In der letzten Stunde haben
wir unterschieden zwischen „Wesen“ im Sinn von Wesensform, Wesenheit und
„Wesen“ im Sinn von Lebewesen, aktiver und beinahe personaler Einheit. Im
Sprachgebrauch unterscheidet man: Wesen haben, Wesen sein. Im Protokoll wird
die Analogie zu Jacques Lacans ähnlich klingendem Sprachgebrauch hergestellt:
Phallus haben, Phallus sein. Den Phallus zu haben ist in erster Linie Sache des
Mannes, während es der gewöhnlichen Ansicht nach der Frau zukommt, den Phallus
nicht zu haben. Das sexualtheoretisch kompetente Kind weiß, daß es die Liebe
der Mutter erlangen kann, wenn es selber „Phallus sein“ könnte, was es daher zu
glauben geneigt ist. Allerdings meint Lacan mit „Phallus“ nicht nur das
positive männliche Geschlechtsorgan, sondern auch dessen Fehlen, das bei der
Frau angeblich durch Kastration zustande gekommen ist – die jedoch auch dem
Mann nicht erspart bleibt: Phallus heißt auch die vom Gesetz des Vaters
verfügte „Kastration“ und diese trifft alle positiven Phallus-Verhältnisse –
auch das imaginäre Phalllus-Sein, welches die Frau aus der Kindheit beibehält.
Dennoch „schneidet“ die Frau in diesem Hin und Her aus Phallus-Haben und
-Nichthaben und Phallus-Sein und -NichtSein letztlich „besser“ ab – mit ihrem
„Mehrgenießen“ bleibt ihr „Mehr-Phallus“. Und Lacan wird mit all seinem Phallo-
und Kastrationszentrismus zu einem insgeheimen aber aber radikalen Feministen.
Steht auch das aristotelische
Wesen – ein doppeltes Wesen – unter dem Gesetz einer analogen „Kastration“ –
also Bestreitung, Aufhebung, Vernichtung? Die Philosophiegeschichte scheint in
diese Richtung zu gehen: Nominalismus und Positivismus, Nietzsches Aggressionen
und Wittgensteins vorsichtiger Pragmatismus (wonach die Bedeutungen der Wörter
nur auf ihrem Gebrauch beruhen): sie alle bestreiten die Möglichkeit von
Wesensbehauptungen.
Dennoch sei die Frage
aufgeworfen, ob sich für die Analogisierung zwischen Wesen und Phallus auch
inhaltliche Gründe nennen lassen: haben die beiden Begriffe auch sachlich etwas
gemein? Herkömmlicherweise gilt
der Phallus als Eigentümlichkeit und insofern Wesenskern des Mannes. Nach Lacan
ist er die Eigentümlichkeit von Mann und Frau – also des Menschen. Und diese
Rolle teilt ihm sogar die Biologie zu, sofern man ihn mit den Keimzellen
assoziiert, die sich – wie wir heute wissen – auch bei der Frau finden. In
jeder Keimzelle liegt die Wesensform des Menschen (und die Keimzellen
funktionieren nur, indem sie ausgeschieden also weggenommen werden). Die
Fortpflanzung ist ein massives Phänomen, das den Wesensbegriff stützt.
Aristoteles war ja nicht umsonst hauptberuflich Zoologe.
Der gelesenen Passage
entnehmen wir nur die Auskunft, daß sich die drei Ebenen der sinnlichen Dinge,
der mathematischen Objekte und der Formursachen quantitativ so unterscheiden,
daß auf der ersten Ebene sehr viele Einheiten, auf der zweiten Ebene viel
weniger und auf der dritten Ebene noch weniger Einheiten gezählt werden.
Walter Seitter
-
Sitzung vom 4.12.2013
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen