Mittwoch, 3. Juli, Flug
nach Stuttgart. Später Vormittag im Grand Café Planie, im Alten Waisenhaus (18.
Jahrhundert) an einer breiten Straße, die den stuttgartisch-französischen Namen
„Planie“ trägt. Im Inneren eine Kopie des Großstadt-Triptychons von Otto
Dix (1928).
Am Abend im Literaturhaus
Vorstellung von Francis Ponge Der Tisch (Klagenfurt 2011) unter dem
Titel „Francis Ponge und die Dinge“. Lesung aus dem Buch, Diskussion mit
Jean-Pierre Dubost und Joachim Kalka. Ponges Dichtung gewinnt ihr Profil
daraus, daß er ihr Erkenntnisleistungen abverlangt, die in die Richtung der
Naturwissenschaften gehen. Das Ergebnis ist eine Poetische Physik, die
Verwandtschaften mit der Philosophischen Physik aufweist. Mit seiner Nähe zur
Prosa verzichtet Ponge auf den Gestus des genialen Dichters und bewegt sich
ausdrücklich in der Rhetorik als der Lehre vom Sich-Ausdrücken, womit er den
jungen Leuten Mut machen will, ihre eigene Rhetorik zu finden, das heißt eine
Tätigkeit, die sie vielleicht „retten“ könnte: vor dem Selbstmord, vor der
Arbeitslosigkeit (die meines Erachtens geradezu gefördert wird durch das
Bemühen der österreichischen Nachrichtensprecher, das Wort „job“ geradezu
attraktiv zu machen, indem man es gekonnt (sei es britisch, sei es
amerikanisch) auszusprechen. Jungen Leute, denen nichts anderes einfällt, als
auf einen „job“ zu warten, zu hoffen, ist wohl kaum mehr zu helfen. Francis
Ponge hat diese Probleme bereits im Jahr 1930 artikuliert – eben weil er kein
genialer Dichter war (Cézanne war kein genialer Maler)).
Donnerstag, 4. Juli. Fahrt
nach Marbach. Kleine malerische Stadt am Steilhang, mit Schillers Geburtshaus.
Und darüber die Schillerhöhe: seit dem 19. Jahrhundert Schiller-Nationalmuseum,
seit einigen Jahrzehnten Deutsches Literaturarchiv, seit einigen Jahren Deutsches
Literaturmuseum. Darin derzeit eine Zettelkasten-Ausstellung, in der einige
„Zettelkasten-Imperien“ von Dichtern wie auch von Wissenschaftlern
andeutungsweise gezeigt werden. Eine handwerkliche Technik, die aus dem
Bibliotheksbetrieb, vielleicht aus dem Büro überhaupt, stammt und seit dem 19.
Jahrhundert von Schriftstellern aller Art auf je persönliche Weise und
offensichtlich erfolgreich kultiviert wurde.
Tagung „Carl Schmitt und
die Literatur seiner Zeit“. Helmut Lethen spricht über „Carl Schmitts
Tagebücher als Quelle der Werkdeutung“. Referiert und zitiert aus Tagebüchern
der Zehner-, Zwanziger-, Dreißigerjahre, in denen Carl Schmitt tagtäglich,
rückhaltlos die Hektik seines Lebens, mehr des „privaten“ als des beruflichen,
mit allen Eskapaden, Erschütterungen, sei es erotischer, sei es religiöser Art,
in gedrängten Sätzen, Halbsätzen, in Gabelsberger Kurzschrift, festhält. Zu den
Fakten gehören auch Stimmungen bzw. Reflexionen darüber, etwa: „Es ist eine
objektlose Sehnsucht deren Grund Objektlosigkeit ist.“ Lethen dazu: er habe
einen jungen Wiener Lacanianer gefragt, ob das ein Satz sei, der zu Lacan
passe. Antwort: ja. Lethen fragt sich, ob es sich bei diesem Carl Schmitt nur
um das Syndrom der „Nervosität“ handle, die damals in Mode war. Er meint: nein.
Und skizziert andere Erklärungsmodelle. Darunter auch dasjenige, das er meinen Menschenfassungen
entnimmt, aus denen er einige Sätze herbeizitiert (173ff.): essenzieller
Akzidenzialismus, zu dessen Konstruktion mich seinerzeit auch die Lacan-Lektüre
angeregt hat. In der Diskussion weise ich darauf hin, daß ich 1981 diese
Schrift Carl Schmitt zugeschickt habe, der mir drei Tage später antwortete,
auch mit dem Satz „leider kenne ich Lacan noch nicht ...“; diesen Satz
bezeichne ich als meinen Beitrag zur deutschsprachigen Lacan-Rezeption.
Am Abend sagt mir Martin
Mosebach, er habe für das Motto in der Todesanzeige Henning Ritter die Sätze
aus dessen Notizheften ausgewählt, in denen dieser vorsichtig aber doch als
Gläubiger spricht.
Freitag, 4. Juli. In der
Nacht auf der Schillerhöhe in einigen schlaflosen Viertelstunden Gedanken zum
Komplex Kosmogonie-Kosmologie-Theologie: diesen Komplex umgreift und gliedert
das Gesamtspektrum zwischen extremer Entropie und extremer Neg-Entropie.
Marbach weist noch ein
drittes „Zentrum“ auf: unterhalb der Altstadt, außerhalb der Stadtmauer, in
einer Talenge, steht eine große spätgotische Kirche; außen ist sie nur groß,
innen ein sehr schönes, auch farbiges, Netzgewölbe. Im späten 15. Jahrhundert erbaut
hält sie an der frühmittelalterlichen Lage der Stadt fest. Alexanderkirche.
Walter Seitter