τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 21. November 2013

In der Metaphysik lesen (1001b 1 – 1002a 14)


Vor einigen Wochen haben wir uns die Frage gestellt, wieso Aristoteles wohl das Unvergängliche höher einschätzt als das Vergängliche. Eine historische Antwort gibt Helmut Kohlenberger, der heute unser Gast ist: dies sei ein Erbe Platons, dessen „Ideen“ als ewig angenommen werden. Die platonischen Ideen habe ich einmal zu veranschaulichen gesucht, indem ich sie als diamantene Skulpturen bezeichnet habe. Ist es erlaubt, jene Ideen, die unsichtbar sein sollen, zu veranschaulichen? Das glaube ich sehr wohl, denn immerhin hat Platon für sie das Wort idea eingesetzt und das heißt „Sicht“, „Gestalt“.
Im Heft 6/2013 der Zeitschrift Sinn und Form hat jetzt Peter Sloterdijk zwei empirische Anlässe für die platonischen „Ideen“ namhaft gemacht: erstens die Statuen, die in Athen und in anderen Städten herumstanden, hauptsächlich Männerstatuen, die, wenn sie Götter oder Helden darstellten, etwas größer waren; und zweitens, die Wörter für die verschiedenen Dinge, die in der griechischen Schrift erstmals vollständig – mit Konsonanten und Vokalen – visualisiert waren; setzen wir dafür unser deutsches Wort „Reh“ ein,  so wird es mit der alphabetischen Schrift schon durch ca. zwei Buchstaben reproduziert und auf Dauer gestellt; eine Dauer, die länger währen kann, als das Leben eines einzelnen Rehs, und vor allem länger als das Auftreten eines Rehs, das doch beinahe mehr flüchtet als verweilt.

Zur vor allem griechischen Wertschätzung des Unvergänglichen erinnere ich an das Kapitel „Vom Barock“ in Jacques Lacans Seminar XX. Encore, wo Lacan zwei Denklinien oder –arten auseinanderhält: den Klassizismus, der auf das Denken und die Seele setzt, und den Barockismus, der das Sprechen und den Körper dagegenhält. Der erste wird durch Judentum und Christentum, Heraklit und Freud repräsentiert, der zweite durch Parmenides, Aristoteles, Hegel und Behaviorimus – hier überwiegen also die Philosophen.

Beide Denkformen konzipieren die Katastrophe unterschiedlich: die eine als Apokalypse, nach der das Leben nicht mehr in gleicher Weise weitergehen kann, die andere als Tragödie, nach der es sehr wohl weitergeht. Helmut Kohlenberger, dessen Buch Prozess, Spiel. Fragmente zum 2. Jahrtausend gestern vorgestellt worden ist, hält die erste Denkweise für die heute angemessene, obwohl sie gleichzeitig „unmöglich“ ist.

Ivo Gurschler bringt den Gegensatz auf die Formel „Jerusalem versus Athen“ und erinnert an den britischen Linguisten John Marco Allegro (1923-1988), der zu den ersten Erforschern der Schriftrollen von Qumran gehörte und daraus eigenwillige Konsequenzen zog, mit denen er sich von der Wissenschaftlergemeinschaft trennte. Nach ihm sei die sumerische Kultur die gemeinsame Basis für die jüdische und die griechische gewesen, wobei der Genuß bestimmter Drogen immer schon die Voraussetzung für ekstatische Erfahrungen und Lehren gewesen sei. Die Person Jesu sei nur eine spätere Erfindung, mit der halluzinogene Pilze bezeichnet-überdeckt worden sein sollen. Anscheinend will Allegro die Denkformen, die Lacan als „barockistische“ bezeichnet, disqualifizieren.

Wir lesen weiter im Aporien-Buch der Metaphysik, wo Aristoteles eben die parmenideische Konstruktion des einen und einzig existierenden Seienden abgewiesen hatte (er ist also kein „radikaler“ Klassizist im Sinne Lacans). Ähnlich verfährt er mit dem einzig existierenden Einen – und schließt daraus, daß die Zahl nicht Wesen sein kann. Am Beginn der europäischen Neuzeit bildete denn auch der Aristotelismus eine Barriere gegen die überhandnehmende Mathematisierung der Naturwissenschaften. Dann aber läßt er sich auf die Elemente der Geometrie ein und fragt nach dem Verhältnis von geometrischer und arithemischer Quantität.

Anschließend geht Aristoteles von den geometrischen – sagen wir – Elementen zu anderen Akzidenzien (pathos, Relation, Qualität, ... ) über, spricht ihnen die Wesenheit ab, die er den Grundkörpern und den zusammengesetzten Körpern zuspricht. In schroffem Gegensatz dazu dann die Erklärung, der Körper sei weniger Wesen als die Fläche, diese weniger als die Linie, diese weniger als der Punkt und das Eine. Denn die Körper können ohne diese abstrakten Größen nicht existieren, wohl aber umgekehrt – woraus sich wieder die platonische Position ergibt. So stehen einander zwei konträre Positionen gegenüber. 

In unserer alltäglichen empirischen Realität gibt es ein Phänomen, in dem Fläche und Körper einander zu ex- und inkludieren scheinen: das Blatt, welches ein „Molekül“ des Buches ist. Andererseits bezeichnet das Wort "Phallus" die radikale Inkonsistenz des Körpers namens „Penis“. Beide paradoxen Phänomene werden in dem Buch Phallus-Collage von Suzy Kirsch (und Walter Pamminger) exhibiert.

Walter Seitter

Donnerstag, 14. November 2013

In der Metaphysik lesen (1001a 19-35)

Wenn das Wesen der Dinge im Einen und im Seienden liegt, so handelt es sich um sehr abstrakte oder formale Wesenheiten, die man eher als Prinzipien bezeichnen und der Logik zuordnen möchte. Näherhin könnte man das eine als „ontologisch“, das andere als „mathematisch“ bezeichnen. Identifiziert man die beiden miteinander unter dem Primat der Mathematik: „Die Ontologie – das ist die Mathematik“, so hat man die pythagoräische Position (in der Moderne bei Badiou, Kittler).

Die Gegenposition findet sich bei denen, die etwas „Bekannteres“ als Ursachen anführen, sei es die Freundschaft, seien es Feuer, Luft und dergleichen. Also Phänomene, die uns aus der natürlichen oder sozialen Umwelt bekannt sind. Daß solche Gegebenheiten Ursachen für andere Gegebenheiten sind, erscheint ganz banal und würde einfach in die Physik oder in die Politik gehören. Nur wenn so eine Ursache als „erste“ irgendwie für „alles“ zuständig sein sollte, wäre das eine Aussage, die in die „gesuchte Wissenschaft“ hineingehören könnte. Immerhin deutet Aristoteles an, daß mit derartigen Ursachen die Pluralisierung schon nahegelegt wird.

Umgekehrt folgt aus solchen Annahmen, daß, wenn das Eine bzw. das Seiende nicht „Wesen“, also Ursachen sind, auch andere Allgemeinheiten als Ursachen nicht in Frage kommen, zumal da sie nicht eine eigene Existenz haben. Das würde dann auch für die Zahl gelten, die ja ihrerseits das Allgemeine des Einen ist.

Nimmt man hingegen an, daß das Eine und das Seiende selber doch eigens existieren, dann sind sie mit den dazugehörigen Wesen identisch und außerdem sind sie miteinander identisch: so gibt es das Eine und nur das Eine und sonst nichts. Diesen radikalen Monismus, der sich aus bestimmten Annahmen streng logisch ergibt, hat Parmenides (520-460) vertreten, Bürgermeister in Elea in Süditalien, welche Stadt allerdings so wie viele andere Erscheinungen, jener Lehre widerspricht, weshalb Parmenides seine Lehre – scheinbar – abgeschwächt hat, indem er neben dem einen Seienden auch viele Scheinende zugelassen hat, die viele, werdende, vergängliche sind oder vielmehr scheinen.

Eleas Erscheinungsgeschichte ist außerordentlich drastisch: in der Antike eine blühende Stadt, die am Meer lag. Auf steilem Felsen über dem Meer ein großer Tempel, an seiner Stelle steht heute noch (aber in einiger Entfernung vom Meer) ein gewaltiger mittelalterlicher Turm. Auf einer Anhöhe in der Stadt wurden erst vor 50 Jahren die am besten erhaltenen Überreste der griechischen Stadt aus dem Erdreich gegraben: eine Straße und ein Tor, über dem ein Aquädukt verläuft.  Was Jahrtausende lang unsichtbar (und vergessen) war, hat überdauert. Das parmenideische „Seiende“: unsichtbar-ewig. 

Walter Seitter

 

Sonntag, 10. November 2013

In der Metaphysik lesen (1001a 1 – 24)



Wer philosophieren will, muss einen bestimmten Sprachstil wählen: soll ich möglichst nahe an der Umgangssprache bleiben, damit auch jede/r mich versteht, oder mich einer möglichst geschliffenen Fachsprache bedienen, um in Kollegenkreisen Anerkennung zu finden? Als Kompromiss kann man sich für die Essayistik entscheiden. Hier wendet man sich an ein größeres Publikum, wobei der Stil irgendwo zwischen locker und elegant sich bewegt. Diesem diametral entgegen steht die Esoterikstiloption, mit der man sich ausdrücklich nur an einige wenige Eingeweihte wenden will, an eine Minderheit mit oft apokalyptischem, avantgardistischem oder revolutionärem Anstrich: indem man sich dem „Gerede des Man“ verweigert, soll dem üblichen Lauf der Dinge Einhalt geboten oder der Mainstream wenigstens in eine etwas andere Richtung gelenkt werden. Das philosophische Denken bzw. Schreiben spielt sich irgendwo zwischen diesen Extremen ab, man muss sich entscheiden, aber nicht endgültig, da die Register immer wieder gewechselt werden können.

Aristoteles Sprachgebrauch wirkt zunächst einfach, umgangssprachlich und das Gesagte leuchtet meist auf den ersten Blick ein. Jedoch hängt das immer auch an der verwendeten Übersetzung und vergleicht man die unterschiedlichen Varianten, wird deutlich wie vielfältig ein und dasselbe ausgesagt werden kann. Ein großzügig gestalteter Assoziationsraum ist vielleicht überhaupt typisch für die Alltags- bzw. Umgangssprache: denn so können leichter gemeinsame Mengen angeschnitten werden und man bekommt den Eindruck sich zu verstehen. Das funktioniert in der Regel auch ganz gut, fragt man aber, wie das etwa Sokrates gerne gemacht hat, etwas näher nach, stößt man schon bald auf Schwierigkeiten – und mit der Zeit vielleicht sogar auf richtiggehende Aporien, in denen man sich gut verlieren kann.

Für seine Vorstellung der Aporie 11 bekräftigt Aristoteles erneut die für die Suche der gesuchten Wissenschaft typische Verklammerung des Schwierigen mit dem Wichtigen; wiedereinmal wird damit indirekt deutlich, dass der Weg des geringsten Widerstandes gerade der ist, den man nicht einschlagen sollte, wenn man hier weiterkommen möchte. Besonders ausgezeichnet eignen sich dafür offenbar Fragen nach dem „Wesen“ oder der „Wesenheit der seienden Dinge“: das Denken über ousia wird auf diese Weise unauffällig als eine Alternative zur Frage nach (ersten) Ursachen oder Prinzipien eingeführt, und als eine der größten Herausforderungen gepriesen. Dazu gehören Fragen wie: ist dieses Wesen zunächst als Eines oder als Seiendes zu bestimmen? Sind die beiden überhaupt voneinander unterscheidbar? Oder bilden sie ununterscheidbar eine Wesenheit? Kann überhaupt etwas ohne Eines zu sein sein? Etc.

Die platonisch-pythagoräische Schule sei, modern ausgedrückt, von der Koinzidenz von Existenz und Identität überzeugt. Für Empedokles und die „Naturphilosophen“ gäbe es dagegen unter dem Einen auch noch eine andere … „Natur“ (physis), da zum Beispiel die Freundschaft als „Ursache“ der Einheit gilt. Aristoteles springt (auch) hier zwischen verschiedenen Such- bzw. Superbegriffen hin und her als ob nichts dabei wäre: Ursache → Wesen → Natur → Ursache. „Das Seiende kann [eben] auf vielfache Weise ausgesagt werden“, wird Aristoteles bald feststellen (vgl. IV 1003b 7). Zu recht kann also eine typisch aristotelische Tendenz zum Polykausalen festgestellt werden, denn die Welt erscheint als eine voll mit vielen verschiedenen Ursachen(typen) und selbst die Natur ist nicht einfach so wie sie ist, sondern kann sich immer auch als anders erweisen. Zumindest bei der Frage nach den Ursachen hält Aristoteles jedoch gleichzeitig daran fest: „Je ferner desto einer.“

Ivo Gurschler

Freitag, 1. November 2013

In der Metaphysik lesen (1000b ff.)

Eingangs machen wir uns erneut klar, daß es uns bei der Übersetzungsarbeit während des Lesens nicht um wortwörtliche Übertragung geht, sondern bei „Ursache/Prinzip“ darum, die Begriffssuche aufzufüllen zur Spektrumserweiterung, etwa mit „Element“, „Bestandteil“, „Material“, „Faktor“ oder „Motiv“. Es geht insbesondere um ein umgangssprachliches Verstehen und Verständlich-machen.
Um dem Anspruch, die Metaphysik als Buch für viele Superlative zu verwenden, zu folgen, wird die Behauptung aufgeworfen, umgangssprachliches Philosophieren sei das seriöseste Philosophieren, denn der Redner wisse, was er sage und werde für die Adressaten verständlich. In einem Exkurs über „Pop-Philosophie“ werden Markus Gabriel, Peter Sloterdijk und Richard David Precht genannt und gewürdigt.
Anhand der Phrase „Liberalismus 'von unten'“ stellen wir die Wichtigkeit der Reihenfolge für die Rhetorik fest. Unsere seriös rhetorische Fragestellung lautet, welche Redensarten gutes Philosophieren ergeben.
Wir lesen 1000b, wo sich Aristoteles gegen Empedokles´ Annahme stellt, daß außer den Elementen Wasser, Feuer, Erde und Luft alles vergänglich sei, denn für Aristoteles ist auch die Formursache unvergänglich: Eichen, die Eichen waren, sind Eichen, die Eichen sein werden. Die Fortpflanzung der Eiche stellt die Eichenheit sicher. Wir stellen die Frage nach der unvergänglichen Eichenheit – Philosophieren heißt jetzt … die richtige Formulierung zu finden. „Eichenheit“ ist ein Begriff – liefert Sprache die Realität neben den Eichen? Dies wäre eine radikal konstruktivistische Annahme: die Eiche gibt es nur deswegen, weil wir das Wort Eiche kennen. Dem entgegengesetzt ist die Notwendigkeit des Wortes „Eiche“, um sie zu benennen und uns über sie verständigen zu können.
Wir fragen nun nach der Attraktion der Unvergänglichkeit, die für Aristoteles eine hochstehende, geschätzte und letztlich erwünschte Qualität zu sein scheint. Wenn alle Formursachen unvergänglich sein sollen, muß die Unvergänglichkeit selbst ein wichtiger Faktor für Aristoteles sein. Auch die Götter sind unsterblich. Unvergänglichkeit besitzt eine Stabilität von Eigenschaften und ein reproduktives Element. Zuguterletzt aber besitzt die Eichenheit als unvergängliche Formursache mehr Seiendheit, wogegen das Vergängliche zum Nicht-seienden gerät.

Gesche Heumann