τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 19. Oktober 2013

In der Metaphysik lesen (Rückblick)


Blicken wir auf die jetzt schon zweieinhalbjährige Lektüre in der Metaphysik zurück, so können wir ungefähr folgende Stränge in diesem Text unterscheiden:

Erstens einige anthropologische bzw. epistemologische Aussagen über die menschliche Erkenntnis, die deren gestuften Aufbau folgendermaßen gliedern: Sinneswahrnehmung, Erinnerung, Vorstellung, Erfahrung, Lernen, handwerkliche Kunst, leitende Kunst, Wissenschaft. Und als Begriff für das hier gültige Maß: Weisheit. Eine Scheide zwischen den niedrigeren und den höheren Erkenntnisformen bilden die beiden Objekte: das „daß“ und das „weshalb“ (die Ursache), eine andere Scheide liegt zwischen „nicht-lehren-können“ und „lehren-können“; eine weitere zwischen zwei weiteren Kunst-Typen: die notwendigen und die „diagogischen“ (selbstzweckhaften).

Der schon genannte Begriff der Weisheit steht für die Erkenntnis der ersten Ursachen und Prinzipien. Umso mehr dürfen wir, nein sollen wir darüber erstaunen, daß den Künsten in dieser Aufstellung soviel Raum gelassen wird. Der griechische Begriff „Kunst“ (techne) hat eine stärkere kognitive Schlagseite als der moderne: seine Affinität zu Ursachen und Prinzipien beruht gerade darauf, daß er mit Hervorbringung zu tun hat, und hervorbringen kann man nur, wenn man weiß, aus was und mit was man etwas macht.

Trotzdem führt Aristoteles hier seine Hierarchisierung ein, wonach die theoretischen Wissenschaften über den poietischen (technischen) stehen: offensichtlich können sie die „ersten“ Ursachen eher erfassen. Die „ersten“ Ursachen und Prinzipien, das sind die entferntesten, im heutigen Sinn die „letzten“, die nicht „auf der Hand liegen“ und daher auch nicht in der Macht der Handwerker, Künstler usw.

Trotzdem ist dieses Naheverhältnis zwischen Weisheit und Kunst wichtig, weil es zeigt, daß die theoretischen Wissenschaften von den anderen (zu denen auch die praktischen gehören) nicht durch einen Abgrund getrennt sind.

„Ursachen“ und „Prinzipien“ – Begriffe, die uns eher fern liegen, weil sie durch die moderne Wissenschaftsentwicklung „überholt“ worden sind. Tatsächlich umfassen sie ein größeres Spektrum von heutigen Begriffen, etwa: Urheber, Erzeuger, Faktor, Element, Bestandteil, Bedingung, Voraussetzung. Ohne diese Begriffe läßt sich bestimmt auch moderne Wissenschaft nicht verstehen und andererseits fallen unter sie auch Sachverhalte, denen wir nicht ohne weiteres wissenschaftstheoretische Relevanz zusprechen würden.

In 982a 4 geht Aristoteles formell dazu über, das Projekt, das er mit diesem Text verfolgt, zu erklären. Es geht einerseits um eine „gesuchte Wissenschaft“, also eine, die es noch nicht, jedenfalls nicht als gut etablierte, gibt (wie etwa die Physik oder die Poetik oder die in 981b 26 erwähnte Ethik), sondern eine die erst definiert und erarbeitet werden muß. Die aber nun doch den altehwürdigen Namen „Weisheit“ zugesprochen bekommt. Diese bereits bekannte Weisheit wird mehrfach definiert: Wissenschaft von den schwierigen Dingen, Wissenschaft von den herrschaftlichen Dingen, Wissenschaft von allen Dingen (in ihrer Allgemeinheit), Wissenschaft vom Wißbarsten (Widerspruch mit der ersten Bestimmung?), Wissenschaft vom Guten und zwar vom Guten an sich, ja vom Besten in der ganzen Natur. Diese letzte Bestimmung scheint die gesuchte Wissenschaft von den theoretischen Wissenschaften etwas abzurücken. Ich würde sagen, sie nähert sie den poietischen oder praktischen an; doch Aristoteles bestätigt ihre Zugehörigkeit zu den theoretischen. Was impliziert, daß bei Aristoteles „Theorie“ nicht total neutral verstanden wird. In diese Richtung ging ja bereits der allererste Satz der Metaphysik: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“

Gegen diese superlativisch definierte Wissenschaft macht sich Aristoteles selber den Einwand, sie übersteige die menschlichen Fähigkeiten, sie sei dermaßen „göttlich“, daß sie von den Göttern vereitelt oder geahndet werden würde. Aristoteles zitiert diese Version der griechischen Volksreligion, kritisiert sie jedoch quasi-platonisch, und hält so seine Behauptung aufrecht, die gesuchte Wissenschaft bzw. die Suche nach ihr eröffne die Möglichkeit einer Annäherung an das Göttliche. Womit er dieser Wissenschaft eine wenn schon nicht religiöse so doch „existenzielle“ Bedeutung zuspricht – zusätzlich mit dem Hinweis auf das Erstaunen als Chance zum Erkennen. Streben und Staunen als nicht rein theoretische Antriebe zum Erkennen. Für das Suchen als methodische Fortsetzung und Ausarbeitung dieser Initialerfahrungen setzt Aristoteles auch ein: aporein, diaporein: den Weg verlieren, fragen, herumsuchen, weitersuchen, sich durcharbeiten.  

Erinnern wir uns daran, wie Aristoteles in seiner Poetik die Götter – die Götter in der Tragödie – ziemlich bedenkenlos eliminiert hat, so fällt auf, daß er sie hier, bei der Definition der gesuchten Wissenschaft und beim Aufrollen ihrer Vorgeschichte, ein bißchen mehr würdigt. Und zwar, weil unter dem weiten Doppelbegriff „Ursachen und Prinzipen“ vielleicht auch das Göttliche oder der Gott oder die Götter subsumiert werden können – oder gar müssen. Als erste oder anders gesagt als fernste Ursachen – nicht unbedingt als ständig sich einmischende Instanzen.

Walter Seitter


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