Blicken wir auf die jetzt
schon zweieinhalbjährige Lektüre in der Metaphysik zurück, so können wir
ungefähr folgende Stränge in diesem Text unterscheiden:
Erstens einige
anthropologische bzw. epistemologische Aussagen über die menschliche
Erkenntnis, die deren gestuften Aufbau folgendermaßen gliedern:
Sinneswahrnehmung, Erinnerung, Vorstellung, Erfahrung, Lernen, handwerkliche
Kunst, leitende Kunst, Wissenschaft. Und als Begriff für das hier gültige Maß:
Weisheit. Eine Scheide zwischen den niedrigeren und den höheren
Erkenntnisformen bilden die beiden Objekte: das „daß“ und das „weshalb“ (die
Ursache), eine andere Scheide liegt zwischen „nicht-lehren-können“ und
„lehren-können“; eine weitere zwischen zwei weiteren Kunst-Typen: die
notwendigen und die „diagogischen“ (selbstzweckhaften).
Der schon genannte Begriff
der Weisheit steht für die Erkenntnis der ersten Ursachen und Prinzipien. Umso
mehr dürfen wir, nein sollen wir darüber erstaunen, daß den Künsten in dieser
Aufstellung soviel Raum gelassen wird. Der griechische Begriff „Kunst“ (techne)
hat eine stärkere kognitive Schlagseite als der moderne: seine Affinität zu
Ursachen und Prinzipien beruht gerade darauf, daß er mit Hervorbringung zu tun
hat, und hervorbringen kann man nur, wenn man weiß, aus was und mit was man
etwas macht.
Trotzdem führt Aristoteles
hier seine Hierarchisierung ein, wonach die theoretischen Wissenschaften über
den poietischen (technischen) stehen: offensichtlich können sie die „ersten“
Ursachen eher erfassen. Die „ersten“ Ursachen und Prinzipien, das sind die
entferntesten, im heutigen Sinn die „letzten“, die nicht „auf der Hand liegen“
und daher auch nicht in der Macht der Handwerker, Künstler usw.
Trotzdem ist dieses
Naheverhältnis zwischen Weisheit und Kunst wichtig, weil es zeigt, daß die
theoretischen Wissenschaften von den anderen (zu denen auch die praktischen
gehören) nicht durch einen Abgrund getrennt sind.
„Ursachen“ und „Prinzipien“
– Begriffe, die uns eher fern liegen, weil sie durch die moderne
Wissenschaftsentwicklung „überholt“ worden sind. Tatsächlich umfassen sie ein
größeres Spektrum von heutigen Begriffen, etwa: Urheber, Erzeuger, Faktor,
Element, Bestandteil, Bedingung, Voraussetzung. Ohne diese Begriffe läßt sich
bestimmt auch moderne Wissenschaft nicht verstehen und andererseits fallen
unter sie auch Sachverhalte, denen wir nicht ohne weiteres wissenschaftstheoretische
Relevanz zusprechen würden.
In 982a 4 geht Aristoteles
formell dazu über, das Projekt, das er mit diesem Text verfolgt, zu erklären.
Es geht einerseits um eine „gesuchte Wissenschaft“, also eine, die es noch
nicht, jedenfalls nicht als gut etablierte, gibt (wie etwa die Physik oder die
Poetik oder die in 981b 26 erwähnte Ethik), sondern eine die erst definiert und
erarbeitet werden muß. Die aber nun doch den altehwürdigen Namen „Weisheit“
zugesprochen bekommt. Diese bereits bekannte Weisheit wird mehrfach definiert:
Wissenschaft von den schwierigen Dingen, Wissenschaft von den herrschaftlichen
Dingen, Wissenschaft von allen Dingen (in ihrer Allgemeinheit), Wissenschaft
vom Wißbarsten (Widerspruch mit der ersten Bestimmung?), Wissenschaft vom Guten
und zwar vom Guten an sich, ja vom Besten in der ganzen Natur. Diese letzte
Bestimmung scheint die gesuchte Wissenschaft von den theoretischen
Wissenschaften etwas abzurücken. Ich würde sagen, sie nähert sie den
poietischen oder praktischen an; doch Aristoteles bestätigt ihre Zugehörigkeit
zu den theoretischen. Was impliziert, daß bei Aristoteles „Theorie“ nicht total
neutral verstanden wird. In diese Richtung ging ja bereits der allererste Satz
der Metaphysik: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“
Gegen diese superlativisch
definierte Wissenschaft macht sich Aristoteles selber den Einwand, sie
übersteige die menschlichen Fähigkeiten, sie sei dermaßen „göttlich“, daß sie
von den Göttern vereitelt oder geahndet werden würde. Aristoteles zitiert diese
Version der griechischen Volksreligion, kritisiert sie jedoch quasi-platonisch,
und hält so seine Behauptung aufrecht, die gesuchte Wissenschaft bzw. die Suche
nach ihr eröffne die Möglichkeit einer Annäherung an das Göttliche. Womit er
dieser Wissenschaft eine wenn schon nicht religiöse so doch „existenzielle“
Bedeutung zuspricht – zusätzlich mit dem Hinweis auf das Erstaunen als Chance
zum Erkennen. Streben und Staunen als nicht rein theoretische Antriebe zum
Erkennen. Für das Suchen als methodische Fortsetzung und Ausarbeitung dieser
Initialerfahrungen setzt Aristoteles auch ein: aporein, diaporein: den
Weg verlieren, fragen, herumsuchen, weitersuchen, sich durcharbeiten.
Erinnern wir uns daran, wie
Aristoteles in seiner Poetik die Götter – die Götter in der Tragödie –
ziemlich bedenkenlos eliminiert hat, so fällt auf, daß er sie hier, bei der
Definition der gesuchten Wissenschaft und beim Aufrollen ihrer Vorgeschichte,
ein bißchen mehr würdigt. Und zwar, weil unter dem weiten Doppelbegriff
„Ursachen und Prinzipen“ vielleicht auch das Göttliche oder der Gott oder die
Götter subsumiert werden können – oder gar müssen. Als erste oder anders gesagt
als fernste Ursachen – nicht unbedingt als ständig sich einmischende Instanzen.
Walter Seitter
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