Zunächst weist Horst Ebner, ausgehend vom Protokoll zur letzten Sitzung, auf die Parallele zwischen Aristoteles und Lacan als Sprechende hin, deren sprachliche Aussagen zwar in Büchern, doch ohne von ihnen selbst im klassischen Sinn betitelten Büchern vorliegen. Lacan habe „Nulltitel“ gegeben wie „Schriften“, die nicht auf den Inhalt der Aussagen, sondern auf die eigentliche, mündliche Darbietungsform zeigen. Auch die Bibliothek als Metamedium von Büchern, deren Index das Meta-Inhaltsverzeichnis ist, wird erwähnt.
Matthias Illigen fragt, ob im wissenschaftlich-akademischen Philosophiebetrieb eigentlich überhaupt Primärtexte verfaßt würden. Kant gilt als erster Professor, der auch Primärquellen verfasst und damit Fichte, Schelling und Hegel beeinflusst hat
Ein guter Wissenschaftler ordnet sich der Sache, über die er Wissen zu schaffen sucht, unter – und ist dabei schöpferisch im Sinne von Wasserschöpfen, aber nicht als Originalgenie.
Wir wenden uns 997 b 25 zu, Aristoteles fragt nach einem Mittleren zwischen "der Heilkunst selbst" und "dieser Heilkunst da" – möglicherweise erneut ironisch, um sich von Platons Ideenlehre abzusetzen. Vorausgegangenes Beispiel ist die Geometrie, die sich mit nicht wahrnehmbaren Dingen beschäftigt, gegenüber der Geodäsie, die mithilfe der Prinzipien der Geometrie wahrnehmbare Dinge – den Raum, die Landschaftsbeschaffenheit – wissenschaftlich behandelt, vermißt und kartographiert. Die wissenschaftliche Lehre der Medizin unterscheidet sich von der praktischen Vorgehensweise zwischen Arzt und Patienten, aber beides wirkt doch ineinander, und wir können nachvollziehen, dass es komisch wäre, da noch ein drittes, mittleres hineinzubringen.
Unsere letzte, nicht einmütig abgeschlossene Diskussion behandelt die Frage, ob die Geodäsie verschwinden würde, wenn die Landschaft vergeht – vielleicht ist das die Frage, ob Wissenschaft von etwas Wahrnehmbaren existieren kann, wenn der wahrnehmbare Gegenstand nicht mehr existiert?
Gesche Heumann
τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.
Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.
Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)
* * *
Montag, 25. März 2013
Samstag, 23. März 2013
Politics of Friendship (Protokoll 20. 3. 2013)
Mein Freund Pierre, ein Pariser Anarchist,
der mit einem Fuß schon öfter im Kriminal stand, hat bei Derrida, Nancy und
auch Deleuze studiert. Ihm ergeht es ähnlich wie mir, der ich bei wahrscheinlich
allen entscheidenden Wiener Philosophen der letzten zwei Jahrzehnte studiert oder zumindest ein Seminar bei Ihnen
belegt habe, (von Kortian bis Waldenfels, von Sloterdijk bis Aubenque, von
Samsonow bis Seitter), beide arbeiten wir nicht auf der Universität, sondern
sind am freien Markt quasi als Unternehmer tätig.
(Zu
wenig passen wir in das akademische System, zu viel setzten wir der Mißgunst-
und Spießergesellschaft der akademischen Philosophie entgegen. Zuviel Distanz
konnten wir im Laufe der Jahre zu uns selbst entwickeln, und zu miserable
Sekundärphilosophen sind wir. Übrigens als Unternehmer im Sinne von Hardt und
Negris Empire, nämlich als
Schnittstelle im Strome des Kapitals, welche bei verschiedensten Gelegenheiten,
man könnte auch sagen bei jeder, die sich bietet, akkumuliert. Pierre war
eineinhalb jahrelang im Amazonasgebiet bei einem Indianerstamm zu Gast und hat
deren Sprache erlernt, und hat sich so in einen Kapitalstrom einer
französischen Forschungsgesellschaft gestellt. Ich, der ich jahrelang auf der
Psychiatrie war, akkumuliere beispielsweise immer wieder mal mit folie und peerness. Völlig unverfroren.)
Als die entscheidenden Philosophen bezeichnen
Pierre und ich, die Autoren und Urheber primärer philosophischer Werke. Dies ist
der vorbildliche und prototypische Weg. Vom Verfasser sekundärer Werke als
Student und später als Lehrender, irgendwann zum Philosophen primärer Werke,
zum Verfechter eigener Theorie zu werden. Im Grunde gilt wohl nichts als
wissenschaftlicher und forschender als eine Hypothese zu beweisen. Andere
Wissenschaften machen es jedenfalls so. Und nicht anders.
Der erste Philosoph der auch Professor war,
war Immanuel Kant, stellten wir fest. Dessen Vorbild wird seither mehr oder
weniger imitiert.
Der primäre Philosoph aber soll nur der
Sache dienen. Ein Bekenntnis zur Armut und Bescheidenheit, welches ich nicht unterschreiben
würde. Gibt es doch trotz, oder gerade wegen der philosophischen Sachen, das
Selbstbewusstsein, das Psychische und die Persönlichkeit. Oder auch das Totem
und die Gesellschaft. Und so vertrete ich eher die Ansicht, dass die philosophischen
Sachen nur mit den Philosophen leben und zur vollen Blüte gelangen. Ungelesene
Bücher sind doch, da lehne ich mich zäh an Platon an, tote Bücher. Und nicht-blühende
Theorie wird irgendwann zu einem Fall der Archäologie. Was ich beispielsweise
bei meiner oftmals belächelten Lektüre von Erich Fromms Werken heute schon
bemerke. Leider mussten die bedeutenden Philosophen einsehen, dass nämlich nur
sie der Sache dienen können. Deshalb haben sie alle miteinander keinen
bedeutenden Schüler. Weder die Deutschen noch die Franzosen.
Pierre übrigens, findet die französische
Philosophie langweilig und uninteressant. Er sagt: „Ja, ja Lacan, das ist ganz
nett, aber das ist Fünfzigerjahre. Das ist theoretisch nicht mehr interessant.
Das ist die französische Schule der Psychoanalyse. Das ist Therapie.“ Er
belächelt mich fast dafür, wenn ich ihm von der Schule erzähle, die ich
mittwochs besuche. Pierre sagt auch: „Wir in Frankreich können die Tradition
der 1950er- bis 1990er-Jahre gar nicht richtig fortführen, weil all die
bedeutenden Philosophen es verabsäumt haben, bedeutende Schüler in entscheidenden
Positionen zu installieren. Wir in Frankreich lesen alle Sloterdijk. Alle die
mit mir studiert haben lesen Sloterdijk.“ Es sei an dieser Stelle gesagt, dass
Pierre 38 ist, also um drei Jahre älter, als ich es bin.
Seit einem letzten Wienbesuch beschäftigt
Pierre sich mit dialektischer Kybernetik nach Gotthart Günther.
Ich sehe Platon und Aristoteles in dieser
Frage nahe beieinander. Entsteht bei Platon Wissen des Wissens und Erkenntnis
an und für sich nur über die Selbsterkenntnis, bestätigt Aristoteles mit seiner
Polemik gegen die gleichzeitige Existenz von Dingen und deren Ideen mit dem
Vorschlag eines Mittleren, meiner Ansicht nach ontologisch und kategorial, das
Allgemeine existiert nur im Konkreten. Anthropologisch umgemünzt bedeute dies,
dass die allgemeine Philosophie nur in der konkreten philosophischen Tätigkeit
des einzelnen Philosophen existiert. Auch wenn Aristoteles die ewigen Dinge und
Wissenschaften unabhängig von der Betätigung und als nicht vergänglich sieht,
würde ich soweit gehen. Auch bei möglichst authentischer Lektüre, muss man Aristoteles
mit der Realität abgleichen, und die besagt bspw. das es keine ewigen Gestirne
gibt, sondern vergängliche Sterne und Planeten.
Ich bin auch überzeugt, dass ohne
Philosophen das Fehlen philosophischer Sachen, solange niemandem auffallen
würde, bis es wieder Philosophen gäbe.
Philosophie ist, darin sind sich Pierre und
ich einig, ist, selbst wenn man es erst postulieren müsste und es Sokrates
nicht gegeben hätte, kein Sicherheits- sondern ein Risikoberuf. Und wenn man
das Risiko nicht tragen kann, sollte man es, in letzter Konsequenz und nebenbei
bemerkt, besser lassen.
Für unsere bisherige Lektüre erscheint mir
der Titel „Metagerede“ der Treffendste. Auch „Paratexte“ wie ein Werk von Gérard
Genette sich nennt, hätte eine gewisse Gültigkeit. Aber „Metagerede“ ist
besser. Viel besser.
Mathias Illigen
P.S. Die Damen der Runde mögen mir die ausschließliche
Verwendung der männlichen Form verzeihen.
Donnerstag, 14. März 2013
Metaphysikanalyse (mit Lacan) II
Wir lesen nun seit gut zwei
Jahren „in der Metaphysik“ des Aristoteles – ich sage nicht "die Metaphysik".
Denn es handelt sich um eine Textmasse, die genaugenommen, nämlich vom
Textbestand aus keinen Titel trägt. Auch die Poetik trägt keinen
offiziellen Titel, denn sie ist ja nicht als Buch von Aristoteles geschrieben
und in die Welt gesetzt worden, sondern eher als Vorlesungsmanuskript
hinterlassen worden. Aber schon im ersten Satz wird gesagt, daß es „um die
Dichtkunst“ geht. Und das griechische Wort für „Dichtkunst“ ist dann mit der
Bedeutung „Dichtkunstlehre“ zum Titel gemacht worden: also ein offiziöser
Titel. In der uns jetzt beschäftigenden Textmasse kommt das Wort „Metaphysik“
überhaupt nicht vor, es ist erst nachträglich gebildet worden, um als Titel
darübergesetzt zu werden. Worum es im Buch geht, ist die Suche nach „der
gesuchten Wissenschaft“ – aber diese Formel eignet sich wirklich nicht als
Buchtitel. Beziehungsweise sie würde das Buch zu einem Roman ummodeln – in der
Art eines Gralsromans oder einer proustschen Zeitsuche. Und die Titel, die die
gesuchte Wissenschaft im Buch dann doch zugesprochen bekommt, sind von
niemandem als Titelformulierungen fürs Buch eingesetzt worden (am allerwenigsten
der Titel „Weisheit“).
Dieses Buch hat also nicht
einmal einen autorisierten offiziösen Titel. Es ist von sich aus (und vom Autor
aus) ein Werk „o. T.“. Damit liegt es durchaus auf einer modischen Linie, die
sich im 20. Jahrhundert für Werke der Bildenden Kunst formiert hat. Allerdings
war diese Linie für Bücher, noch dazu für gelehrte, nie in Geltung. Und so hat
man dann eben den Titel „Metaphysik“ erfunden und eingesetzt.
Unser Lesen scheint
tatsächlich der Empfehlung Lacans zu folgen, die ja nichts anderes meint als:
lesen o. T., lesen o. S. (ohne Sinn oder Signifikat), lesen o. W. (ohne
Wesenheit). Wir folgen dieser Empfehlung seit zwei Jahren, obwohl wir sie erst
jetzt gefunden haben. Möglicherweise sind wir die ersten, die dieses Buch so
lesen – und deshalb stoßen wir überhaupt auf den Text. Wenn man es mit der
ganzen Sinnaufladung lesen wollte, würde man kaum – so Lacan – das Buch selber
finden; oder das „Büchel“, wie er sagt. Von „bouquin“ kommen ja die
Bouquinisten, die am Ufer der Seine so alte Exemplare anbieten, daß die
Titelseiten schon fehlen und man daher „gezwungen“ ist zu lesen, ohne zu
wissen, „was“ man da liest. Da wir hier nicht in Paris sind und auch nicht
Paris spielen, sage ich „Textmasse“ und insistiere auf dem „o. T.“. Das Buch
hat nicht einmal einen offiziösen Titel, sondern gar keinen. Oder eben doch
einen – aber einen nicht-offiziösen.
Vermutlich sind wir
überhaupt die ersten – jedenfalls im deutschen Sprachraum, die diese
Lacan-Stelle lesen und wir lesen sie, weil wir ihrer Anweisung vorauseilend
folgen.
Lacan erwähnt die im 19.
Jahrhundert erfundene Methode, um sich der Sinnaufladung zu entziehen: die
historisch-kritische Methode, die das Buch als solches und vor allem die
Autorisierung durch den Autor destruiert. Diese Destruktion gehöre immer noch
dem universitären Diskurs an, der zuvor über Jahrhunderte mit der Sinnaufladung
beschäftigt gewesen sei. Lacan hält also an der Echtheit des Buches fest: er
legt sogar auf das deutsche Wort „echt“ Wert. Und einen Beweis für die
„Echtheit“ des Textes sieht er in seiner Blödheit – wohlgemerkt Blödheit des
Textes nicht des Aristoteles. Der Text ist echt, weil er blöd ist, weil er auf
der „Höhe der Blödheit“ ist. Die derzeitige Konjunktur des Wortes „echt“ in der
Jugendsprache (oder wie man die nennen soll) unterstützt die lacansche Rede vom
Signifikanten, der echt ist, weil „echt blöd“.
Die Blödheit wird von Lacan
so erklärt, daß er seinen ganzen Lacanismus einschieben kann, um den
springenden Punkt der sogenannten Metaphysik klar zu machen: das Niveau der
Blödheit erreicht man, indem man seine Fragen aufgrund der Tatsache stellt, daß
das Sprechen den Abgrund ausfüllt, der daraus entsteht, „daß es kein sexuelles
Verhältnis gibt“, was wiederum durch keine Schrift in befriedigender Weise
begründet werden kann. Zu diesem lacanschen Theorem die Fußnote, daß jetzt
zwei Bücher erschienen sind, die erstens anders übersetzen, nämlich „Es gibt
keinen Geschlechtsverkehr“, wobei das eine Buch so heißt, aber zwei
Lacanlektüren vorstellt, nämlich die von Alain Badiou und von Barbara Cassin,
während das andere Es gibt – Geschlechtsverkehr heißt und von Jean-Luc
Nancy stammt.
Mir scheint, wir können
„die Höhe“ oder „das Niveau“ der Blödheit der sogenannten Metaphysik aufgrund
unserer bisherigen Lektüre schon darin vermuten, daß die gesuchte Wissenschaft
superlativisch als höchste, mächtigste, natürlich auch wissendste angepeilt
oder in Aussicht gestellt wird. Tatsächlich zeigt sie sich jedoch als
Suchbewegung, die von Aporie zu Aporie fortschreitet, Bestimmungen vornimmt und
weitergeht und sie wieder aufgreift, sich im Kreise dreht. Es tut sich ein
riesiges Gefälle auf, ein Abgrund – ähnlich dem lacanistischen.
Walter Seitter
Freitag, 8. März 2013
Metaphysikanalyse (mit Lacan)
Aristoteles’ hartnäckige
Kritik an der sogenannten „Ideenlehre“ Platons wirft die Frage auf, ob es das,
was bei Platon „Idee“ heißt, bei Aristoteles gar nicht gibt oder, wenn doch,
dann mit welchen Unterschieden. Die in den sokratisch-platonischen Dialogen
herausgearbeitete Soseins- oder Artbestimmtheit wird sehr wohl auch von
Aristoteles übernommen und nimmt in den logischen wie in den
realwissenschaftlichen (hauptsächlich physikalischen) Schriften eine wichtige
Stellung ein: eher vielleicht wichtige Stellungen. Denn sie wird mit
zahlreichen unterschiedlichen Begriffsformulierungen ausgedrückt, denen
immerhin erkennbare sachliche Nuancen zugrundeliegen. Trotzdem sei hier von
diesen einmal abgesehen und statt dessen die Vielzahl der Termini genannt:
idea, eidos, morphe, logos, ousia, ti en einai, ti estin, entelecheia. In den
logischen Schriften steht die Differenz von Substanz und Akzidenzien im
Vordergrund und da wird das eidos hauptsächlich der Substanz zugeordnet. In den
anderen Schriften überwiegt die Ursachenbestimmung und –unterscheidung und da
wird das eidos als zweite, als Formursache, geführt; es kann aber auch zweite,
dritte und vierte Ursache gleichzeitig sein. Das Wort „Ursache“ hat allerdings
den Nachteil, daß es den immanenten Charakter der Formursache verdeckt, und der
macht nun einmal den Hauptunterschied dieser aristotelischen „Ursache“
gegenüber den platonischen Ideen aus, die transzendent positioniert sind
(Aristoteles sagt nüchterner: sie existieren „getrennt“).
Gegenüber der platonischen
„Ideenlehre“ könnte man bei Aristoteles von „Ursachenlehre“ sprechen. Und die
ersten Abschnitte in der Metaphysik haben denn auch diese
Untersuchungsrichtung betont. Hingegen hat der zuletzt gelesene Abschnitt über
die „mathematischen Wissenschaften“, aber auch viele andere Stellen wie
diejenige über die „Wertfreiheit“ der Mathematik, eine ganz andere Dimension
auftauchen lassen, die auch direkt mit dem Selbstverständnis des Textes als Suche
nach einer bestimmten, nämlich „gesuchten Wissenschaft“ zusammenhängt: die
Dimension einer „Wissenschaftslehre“, mit der übrigens auch der sogenannte
„Meta“-Charakter des Textes zusammenpasst. Ein Textverständnis, das durchaus
Wirkung gezeigt hat, auch wenn es sich von der Hauptwirkung namens „Metaphysik“
deutlich absetzt. So hat zum Beispiel Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) seine
zentralen Schriften allesamt Wissenschaftslehre genannt – und zwar ohne
jede Bezugnahme auf Aristoteles oder gar die Metaphysik. Er sah sich als
Fortsetzer von Kant, dessen Kritik der reinen Vernunft einerseits als
Wissenschaftslehre auftritt, andererseits aber auch der Metaphysik – endlich –
eine ordentliche Begründung liefern wollte.
Jetzt zu einem Autor des
20. Jahrhunderts, der kaum zu den professionellen Philosophen zu zählen ist,
sich aber unordentlicherweise doch in die Philosophie eingemischt hat. Zunächst
mit dem Motiv, der von Sigmund Freud begründeten – man kann auch sagen:
erfundenen – Psychoanalyse zu stärkerer Wissenschaftlichkeit zu verhelfen.
In seiner Rede von Rom 1953
hat er hierzu ein „epistemologisches Dreieck“ vorgeschlagen, bestehend aus
Geschichte, Mathematik und Linguistik, um die Psychoanalyse darin zu
integrieren und auf den Stand der Wissenschaften zu bringen.[1] Was die
Linguistik betrifft, so hat er über Claude Lévi-Strauss die eher esoterischen
Untersuchungen von Ferdinand de Saussure sowie von Roman Jakobson aufgegriffen.
Er zitiert aber auch Freud, der sich für eine ideale psychoanalytische Hochschule
die um 1900 schon gut eingebürgerten geisteswissenschaftlichen Disziplinen
„Kulturgeschichte, Mythologie, Religionspsychologie und Literaturwissenschaft“
gewünscht hat. Und nachdem er einige Minuten zuvor eine platonische „Rückkehr
zum Begriff der wahrhaftigen Wissenschaft“ statuiert hatte, ergänzt er die
Freudsche Liste mit einer erklärtermaßen aristotelischen und postuliert
folgende Gebiete: Rhetorik, Dialektik, Topik, Grammatik, Poetik.[2] Er
resümiert diese, wie er selber sagt, etwas altmodische Postulierung, indem er
sich ausdrücklich zur mittelalterlichen Tradition der „artes liberales“
bekennt.[3]
Es ist sehr ungewiß, ob
sich die echten Lacanianer, die Psychoanalytiker sind, um diese Empfehlungen
kümmern. Wohl aber wissen wir, daß wir vier Jahre lang die Poetik
gelesen haben.
Doch damit nicht genug. Am
15. Dezember 1971 empfiehlt Lacan in seinem Seminar die Lektüre der Metaphysik
des Aristoteles und er würzt seine Empfehlung mit dem Versprechen, die
Leser würden das Buch – ebenso wie er – „kuhblöd“ finden; die Blödheit des
Textes sei geradezu frappant.[4]
Und zwar unter einer
Bedingung, die selber geradezu tautologisch klingt: man müsse bei der Lektüre
der Metaphysik von ihrem Wesen, vom Signifikat, von allen Erklärungen
darüber absehen, von allem, was die Metaphysik für das Abendland
zustandegebracht hat. Denn alles sei daraus, aus der Metaphysik entstanden, die
man ihrerseits aus der Metaphysik – dem Buch – herausgelesen habe.
Neuerlich spreche man sogar vom Ende der Metaphysik. Das alles sei nur möglich,
aufgrund dieses „Büchels”.
Es sei ja nur ein Büchel
(scil. W. S.: meine gelbe Reclam-Ausgabe mißt knapp 15 x 10 x 2 cm) und das sei
etwas ganz anderes als die Metaphysik. Man hat ihm einen Sinn gegeben – und den
nennt man „Metaphysik“ (nicht kursiv geschrieben). Man müsse jedoch den Sinn
und das Büchel unterscheiden. Mehr noch: man müsse das Büchel unter dem ganzen
Sinn überhaupt wieder auffinden und hervorholen – und das sei gar nicht leicht.
Wenn das gelinge, würde man das sehen, was die Vertreter der
historisch-kritisch-exegetischen Methode im 19. Jahrhundert auch schon gesehen
hätten, indem sie sich vom Sinn in gewisser Weise abgesperrt hätten.
Und zwar wären ihnen
Zweifel über das Buch gekommen, wie auch schon einigen in der Spätantike. Das
sogenannte Buch sei wohl nur eine Aneinanderfügung von Notizen, es sei
vielleicht von einem Schüler zusammengeschrieben worden. Lacan aber behauptet,
ein Buch von Karl Ludwig Michelet (1801–1893) (nicht identisch mit dem
französischen Dichter-Historiker Jules Michelet (1798-1874)) gelesen zu haben,
und ebenso wie dieser nicht an die historisch-kritische Dekonstruktion der Metaphysik
des Aristoteles zu glauben.[5]
Fortsetzung folgt.
[1] Jacques Lacan: Schriften
1 (Frankfurt 1975): 126ff.
[2] Jacques Lacan: op.
cit.: 130.
[3] Jacques Lacan: op.
cit.: 131.
[4] Jacques Lacan: Séminaire
XIX: ... ou pire. 1971-1972 (Paris 2011): 28.
[5] Siehe Jacques Lacan:
op. cit.: 28f.
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