τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Sonntag, 3. Februar 2013

Paradies: Glaube und Liebe

Dieses Protokoll bezieht sich auf das Klossowski-Seminar und handelt von den beiden neuen Filmen Ulrich Seidls: Paradies: Glaube und Paradies: Liebe.

Die beiden Filme verbinden indirekt die Erotik-Thematik und die Religions-Thematik – und zwar über die Schiene der Wunsch-Erfüllung.

Charles Fourier hat sich (wie die meisten französischen „Frühsozialisten“ oder „Utopisten“ nicht in die aus dem 18. Jahrhundert herrührende Tradition des Atheismus gestellt (im Unterschied zu den deutschen Linkshegelianern und zu Nietzsche) und Pierre Klossowski hat in seine mehr oder weniger fourieristische Vision La monnaie vivante auch eine theologische Dimension eingebaut. So daß man sagen könnte, daß die „utopischen“ oder vielmehr desiderativen Vorschläge der beiden darauf zielen, den in Europa installierten Abstand zwischen den fast ausschließlich privaten Sexualitäten und den mehr oder weniger öffentlichen Religiositäten zwar nicht schlechterdings aufzuheben oder zu schließen, wohl aber Zwischen- und Übergangsformen in ihn einzubauen.

Diese Problematik wird von Ulricht Seidl in den beiden Filmen mit krassem Realismus dargestellt und ausgeleuchtet. Die Protagonistin von Paradies: Glaube, Maria, medizinisch-technische Assistentin in Wien, füllt ihre Freizeit so gut wie vollständig mit fanatischer Religiosität, mit inbrünstiger Jesus- und Marien-Verehrung aus, welche sie auch zu privaten Bekehrungsversuchen in der ihr fremden urbanen Umwelt führt. Sogar ihre Selbstgeißelungen vermitteln den Eindruck, daß Religions-Fanatismus, solange er sich in Praktiken realisieren läßt, ein Maximum an Wunscherfüllung liefert. Daß allerdings ausgerechnet diese Frau mit einem Muslim verheiratet ist, der irgendwann im Hause den Religionskrieg vom Zaun bricht, stellt das Paradies: Fanatismus denn doch in Frage.

In Paradies: Liebe bricht eine Frau (Schwester von Maria und Mutter eines halbwüchsigen (und übergewichtigen) Mädchens) zu einer Urlaubsfahrt nach Kenia auf, kommt in ein Hotel direkt am Strand des Indischen Ozeans, wo Beachboys auf Kundinnen warten. Es geht also um Sextourismus (der literarische Spezialist dafür ist Michel Houllebecq): erotische (oder zumindest sexuelle) Wünsche, die in der „Heimat“ nicht erfüllt werden, sollen in einer „zweiten“ Welt, in der sogenannten „Dritten“, befriedigt werden. Die Wienerin bahnt drei oder vier Annäherungen an, sie münden entweder sofort oder bald in Enttäuschung, Zorn, Tränen. Die einzige erfreuliche Episode: zu ihrem Geburtstag wird Teresa von ihren Freundinnen (Urlaubsbekanntschaften) auch so ein Beachboy mitgebracht: Striptease, rosa Mascherl um den Penis, Herumspielen, Lachen und Lachen und Ende.

Nur die inszenierte Wunscherfüllung, die sich in einer kleinen Öffentlichkeit und in den Grenzen der Inszenierung gehalten hat, verlief erfreulich.

Walter Seitter 


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen