In der letzten Stunde haben
wir die Analogisierung zwischen „Wesen“ und „Phallus“ so weit getrieben, daß
wir gefragt haben, ob auch das Wesen von so etwas wie „Kastration“ geschlagen
ist, und haben die Frage philosophiehistorisch so beantwortet, daß die
seinerzeit schon von den Sophisten betriebene Infragestellung des Wesens – und
seine Verdrängung durch Akzidenzien – seit der Neuzeit erfolgreich
vorangetrieben worden ist – so sehr, daß heute „Essenzialismus“ eigentlich nur
noch ein Schimpfwort ist. Auf der anderen Seite haben wir festgestellt, daß die
sexuelle Fortpflanzung (mit der ja der Phallus auch irgendwie zu tun hat) ohne
Selbigkeit der Wesensform (bei Mann, Frau, Kind ....) nicht zu denken ist
(wiewohl die Gentechnologie heute auch da Manipulationsmöglichkeiten in
Aussicht stellt).
Das Konzept der Wesensform
scheint also nicht einfach aufgegeben werden zu können. Dennoch hat die Tendenz
zur „Wesensauflösung“ auch etwas, was heute nicht wegzudenken ist – etwa in den
Bereichen des Kulturellen oder Politischen. Kulturen, in denen das „Wesen des
Guten“ ein für allemal festgelegt ist, flößen uns Bedenken ein. Wo man sich vom
„Wesen des Guten“ oder vom „Wesen des Menschen“ konkrete Vorstellungen macht
und diese für überzeitlich und überörtlich gültig hält (indem man etwa für das
Wesen des Menschen den „guten Wilden“ oder den WASP einsetzt), ist die Gefahr
sehr groß, eigentlich unausweichlich, daß man das „Wesen“ mit partikularen
Bestimmungen auffüllt und verwechselt, die gar nicht „wesentlich“ sind. Ein
derartiger vermeintlicher „Essenzialismus“ entspräche dem, was heute auch
„Fundamentalismus“ genannt wird. Insofern wäre die Tendenz zur Wesensauflösung
eine Chance zur Reinigung des Wesensverständnisses, zu seiner – gewissermaßen
platonischen – Rückführung aufs Allgemein-Wesentliche, das überhaupt nur
sprachlich gefaßt werden kann – und eben nicht konkret-anschaulich vorgestellt.
In unserer Lektüre der Poetik
haben wir festgestellt, daß Aristoteles selber – bei der
Gegenstandsbestimmung für die tragödische Mimesis – das Wesen „Mensch“ glatt
ersetzt durch die praxis, die ihrerseits eine Verkettung von pragmata
ist. Also das Wesen (lateinisch die Substanz) durch Akzidenzien – wofür ich
den Ausdruck „Akzidenzialismus“ geprägt habe.[1]
In unserer Textpassage zeigt
Aristoteles mit einem Satz, daß er die Wesensauflösung aus einer abstrakten
ontologischen Hypothese aus phantastisch- und drastisch-zoologisch
schlußfolgern kann: „Wenn das allgemeine Prädikat ein individuelles Ding wäre,
dann würde Sokrates viele (Lebe)Wesen sein: er wäre er und der Mensch und das
Lebewesen (Tier).“ (1003a 12). Also ein multiples Monster. Im Wenn-Satz aber
streift er die oben erwähnte Identifizierung von Allgemeinem und Einzelnem, mit
der die Verkennung des Allgemeinen einsetzt.
Nächste Sitzung am Mittwoch,
dem 8. Jänner 2014
Walter Seitter
-
Sitzung vom 11. Dez. 2013
[1] Siehe Walter
Seitter: Poetik lesen (Berlin 2010):
100ff. Für die Ontologie des Politischen habe ich das Problematische des
„Willens zum Wesen“ sowie den Vorrang der Akzidenzien schon 1981 ins Auge
gefaßt – siehe Walter Seitter: Menschenfassungen.
Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft. Mit einem Vorwort des Autors zur
Neuausgabe 2012 und einem Essay von Friedrich Balke: Tychonta, Zustöße. Walter
Seitters surrealistische Entgründung der Politik und ihrer Wissenschaft
(Weilerswist 2012): 169ff., 281ff.
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