles und des Guten; diese aber kann sie nur haben, weil sie die wünschendste Wissenschaft ist: etwas verständlicher gesagt: die engagierteste, die verehrendste, die enthusiastischste.

Wenn die gesuchte Wissenschaft als Superlativ-Wissenschaft auch praktisch und poietisch orientiert oder vielmehr orientierend ist, dann kann die wissenschaftstheoretische Annäherung an sie, also an die „Weisheit“, wie sie Aristoteles hier vorführt, nicht die einzige sein. Es müßte auch eine praktisch-ethische sowie eine poietisch-technische geben. Die erste verläuft über Tugend-Übung, über sogenannte „Askese“ oder „Spiritualität“ (wie sie von Michel Foucault auch aus spätantiken Quellen rekonstruiert worden ist), die zweite über die Kunst oder die Magie, wofür auch das Beispiel der Alchemie stehen mag oder Foucaults „Ästhetik der Existenz“.

Diese beiden Wege werden von Aristoteles hier nicht beschritten, nicht einmal erwähnt. Ihre Möglichkeit, Notwendigkeit gar, konstruiere ich aus den zitierten knappen Angaben, aber auch aus dem Namen „Weisheit“. Daß er in der Poetik die Dichtung über die Geschichtsschreibung stellt, zeigt immerhin, daß auf den drei Paradigmen Wissenschaft, Kunst, Praxis unterschiedlich hohe Realisierungsstufen angesiedelt sind, die miteinander in Konkurrenz, jedenfalls in Vergleich treten können. Zuhöchst fallen oder vielmehr gipfeln sie in eins.

Walter Seitter

 

Montag, 4. Februar 2013

Zur Ökonomie von Gut und Böse


Zwei Monate nach seinen beiden Auftritten auf der Berliner Schuld-Schulden-Bonds-Konferenz (siehe Berliner Protokoll vom 12. Dezember 2012) wird Tomáš Sedláček im Standard vorgestellt. Sein Buch Die Ökonomie von Gut und Böse wurde zum internationalen Bestseller; die dramatisierende Aufführung seiner Thesen durch die Prager Theatergruppe LiSTOVáni (an der er oft selber mitwirkt) hat weltweit Erfolg.

Am 12. Dezember zitierte ich ihn mit der Aussage, er lese ökonomische Bücher religiös und religiöse Bücher ökonomisch. Diese Selbstauskunft könnte in der Richtung „verallgemeinerte Ökonomie“ (Georges Bataille) verstanden werden. Sein Buchtitel läßt sich so lesen, daß er die Ökonomie der Spannung von Gut und Böse unterordnet, womit eindeutig ein normativer Begriffsgegensatz gemeint ist, ein moralischer oder gar religiös aufgeladener. Ich erinnere mich daran, daß er auf der Bühne die Ökonomie unter den trivialeren Gegensatz von Gut und Schlecht gestellt hat – den jedermann, jeder Leser, jeder Konsument so verstehen kann, daß er fragen kann, welche Ökonomie ist für mich gut oder für mich schlecht? Damit sind wir im optativen Parameter, welchen Aristoteles für die Handwerkskünste (und abgeleitet davon auch für eventuelle Handwerkskunstlehren, die bereits zur Betriebswirtschaftslehre gehören) einführt. Wenn Sedláček der herrschenden Wirtschaftswissenschaft vorwirft, sie glaube bzw. predige den Glauben an „objektive“ ökonomische Gesetze, um bestimmte Interessen durchzusetzen, so operiert er formal „religionskritisch“ und führt die Ökonomie auf die optative Dimension zurück, die dem Sachbereich Ökonomie, der ein Praxisbereich ist (essen, kaufen, arbeiten, verkaufen, spekulieren ... wollen), innewohnt. Er kritisiert eine bestimmte und womöglich verdeckte Optativität oder gar Normativität, um ihr eine andere Optativität entgegensetzen, die sich natürlich auch zu einer Norm hochstilisieren läßt: gute Wirtschaft gegen böse Wirtschaft. Auf jeden Fall wird das wissenschaftliche Ideal der „Wertfreiheit“ (obwohl dieses in gewissem Sinn jeder Wissenschaft inhärent sein muss!) destruiert (ich würde sagen zurechtgestutzt oder zurechtgedreht).

Im Standard-Interview zeigt Sedláček, daß er diese verzwickte epistemologische Situation durchaus kennt. Auf die Aussage bzw. Frage „Sie glauben nicht an die wertfreie Ökonomie. Welche Werte würden sie ihr zuschreiben?“ antwortet er recht oxymorisch: „Zunächst einmal ist Wertfreiheit schon selbst ein großer Wert. Und wertfrei zu sein, ist sowieso unmöglich.“

Zweifellos wird hier das Wort „Wert“ nicht ganz univok gebraucht. Tatsächlich hat das Wortfeld „werten“, „wertvoll“ usw. wie wir schon festgestellt haben eine umfassende Bedeutung, die verschiedene optative und normative Dimensionen, moralische und andere, meinen kann; andererseits gehört das Wort „Wert“ in einem engeren Sinn ganz und gar dem Bereich der Ökonomie an: Gebrauchswert, Tauschwert, Entwertung, Aufwertung ... Dieses Wortfeld steht für die triviale ökonomische Optativität, eine bestimmte Art von „besser oder schlechter“.

Vielleicht wäre es angezeigt, dieses Vokabular auf den Bereich der Ökonomie einzuschränken und es nicht auf andere Bereiche loszulassen, wo es dann zu Unklarheiten oder Verwechslungen führt. Für andere Optativitäten (und wenns sein muß auch Normativitäten) empfehlen sich andere Wörter wie „wünschenswert“, „kostbar“, „notwendig“, „herrlich“, „verpflichtend“ ....  

Walter Seitter


Sonntag, 3. Februar 2013

Paradies: Glaube und Liebe

Dieses Protokoll bezieht sich auf das Klossowski-Seminar und handelt von den beiden neuen Filmen Ulrich Seidls: Paradies: Glaube und Paradies: Liebe.

Die beiden Filme verbinden indirekt die Erotik-Thematik und die Religions-Thematik – und zwar über die Schiene der Wunsch-Erfüllung.

Charles Fourier hat sich (wie die meisten französischen „Frühsozialisten“ oder „Utopisten“ nicht in die aus dem 18. Jahrhundert herrührende Tradition des Atheismus gestellt (im Unterschied zu den deutschen Linkshegelianern und zu Nietzsche) und Pierre Klossowski hat in seine mehr oder weniger fourieristische Vision La monnaie vivante auch eine theologische Dimension eingebaut. So daß man sagen könnte, daß die „utopischen“ oder vielmehr desiderativen Vorschläge der beiden darauf zielen, den in Europa installierten Abstand zwischen den fast ausschließlich privaten Sexualitäten und den mehr oder weniger öffentlichen Religiositäten zwar nicht schlechterdings aufzuheben oder zu schließen, wohl aber Zwischen- und Übergangsformen in ihn einzubauen.

Diese Problematik wird von Ulricht Seidl in den beiden Filmen mit krassem Realismus dargestellt und ausgeleuchtet. Die Protagonistin von Paradies: Glaube, Maria, medizinisch-technische Assistentin in Wien, füllt ihre Freizeit so gut wie vollständig mit fanatischer Religiosität, mit inbrünstiger Jesus- und Marien-Verehrung aus, welche sie auch zu privaten Bekehrungsversuchen in der ihr fremden urbanen Umwelt führt. Sogar ihre Selbstgeißelungen vermitteln den Eindruck, daß Religions-Fanatismus, solange er sich in Praktiken realisieren läßt, ein Maximum an Wunscherfüllung liefert. Daß allerdings ausgerechnet diese Frau mit einem Muslim verheiratet ist, der irgendwann im Hause den Religionskrieg vom Zaun bricht, stellt das Paradies: Fanatismus denn doch in Frage.

In Paradies: Liebe bricht eine Frau (Schwester von Maria und Mutter eines halbwüchsigen (und übergewichtigen) Mädchens) zu einer Urlaubsfahrt nach Kenia auf, kommt in ein Hotel direkt am Strand des Indischen Ozeans, wo Beachboys auf Kundinnen warten. Es geht also um Sextourismus (der literarische Spezialist dafür ist Michel Houllebecq): erotische (oder zumindest sexuelle) Wünsche, die in der „Heimat“ nicht erfüllt werden, sollen in einer „zweiten“ Welt, in der sogenannten „Dritten“, befriedigt werden. Die Wienerin bahnt drei oder vier Annäherungen an, sie münden entweder sofort oder bald in Enttäuschung, Zorn, Tränen. Die einzige erfreuliche Episode: zu ihrem Geburtstag wird Teresa von ihren Freundinnen (Urlaubsbekanntschaften) auch so ein Beachboy mitgebracht: Striptease, rosa Mascherl um den Penis, Herumspielen, Lachen und Lachen und Ende.

Nur die inszenierte Wunscherfüllung, die sich in einer kleinen Öffentlichkeit und in den Grenzen der Inszenierung gehalten hat, verlief erfreulich.

Walter Seitter 


Freitag, 1. Februar 2013

In der Metaphysik lesen (996b 19 – 25)

In 996a 29ff. hat Aristoteles die Mathematik einerseits sowie das Zimmerer- und Schusterhandwerk andererseits gegenübergestellt. Jene handelt von „unbewegten“ oder unveränderlichen Sachverhalten, in diesen hingegen geht es um Erzeugungen und Veränderungen, weswegen da auch von Gutem und Schlechtem die Rede sei. In der Mathematik werden Beweise geführt, die weder von einem Guten ausgehen noch irgendein Besser oder Schlechter plausibilisieren sollen. Die Mathematik wird als Prototyp der beweisenden oder „demonstrativen“ Wissenschaft eingeführt. Die besagten Handwerke sind zunächst einmal keine Wissenschaften. Die für sie konstitutiven Redeweisen sind einmal die Wunschkundgebungen der Kunden bzw. Verbraucher, zum anderen die Vorschriften und Anweisungen der Meister gegenüber den Lehrlingen: optative und präskriptive Redeweisen.

Wenden wir uns wieder den wissenschafstheoretischen Klassifikationen des 19. und 20. Jahrhunderts zu, so stellen wir fest, daß da – sowohl in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften – die deskriptiven Vorgehensweisen dominieren: Tatsachenfeststellungen und –vergleiche sowie Ursachen- bzw. Funktionsfeststellungen. Demgegenüber werden normative Aussagen nur ungern zugelassen, da ihr wissenschaftlicher Status prekär erscheint, vor allem kann man aus dem Sein nie auf ein Sollen schließen. Obwohl manche Tätigkeiten wie diejenige der Jurisprudenz oder der Medizin ohne irgendein Sollen gar nicht zu denken sind. Im großen und ganzen bemüht man sich, das Normative aus der Wissenschaft auszuschließen: erstens weil es als unwissenschaftlich gilt und zweitens weil sich mündige Bürger keinem Sollen unterwerfen wollen, man hat Angst vor moralisierender Bevormundung und vor religiösen Zwängen.

Aus der aristotelischen Gegenüberstellung zwischen Mathematik und Handwerken können wir ersehen, daß es neben der Mathematik, die demonstrativ vorgeht und damit einen höheren Grad des Deskriptiven erreicht, auch rationale Vorgehensweisen gibt, die aber nicht gleich mit Normen daherkommen, sondern vielmehr von Wünschen ausgehen.

Neben den deskriptiven Sprechweisen gibt es zunächst einmal die optativen Vorgehens- und Sprechweisen: die Leute wollen dieses und jenes, halten dies für besser, das für schlechter, sie haben Optionen und Präferenzen; es öffnet sich die weite Landschaft des Optativen. Und ausgerechnet das ist in bzw. aus der modernen Wissenschaftsauffassung noch viel gründlicher und radikaler eliminiert worden als das Normative, das sich immerhin – zumindest angeblich – doch immer wieder als unvermeidlich einschleicht. Ernsthafte Philosophen wie Kant haben sogar von einem Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen gesprochen. Hat er damit einen Primat des Normativen oder des Optativen gemeint? Nach allgemeiner Auffassung eher den ersten. Im 19. Jahrhundert beginnt gleichwohl die philosophische Karriere des Willens als erster Instanz: Fichte, Schopenhauer (aber bei dem wieder nur deskriptiv und mit der Intention (mit dem Willen?) zur Stilllegung des Willens (also zur Depression)), Nietzsche, auch Freud könnte man dazunehmen (aber da in der Form einer schwülen Sexualisierung).

Die Protagonisten des expliziten und großformatigen Wünschens sind die sogenannten „Utopisten“ (ein Titel, mit dem das Wünschen aber wieder ganz und gar auf den Mangel zurückgeführt wird). Wie die Autoren des Anti-Ödipus zurecht kritisieren. Diese haben das Wünschen immerhin auch als „objektive“ Realität anerkannt. Gleichzeitig haben sie das Vokabular in Absetzung von Lacan arg vereinfacht: bei Lacan finden wir annähernd die Begriffspalette, welche die Umgangssprache immer schon bereithielt: Wunsch (Begehren), Lust, Genießen, Liebe ...

Angeregt durch Aristoteles sollten wir diese Dimension auch in der metasprachlichen Wissenschaftsklassifikation installieren und die moderne Zweiteilung zwischen „deskriptiv“ und „normativ“ („präskriptiv“) durch das dritte (oder zweite) Glied „optativ“ ergänzen.

Schauen wir auf die Bestimmungen der „gesuchten Wissenschaft“ oder „Weisheit“ in 996b 10ff., so finden wir da an erster Stelle eine, die ihr den Superlativ des Normativen zuspricht, sogar einen doppelten Superlativ: sie ist die „herrschendste“ und „führendste“ – gegenüber den anderen Wissenschaften. Aber warum ist sie das? Weil sie herrschsüchtig ist? Das wäre eine etwas schwache oder vielmehr eine sehr bestreitbare Ambition. Ich meine, daß Aristoteles ihr zwei andere Bestimmungen sozusagen als Grundlage ihres Herrschaftsanspruches zuspricht. Sie ist die Wissenschaft nicht vom Besseren und Schlechteren (wie etwa alle poietischen und praktischen Wissenschaften, die etwas wünschen), sondern vom „Selbstguten“, von der „Natur des Guten“, vom Superlativ des Guten – und das heißt sie ist auch der Superlativ des Wünschens, Wollens, Strebens: denn nur dieser hat die Kraft, sich dem Selbstguten zuzuwenden, zu öffnen, es zu „fassen“, sich ihm zu stellen, ihm gegenüberzustehen. Und sie ist die Wissenschaft vom Wißbarsten: das stärkste, das erkennendste, erleuchtetste und erleuchtendste Wissen vom Lichtvollsten, Klarsten, Deutlichsten. Erkenntnissuperlativ, der den Superlativ des Ursächlichsten, des Seiendsten, Wesenhaftesten erfaßt.

Es handelt sich um eine Verknüpfung von drei oder vier Superlativen. Aber mir kommt es jetzt weniger auf diese Superlativposition an, sondern auf die Mehrzahl der Dimensionen und da greife ich die „subjektiven“ Einstellungen heraus, die sich als erkenntnispolitische Einstellungen und folglich auch als wissenschaftstheoretische Positionierungen benennen lassen.

Die aus dem frühen 20. Jahrhundert überlieferte Gegenübestellung von

deskriptiv                                normativ


läßt sich vervollständigen zu


deskriptiv                                optativ

demonstrativ                              normativ  


Die Deskription bezieht sich auf die faktischen Akzidenzien, von denen Aristoteles hier vier nennt (Quantität, Qualität, Wirken, Leiden). Die Demonstration operiert mit logischen und mathematischen Notwendigkeiten (einen gewissen Abglanz davon vermag laut Aristoteles die gute Dichtung mit anderen Mitteln herzustellen). Von ihr ist noch einmal die Einsicht in die Wesenheiten zu unterscheiden – nennen wir sie Intuition (die auch mit der Deskription verwandt ist).

Im Superlativ der „Weisheit“ koinzidieren die „theoretischen“ Einstellungen (im Schema links) mit den „praktischen“ (im Schema rechts). In der Pluralität der „anderen“ Wissenschaften (und Künste und Tugenden) treten die Einstellungen auseinander. Begnügen wir uns vorläufig damit, in den unteren Geschoßen die vier oder fünf Einstellungen zu unterscheiden.                

Walter Seitter