Zuerst Erinnerung an meinen
Vortrag vom 10. April:
Morphismus, Energismus,
Krypto-Animismus ....
Eine postaristotelische
Glosse
Von Philippe Descola: Jenseits
von Natur und Kultur (Berlin 2011) beziehe ich einen heute üblichen Begriff
von „Animismus“: Menschen schreiben Elementen der Umwelt – Tieren, Pflanzen und
anderen – menschliche Merkmale wie Personalität, bewußtes Handeln zu und
verhalten sich zu ihnen entsprechend. Die konträr entgegengesetzte Denk- und
Verhaltensweise nennt Descola „Naturalismus“: sie habe sich nur im Abendland
ausgebildet und durchgesetzt. Zu den Anfängen dieser Entwicklung zählt Descola
auch die aristotelische Philosophie, da sie mit dem Wort „physis“ den Bereich
der außermenschlichen Natur bezeichne; was sie aber nicht konsequent tut.
Ich greife das
aristotelische Lehrstück „Hylomorphismus“ heraus: Zusammengesetztheit aus Stoff
und Form, die für alle Dinge und Wesen gilt. Und ich isoliere das Element der
Formursache und stelle fest, daß es dafür bei Aristoteles ungefähr neun
Ausdrücke gibt: morphe, eidos, physis (jetzt als Bestandteil aller Wesen),
logos, ousia, to ti estin, to ti en einai, energeia, entelecheia. Diese
Synonyme heben jeweils unterschiedliche Nuancen des Formprinzips hervor. Die
beiden zuletzt genannten steigern das Prinzip schon zu einiger Höhe. So daß man
als höchste Version den Ausdruck psyche=Seele einsetzen kann. Die kommt
allerdings nicht allen Seienden zu, sondern den zur Selbstbewegung fähigen,
also den zoa (Menschen, Tiere, Pflanzen, Himmel). Die sind aber nur graduelle
Steigerungen der anderen, der übrigen Wesen. Und insofern schreibe ich
Aristoteles einen Fast- oder Krypto-Animismus zu.
Meine Feststellung der
ungefähr zehn Synonyme beruft sich auf ein „Zusammenlesen“ vieler Textstellen
bei Aristoteles. In der Sekundärliteratur habe ich sie nicht gefunden. Wenn sie
stimmt, ist sie das Ergebnis eines „Sehens“, das sich aus Lektüren
zusammensetzt, auch sehr wortwörtlichen, das aber auch ein darüber
hinausgehendes oder ein durchwehendes Sehen ist, eben ein Seherblick. Lesen und
trotzdem oder vielmehr mit dem: Sehen. Dieses Sehen, das unbedingt mit einem
Sagen, einem irgendwie neuen Sagen zusammenhängt – das konstituiert meine
Physik.
Die Physik und zwar die
aristotelische steht im Mittelpunkt einer ausführlichen Rezension in der
Süddeutschen Zeitung vom 16. April. Jürgen Busche über Martin Heidegger: Seminare.
Platon-Aristoteles-Augustinus. Hg. Von M. Michalski (Frankfurt 2012).
Heidegger-Seminare von 1929 bis 1952 werden da dokumentiert: aufgrund von
Heideggers persönlichen Notizen sowie von Protokollen seiner Schüler. Nach der
Aufhebung des Lehrverbotes führte Heidegger drei Semester „Übungen im Lesen“
durch, die sich bezeichnenderweise auf die aristotelische Physik bezogen,
also das Buch, das man nicht unbedingt mit Philosophie verbinden möchte (siehe
die Protokolle vom 26. und vom 29. November 2012). Wenn diese Übungen
tatsächlich so stattgefunden haben wie angekündigt, dann haben sie mit dem Üben
im Lesen „Physik“ im aristotelischen Sinn gelehrt. Denn der lautet: sagen was
man wahrnimmt (Met. 1037a 13f.)
Dann wirkt Aristoteles
tatsächlich bis ins 20. und 21. Jahrhundert nach Christus.
Am späteren Abend dann noch
ein Vortrag über ein interessantes Buch: Bernhard Lang: Jesus der Hund.Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers (München 2011). Die auf Sokrates
zurückgehende griechische Philosophenschule der Kyniker soll auf den jüdischen
Kulturraum schon vor Jesus eingewirkt haben, mit den Propheten Elias und
Johannes als Protagonisten. Die Lehre Jesus lasse sich nur in diesem Kontext
verstehen – womit allerdings kirchliche Dogmatik in Frage gestellt werde. Diese
Thesen stehen neben denjenigen des Buches Bruno Delorme: Le Christ grec. De
la tragédie aux évangiles (Montrouge 2009) – auf das wir während der Poetik-Lektüre
gestoßen sind.
Walter Seitter
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