τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 11. Dezember 2014

"Was ist Substanz?"


Mit dem sehr weiten aristotelischen Ursachen-Begriff (der vor allem auch immanente Bestandteile usw. umfasst und der sich dank dem generischen Begriff der arche noch weiter ausdehnen lässt) kann man sagen, dass alle „Sachen“ (sowohl Dinge wie auch Akzidenzien und andere Seinsmodalitäten) als „Ursachen“ vorkommen und wirken können.
Einen – allerdings zentralen – Ausschnitt aus dieser Thematik behandelt Donald Morrison in „Substance as Cause: Metaphysics Z 17“, in Chr. Rapp (Hg.): Aristoteles Metaphysik Substanzbücher (Z, H, Θ (Berlin 1996): 193-207.
Der Aufsatz bezieht sich auf Buch VII der Metaphysik, speziell Kap. 17. Dessen Fragen lauten „Was ist Substanz?“ und „Wie beschaffen ist Substanz?“ – Substanz als Übersetzung für ousia. Doppelte Antwort: „Substanz ist Form“,  „Substanz ist ein Prinzip des Seienden.“ Zusammenfassend  gesagt heißt hier Substanz die Formursache des Seienden, wobei sich Aristoteles auf die materiellen Dinge bezieht, die auch aus einer Materialursache bzw. aus Elementen bestehen, die erhalten bleiben, wenn das Seiende aufhört zu bestehen.
Die Formursache ist die Wesenheit, die etwas hat, und die verteilt Aristoteles sehr großzügig: so hat er bei der Definition der Trägödie von deren ousia  gesprochen und den mathematischen Gebilden würde er sie selbstverständlich zusprechen – oder den musikalischen Erscheinungen mathematische Formursachen. Formursache oder Wesenheit.
Der andere ousia-Begriff meint die selbständig existierenden Wesen: Wesen, das man ist. Und diesen Rang spricht Aristoteles den mathematischen Gebilden ab. Im Grunde genommen spricht er ihn pauschal einer einzigen Gattung zu – nämlich der Gattung, von der der logische Begriff „Gattung“ entlehnt ist: den Lebewesen. Wer zu dieser Gattung gehört, hat ganz natürlich ein Anrecht auf den ontologischen Ehrentitel ousia. Insofern der Mensch dazugehört, ist er ein „Wesen“, eine „Substanz“. Daher ist die einfachste Antwort auf die Frage, was oder wer denn eine aristotelische Substanz sei, diese: „Ich!“. Allerdings nur wenn ich mich in die Gleichartigkeit der Spezies „Mensch“ einreihe und ebenso selbstverständlich in die große Gattungsmenge „Lebewesen, Tiere ....“. In diesem Sinn ist Aristoteles Darwinist. Und mit der Zugehörigkeit aller Leute zur Menschenspezies bejaht Aristoteles auch den Essenzialismus, der eine theoretische Voraussetzung für „Menschenrechte“ bildet (auch wenn er es da an politischer Folgerichtigkeit hat fehlen lassen).
Die Frage, ob es Substanzen auch jenseits der animalischen Gattung gibt, hat Aristoteles sicherlich im allgemeinen bejaht, doch in den Details hat er geschwankt.

Sind nur natürliche Dinge Substanzen? Ja: Met.VIII 1043a 4-5, 1043b 21-22). Nein, auch Artefakte können Substanzen sein: Met. XII 1070a 5. Im Hinblick auf die Tragödie haben wir die Frage genauer behandelt und sind zu einem positiven, aber nicht sicheren Ergebnis gelangt. Ein ähnliches Ergebnis würde sich wohl für ein „Musikstück“ erzielen lassen – aber nicht für ein bloßes Klangphänomen. 
Zweite Fragerichtung: sind nur lebende Dinge Substanzen (Met. VIII, 1043a, 1043b) oder auch Feuer, Erde, Erz, Fleisch (Met. VII)? Für diese Version spricht, dass nur sie vermeidet, dass es in der Welt Eigenschaften gibt, die frei flottieren und an keiner Substanz hängen. Wenn man die Erde als Lebewesen betrachtet, könnte man die anorganischen Eigenschaften diesem Großen Wesen zurechnen. Doch ob diese Ansicht Aristoteles – und damit dem wissenschaftlich eingestellten Denken (!) – zuzutrauen ist - ?
Halten wir uns an die aristotelische Kernthese, dass nämlich mit Sicherheit Lebewesen – und je höhere umso sicherer – „Wesen“ im ontologischen Sinn sind, dann müssen wir die aristotelische, d. h. griechisch-philosophische Sturheit, die ständig „das Seiende“ zum Objekt macht, relativieren und „nach oben“ entweder zum „Subjekt“ öffnen bzw. in Richtung der beiden animalischen Geschlechter und zum Fragepronomen „wer?“.
Die östliche Ikonenmalerei transformiert das parmenideisch-aristotelische to on in das o on, das sie in den Christus-Nimbus schreibt: der Seiende. 





In anderen Theo- oder Angelo- oder Anthropographien ist eben gegebenenfalls
η  ουσα

anzuschreiben. Das würde der aristotelischen Flexibilität „des Seienden“ entsprechen. Vor aller Ontologie geht es um Ontographie und die muss richtig, genau und womöglich schön sein. 





Walter Seitter



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Sitzung vom 10. Dezember 2014 

Sonntag, 7. Dezember 2014

In der Metaphysik lesen (1013b 17 – 1014a 7)

Nach den Einzelbeispielen für die Bedeutungen bzw. Verwendungen von „Ursache“ hat Aristoles ausdrücklich gesagt, dass dieser Begriff „vielfach ausgesagt“ wird. Insofern wird er mit dem Begriff des Seienden parallelisiert, was ja nicht sehr verwunderlich ist, denn „Ursachen“ sind nun einmal „Sachen“, denen eine besondere Kraft innewohnt: nämlich andere Sachen hervorzubringen oder zu ermöglichen. Die Ursachen sind eine Teilmenge der archai und ihre Ursächlichkeit lässt sich im Großen und Ganzen als physikalische verstehen, trotzdem umfassen sie mehr als dieser Begriff in unserer Sprache meint.

Die verschiedenen Ursächlichkeiten werden zunächst in vier „offensichtlichste“ Weisen unterschieden: Materialursachen (nicht nur Materialien, sondern auch auch Teile und Voraussetzungen), Formursachen (genannt das ti en einai oder die Art, aber auch das Ganze und die Zusammensetzung (zwei neue Bezeichnungen, die zu den früher aufgezählten dazukommen)), dann die Wirkursachen als Ursprung für Veränderung oder Zustand und schließlich das Weswegen, auch Gutes oder Bestes genannt. Dieser vierte Ursachentyp, der sich von unserem Gebrauch des Begriffs sehr weit entfernt, zeigt auch, dass die aristotelische Unterscheidung zwischen theoretischen Wissenschaften einerseits , poietischen oder praktischen Wissenschaften andererseits, doch nicht so strikt ist. Darüber hinaus unterscheiden sich die Ursachen (selbst die einer selben Weise zugehörigen) in logischer Hinsicht, wie eben die entsprechenden Sachen. Der Bildhauer Polykleitos als Ursache (wir würden eher sagen: Urheber) der von ihm hergestellten Statuen lässt sich „logisch“ aufteilen: er ist Gattung: Lebewesen; Art: Mensch; Individuum: Polykleitos. Und einige von denen können als „akzidenziell“ in bezug auf andere angesehen werden. Die logische Zersplitterung des Künstlers mag uns als Spielerei erscheinen; man kann sie aber auch als kunstwissenschaftliche Fragestellung auffassen: biographische oder psychologische oder soziologische oder rassische oder evolutionäre Betrachtung.
Für uns – wohl auch für Aristoteles – gehört Polykleitos (480-415) der Kunstgeschichte an, ist also möglicher Gegenstand einer historischen Betrachtung. Daher noch einmal die Frage, ob Aristoteles die Dimension der historischen Kausalität, die noch stärker vom Begriff arche – mit der Hauptbedeutung „Anfang“ – nahegelegt wird, tatsächlich vernachlässigt und wenn ja wieso. In der Poetik hat Aristoteles die Geschichtsschreibung erwähnt – allerdings mit einer Minderbewertung gegenüber der Dichtung, weil diese „philosophischer“ sei. Das ändert aber nichts daran, dass die Geschichtsschreibung in bezug auf ihre Gegenstände eine enge Kollegin der Dichtung ist. In dieser sollen die Ereignisse wahrscheinlich-notwendig aus den Ereignissen, nämlich den früheren, hervorgehen. Damit werden die jeweils früheren als Ursachen für die späteren postuliert – auch wenn der Begriff „Ursache“ gar nicht gebraucht wird. Handlungselemente sind grundsätzlich „Ursachen“ für Handlungselemente, pragmata für pragmata. Aristoteles hat das mit dem wahrscheinlich-notwendigen Hervorgehen, mit dem Hervorgehen der „Lösung“ aus der „Knüpfung“ ausgedrückt. Eine Art Automatik, die mit der Sukzession und Akkumulation der Ereignisse gegeben ist. Ursächlichkeitsfaktoren, die Aristoteles hier unter arche nennt und die in den Tragödien eine Rolle spielen sind: Eltern, Herrscher, Überlegungen, Entscheidungen. Unter den Entscheidungen spielen in der Tragödie solche eine Rolle, die „Fehler“ genannt worden sind.
Die historische Kausalität ist von Aristoteles in der Poetik abgehandelt worden. Dort hat er der Geschichtsschreibung vorgehalten, sie berichte vom Ablauf der Ereignisse, ohne eine stringente Ursächlichkeit aufzuzeigen. Heißt das, dass die reale Geschichte nur mit lückenhafter, mit akzidenzieller Ursächlichkeit abläuft? Während die Dichtung eine historische Ursächlichkeit künstlich herstellt, verdichtet?
Hier, in den Betrachtungen über die Ursachen, spielen die ethisch-politisch-historischen Ursachen doch eine geringere Rolle als die physischen. Stimmt das? Verweisen nicht auch die Zweckursachen auf die anthropische Kausalität? Wird nicht mit der Zersplitterung des Bildhauers Polyklet eine spezifisch menschliche Kausalität angedeutet – welche die animalische nicht ausschließt?

Walter Seitter


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Sitzung vom 3. Dezember 2014 

Freitag, 14. November 2014

In der Metaphysik lesen (1013a 23 – 1013b 16)

Unter dem Stichwort arche hat Aristoteles unterschieden zwischen dem pragmatischen Anfang des Lernens oder Erkennens und dem sachlogischen. Fragen wir uns nun, wie er selber in diesem Buch in bezug auf die gesuchte Wissenschaft vorgeht, so stellen wir fest, dass die pragmatischen Zugänge überwiegen (eben weil die „gesuchte“ Wissenschaft ihren Status als gesuchte Wissenschaft beibehält) und die sachlogischen nur angedeutet, höchstens im 4. Buch etwas ausgeführt werden – aber da gar nicht hinsichtlich der „Metaphysik“ im engeren Sinn, sondern hinsichtlich der Ontologie sowie der logischen Gebote und Verbote (die jedoch wieder mehr ins Pragmatische hineinreichen).
Die pragmatischen Anfänge des Lernens verteilen sich selber wiederum auf ein größeres Spektrum. In seiner Reflexion darauf beschränkt sich Aristoteles auf die „ontogenetischen“ oder individuellen. Aber im 1. Buch hat er ausführlich individuelle Anfänge der gesuchten Wissenschaft unter dem Gesichtspunkt gesammelt und beurteilt, dass sie Beiträge zur „phylogenetischen“ Entwicklung dieser Wissenschaft waren oder sein sollten, und damit hat er die Ebene betreten, die wir die historische oder historiographische nennen: faktische Anfänge oder Ursprünge von etwas, was es jetzt gibt.

In der Poetik hat Aristoteles die Suche nach den Anfängen und nach der Entwicklung der Tragödie recht konzis formuliert (und ist dabei nicht nur auf frühere Zeiten, sondern auch auch auf verschiedene geographische Gegenden eingegangen (zwischen denen in Griechenland auf allen Gebieten darum gestritten worden ist, welche die „erste“ ist)).
Je mehr sich die Historiographie für frühe oder „erste“ Anfänge interessiert, umso mehr legt sie sich – seit dem 19. Jahrhundert – den Ehrentitel „Archäologie“ zu, welches Wort natürlich von arche kommt. Aber Aristoteles hat in seinem Eintrag zur arche diese historische Bedeutung ignoriert (ansatzweise kommt er mit Vater und Mutter, also mit der Genealogie, in ihre Nähe). Und dies, obwohl er die arche in eine Vielzahl von Bedeutungen zergliedert.
Was ist von dieser Zurückhaltung in Richtung Historie zu halten? Unsere moderne Kultur neigt eher zum Gegenteil und erhebt einschlägige Disziplinbezeichnungen in den Rang von philosophischen Methoden. Nietzsche die Genealogie. Foucault die Archäologie. Wobei Foucault seine metaphorische Verwendung von „Archäologie“ mit einer „falschen“ Etymologie begründet: er leitet seine Archäologie vom „Archiv“ ab, nennt sie aber nicht „Archivologie“.


Der Eintrag zum Stichwort Ursache (aition) erinnert im Duktus, mit der Aufzählung von sehr heterogenen Beispielen, zum Teil sogar mit selben Beispielen, an den Eintrag zur arche. Auch hier fällt auf, dass das Bedeutungsspektrum des griechischen Wortes weit über dasjenige des deutschen Wortes hinausreicht: unter anderem deswegen, weil es auch immanente Teile, Bestandteile meint. Nicht nur die „Materialursachen“, sondern auch die „Formursachen“, für die hier gleich drei oder vier fast synonyme Ausdrücke genannt werden. Und als Beispiel die Ursache „zwei zu eins“ für die Sache „Oktave“. Also eine mathematische Ursache für eine musikalische Sache. Und der Bereich der Medizin wird damit erläutert, dass vier verschiedene „Ursachen“ für die Gesundheit genannt werden. Hier wie auch in der Musik hat die Angabe der Ursachen sowohl theoretische Bedeutung (Physik) als auch technisch-poietische (Kunstfertigkeit).
Sodann die Einschärfung von der Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Ursache“. Was uns fremdartig und chaotisch vorkommt, das liegt zwar zum einen an den sprachlichen Unterschieden, zum anderen ist es Aristoteles selber aufgefallen, und er tut es weder beschönigen oder abmildern. Vielmehr erklärt er es zu einer Wesenseigenschaft dieses Begriffs. Die Semantik des Begriffs ist „wesentlich“ chaotisch und er gerät damit in die Nähe der Chaotik, die Aristoteles im 4. Buch den Vorsokratikern und Sophisten zum Vorwurf gemacht hat und eigentlich abwehren wollte. Hier wehrt er sie nicht ab, indem er sie verbietet oder negiert. Er stellt sie klar, indem er sie erläutert, bespricht, ausführt – und sogar mit seinem Hauptbegriff des „Seienden“ parallelisiert, mit dem es ebenso chaotisch bestellt ist: analogia entis.

Walter Seitter


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Sitzung vom 12. November 2014 

Sonntag, 9. November 2014

Buch V, archai-Bestimmungen


Philosophische Wörterbücher bilden ein wichtiges, wenngleich nicht übermäßig prominentes Genre innerhalb der philosophischen Literatur: mehr nützlich als „wichtig“.

Es lassen sich da sehr unterschiedliche Sorten unterscheiden. Es gibt die „allgemeinen“ philosophischen Wörterbücher und da tauchen in letzter Zeit solche auf, welche die faktische Polyglottie (und Globalität) der Philosophie nicht nur implizit zur  Kennntnis nehmen bzw. akzeptieren, sondern sogar als Problem thematisieren.

Zwei solche sind Pierre Legendre (Hg.): Tour du monde des concepts (Paris 2013); B. Cassin, E. Apter, J. Lezra, M. Wood (Hg.): Dictionary of Untranslatables. A Philosophical Lexicon (Princeton 2014).
Speziellere Wörterbücher beziehen sich auf einen einzigen Autor: solche gibt es etwa zu Heidegger, zu Foucault usw.

Noch spezieller sind Wörterbücher, die nur ein einziges Werk aufschließen. Ich nenne „Hermes“ die Personen, die ein philosophisches Wörterbuch über ein philosophisches Buch machen: analytische Hermeneutik. Und Aristoteles macht so etwas innerhalb des Buches, auf das sich das Wörterbuch bezieht, in dessen V. Buch: er ist sein eigener und immanenter Hermes. In diesem Fall wird das Begriffsregister, das in Sachbüchern häufig an den Schluß gestellt wird, zu einem richtigen Text ausgeweitet und mitten ins Buch gestellt – hier eben als 5. „Buch“ (innerhalb von 14 Büchern).
Er beginnt mit dem Begriff arche – wahrscheinlich nicht, weil er gemäß der alphabetischen Reihenfolge der erste ist (er wäre das nicht, wenn aletheia (Wahrheit) auch vorkäme, was aber nicht der Fall ist). Sondern eher, weil er ein für die „Metaphysik“ sehr passender Leitbegriff ist – und spezifischer als der Begriff aition (Ursache) (dieser wäre der erste Begriff in der alphabetischen Folge, tatsächlich kommt er als zweiter). Und semantisch steht gerade er der Bedeutung „erstes“ nahe. Die Metaphysik ließe sich vielleicht als Wissenschaft vom Ersten oder von den Ersten definieren. 
Die Art und Weise, in der dieser Begriff eingeführt, das heißt erläutert, exemplifiziert, analysiert wird, läßt allerdings zunächst gar nicht an Metaphysik denken, eher schon an Physik und auch da bezeichnenderweise nicht an sogenannte wissenschaftliche Physik, sondern an deskriptive, phänomenologische, durchaus immanente Nennung von Teilen von Sachen, auch von recht banalen Sachen. Ausdrücklich werden zuerst immanente Teile, Bestandteile, Elemente genannt. Dann geht er über zu archai, die transmanent wirken und unserem Begriff „Ursache“ näherkommen. Was der Autor selber später bestätigt, indem er die Ursachen zu einer Teilmenge (oder Subspezies) der archai erklärt.

Nach den ersten höchst unterschiedlichen – vom Physischen zum Politischen und Logischen reichenden – Arten von archai-Bestimmungen und -Beispielen nimmt Aristoteles einen zweiten Anlauf, indem er nur mehr mit Allgemeinbegriffen verschiedene Sorten von archai nennt. Und wiederum spannt er das Spektrum weit auseinander, indem er psychische Leistungen ebenso nennt wie Qualitäten, die geeignet sind, zu motivieren und auf diese Weise „erste zu sein“, d. h. zu bewegen, zu „herrschen“. Es ist offensichtlich, dass die genannten archai über die Physik hinausreichen. Weniger klar ist, dass sie ausgerechnet das Gebiet der „Metaphysik“ definieren. Vielmehr reichen sie in die Logik, in die Psychologie, die Ästhetik und Ethik und Politik hinein.
Die Ästhetik berührt Aristoteles mit der arche „Schönes“. Aber ein Wörterbuch für die Ästhetik hat er damit nicht zu machen beansprucht. Wenn im 20. und 21. Jahrhundert ein siebenbändiges Wörterbuch Ästhetischer Grundbegriffe kein Stichwort „Farbe“ aufweist, dann zeigt es allerdings, dass es von Ästhetik sehr wenig weiß (wahrscheinlich ist es zu wenig „aristotelisch“, oder „positivistisch“ oder „österreichisch“).

Walter Seitter


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Sitzung vom 5. November 2014 

Samstag, 1. November 2014

Aristoteles-Lektüren


Unsere Lektüre der Metaphysik – sie steht jetzt schon im vierten Jahr – hat m. E. bereits ein beachtliches Resultat, besser gesagt: Zwischenresultat, erbracht. Nämlich daß wir die beiden postaristotelischen Begriffe „Metaphysik“ und „Ontologie“ als Disziplinbezeichnungen übernehmen und unterscheiden und auf Aristoteles zurückbeziehen, also gewissermaßen „rearistotelesieren“, und zwar sie zuvörderst auf das Buch Metaphysik zurückbeziehen (obwohl wir bisher nur Buch I bis IV gelesen haben). „Metaphysik“ nennen wir die Suche nach den „ersten Prinzipien und Ursachen“, sofern sie über die physische Realität hinausgehen: eine Suche, die in den ersten Büchern mehrmals angekündigt wird und die in den letzten Büchern ausgeführt werden wird. „Ontologie“ hingegen das immanentistische Insistieren auf den Bestimmungen des Seienden als solchen, also aller Seienden: eine Richtung, die im Buch IV programmatisch angekündigt wird, allerdings nicht sehr ausführlich abgehandelt wird. Da sie als Fortsetzung der Kategorienlehre angesehen werden kann, können wir uns von ihr doch eine bestimmte Vorstellung machen.

Wenn wir in Betracht ziehen, daß Aristoteles der Mathematik zwar einen Platz unter den theoretischen Wissenschaften zuweist, ihre theoretische Bedeutung jedoch nicht hoch einschätzt (im Unterschied zu Platon), können wir die theoretischen Wissenschaften aristotelisch so gliedern:

Physik (Zweite Philosophie)

Ontologie (Erste Philosophie)

Metaphysik (Erste Philosophie)


Wobei hinzugefügt werden muß, dass in die Physik auch andere aristotelische Bücher hineinreichen: insbesondere die zoologischen, biologischen wie De anima und ebenso die kosmologischen.
Die Disziplinen Physik und Metaphysik sind jeweils zwei großen Bereichen der Realität – dem hiesig-irdischen und dem anderswo-anderswie gelegenen – zugeordnet, während die Ontologie durchgehend-gemeinsamen Bestimmungen von Realität überhaupt nachforscht.

Unsere Lektüre des Buches Metaphysik hat bisher weitgehend auf Sekundärliteratur verzichtet – und das hat gar nicht geschadet, weil man so leichter ein eigenes Sehen entwickelt. Aber diese Abstinenz muß nicht unbedingt beibehalten werden – es kommt ja nicht nur auf Eigentlichkeit an, sondern mehr noch auf Fülle und Genauigkeit des Sehens.
Daher weise ich jetzt auf zwei Einführungen in Aristoteles hin, die als Taschenbücher erschienen sind:

Thomas Buchheim: Aristoteles (Freiburg 1999)
Buchheim eröffnet mit einer ausführlichen Darlegung der Logik, vor allem der Syllogismus-Lehre und betont dann, dass die Kategorienlehre von der Logik in die Ontologie kippt. Die Metaphysik behandelt er dann sehr zögerlich, ja zweifelnd – weil er den Begriff „Ontologie“ nicht mehr einsetzt, der es ihm gestatten würde, innerhalb der Metaphysik zu unterscheiden. Sehr erhellend dann, wie er die Physik als das Hauptstück der aristotelischen Theorie behandelt – mit der physis als Grundbegriff. Auch Ethik, Politik, Rhetorik und Poetik werden gut verständlich gemacht.

Wolfgang Detel: Aristoteles (Leipzig 2005)
Detel liefert eine noch detailliertere Einführung in die Syllogistik und dann eine Gliederung der theoretischen Wissenschaften, die der meinigen nahekommt: Physik, Theologie, Biologie. Unter „Metaphysik“ behandelt er die Konstitution der Substanzen (die so gut wie alle hiesig-irdische sind). Aufschlußreich seine Ausführungen zu Ethik und Politik sowie zu neoaristotelischen Strömungen, wo er mit Popper, Kripke, Putnam auch an die Analytische Philosophie rührt (dazu meine Bemerkung, dass Aristoteles selber eher ein analytischer Typ denn ein kontinentaler ist).

Dieses Stichwort führt mich in die Richtung der „indirekten“ Sekundärliteratur zu Aristoteles, von der es eine Menge hervorragender und berühmter Bücher gibt – etwa von Hannah Arendt. Ich möchte aber noch einmal auf die gegenwärtigen Vertreter der Analytischen Philosophie hinweisen, welche die Ontologie häufig noch deutlicher thematisieren als die Aristoteles-Forscher: so Barry Smith, Christian Kanzian, Uwe Meixner (übrigens gehörte mit Gustav Bergmann (1906-1987) ein Mitglied des Wiener Kreises zu den Initiatoren der neueren Ontologie, vor allem durch seinen Schüler Reinhardt Grossmann (1931-2010)).
Die französische Zeitschrift Le Magazine Littéraire stellt in ihrer neuesten Ausgabe einige französische Aristoteles-Editionen und -Forscher vor (Frankreich war in dieser Hinsicht bisher nicht übermäßig aktiv). Pierre Pellegrin spricht davon, daß die angelsächsichen Kollegen mit ihrem biological turn einen neuen Zugang zum Werk Aristoteles’ eröffnet hätten. Er selber: „Aristoteles ist grundlegend ein Biologe, er denkt als Biologe.“ Und sozusagen korrigierend dagegen: Aristoteles vertritt keine Einheitswissenschaft, sondern „unterschiedliche Rationalitäten“. Also ein „Anti-Reduktionist“.[1] Francis Wolff bezieht sich auf den von uns gelesenen Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch und betont, daß A sehr wohl B widersprechen könne, dabei aber sich selber nicht widersprechen solle bzw. dürfe.[2] Sehr interessant Florence Dupont, deren anti-aristotelisches Buch (gegen die Poetik) wir seinerzeit beachtet haben: Aristoteles habe die griechische Tragödie zwar gekannt, sich aber entschlossen, unter diesem Titel etwas ganz Anderes zu beschreiben, ja vorzuschreiben: eine zu lesende Story.[3]
Zuletzt verweise ich auf den Fernsehfilm Alexander der Große – wie er wurde, was er war (2010), von Martin Carazo Mendez, in dem Aristoteles’ Rolle als Lehrer des jungen Prinzen recht gut dargestellt wird:  eindringlich, diskutierend, ernsthaft, nicht übermäßig schulmeisterlich.


Walter Seitter
 


[1] Siehe Le Magazine Littéraire 549 (Paris 2014): Aristote, toujous d’attaque: 19f.
[2] Siehe op. cit.: 20.
[3] Siehe op. cit.: 23f. 

Donnerstag, 23. Oktober 2014

In der Metaphysik lesen (1012b 34 – 1013b 24)

Das Buch V setzt wieder (wie die vorausgehenden Bücher) neu an und stellt sich als „Lexikon von Definitionen“ dar. Es werden 30 Begriffe der Metaphysik (auch der Physik, der Logik) definiert.

Der erste dieser Begriffe lautet im Griechischen arche, zumeist als „Prinzip“ übersetzt, welche Übersetzung jedoch, wie man gleich sieht, keineswegs immer geeignet ist, denn die arche wird recht vielfältig verwendet („ausgesagt“), die Grundbedeutung ist so etwas wie das „Erste“. Die ersten drei Bedeutungen sind immanent: Teile der Sache, deren Prinzipien sie sind. Also der Anfang eines Weges – mit der Implikation, dass so ein Weg auch einen anderen Anfang hat; Anfang eines Lernprozesses, der mit dem Prinzip der zu lernenden Sache zusammenfallen kann – oder auch nicht: dann handelt es sich um einen Anfang für uns; grundlegender Teil eines Bauwerks oder Hauptorgan eines Lebewesens; oder aber nicht-immanente Ursachen wie Eltern oder Streitigkeiten als Anfänge von Kriegen oder Entscheidungen oder Entscheidungsträger (Herrschende); Künste und vor allem leitende Künste als Ursachen von Werken; das Erkennbarste einer Sache (wiederum ein eher immanentes Prinzip) oder Voraussetzungen von Beweisen. Also eine recht gemischte Gesellschaft versammelt sich unter dem Begriff arche – der übrigens auch alle Ursachen umfasst (bei denen gibt es ebenfalls immanente sowie transzendente). Als etwas abstraktere archai werden genannt: Natur, Element, Überlegung, Entscheidung, Wesenheit und Worumwillen, das Gute, das Schöne.

Schon die folgenden Definitionen beziehen sich explizit auf einige hier genannte archai. Diese Definitionensammlung scheint also nicht in jeder Hinsicht „logisch“ aufgebaut zu sein. Wohl aber dürfte sie den tatsächlichen Gebrauch der Wörter wiedergeben, welcher der Umgangssprache entstammt und die Umgangssprache nicht einfach überwindet oder ersetzt, sondern sie weiterentwickelt. Allerdings darf gefordert werden, dass der jeweilige Gebrauch eines Begriffs expliziert und unterschieden werden können muß. Unklarheit ist nicht das „Ideal“ antiken Philosophierens – schon gar nicht des aristotelischen. Aber wie sich die Philosophen zwischen Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit verhalten, sieht man erst, wenn man genau hinschaut.

Walter Seitter

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Sitzung vom 15. Oktober 2014 

Freitag, 17. Oktober 2014

In der Metaphysik lesen (1011a 2 – 1012b 31)

Während in den ersten Büchern, vor allem in Buch I, die „gesuchte Wissenschaft“ dahingehend anvisiert wird, dass sie die ersten, also die höchsten, in unserem Sinn die entferntesten Ursachen und Prinzipien der Dinge, also der Seienden, und zwar aller, aufsuchen und bestimmen soll, vollzieht das Buch IV ab 1003a 32 eine Kehrtwendung in Richtung Immanenz, Identität, beinahe Tautologie.

Betrachtung des Seienden als Seienden – aber doch gleich mit einer bestimmten Differenzierung bzw. Pluralisierung: es, das Seiende wird vielfältig ausgesagt. Diese Vielfältigkeit erstreckt sich nun keineswegs enzyklopädisch auf Arten, Gattungen und dergleichen, etwa Pflanzen, Menschen, Sterne. Sondern eher formalistisch auf Seinsmodalitäten, von denen die erste den Bezugspunkt für alle bilden soll, die gemeinsame arche oder physis. Diese erste heißt ousia, zumeist übersetzt als Wesen oder Substanz, von dem bereits genannten Joe Sachs entweder als independent thing oder thinghood.[1] Diese zweifache – im Englischen wohl revolutionäre – Übersetzung können wir Deutschsprachige sehr gut nachvollziehen, wir könnten sie sogar direkt übernehmen und sagen: Ding oder Dingheit (Dinglichkeit). Eine Doppeltheit, die scholastisch als Erste Substanz bzw. Zweite Substanz wiedergegeben worden ist.

Worin liegt der Unterschied zwischen den beiden Übersetzungen und worin ihr Bezug zum Seienden? Die Erste Substanz ist nichts anderes als eine erhöhende Wiederholung des Seienden: sie nennt das Seiende im Vollsinn des Wortes: ein selbständig und mit eigentümlicher Wesensform ausgestattetes Seiendes. Da ist keine Ursache ins Auge gefasst, sondern eine Sache im vollen Sinn des Wortes, eine Sache mit Sosein und Dasein. Und die Zweite Substanz – ist eben das Sosein, die Wesensform, die Formursache der Sache.

Diese eine „Ursache“ wird also in dieser immanentistischen oder „tautologischen“ Betrachtung sehr wohl in Betracht gezogen, sogar prominent hervorgehoben. Aber ständig auch in Quasi-Gleichsetzung, Beinahe-Verwechslung mit dem Verursachten, also der Sache selbst, der Sache in ihrer Fülle. Übrigens eignet dem aristotelischen Ursachen-Begriff überhaupt die Neigung zur Immanenz und gleichzeitig eine starke Vielfältigkeit: Form ist immer ganz immanent; Materie einigermaßen (das Holz, aus dem der Tisch gemacht ist, liegt ganz und gar in ihm; wenngleich es solches Holz auch noch außer ihm gibt (er ist ja „aus“ Holz)), Urheber zumeist außerhalb der Sache; Zweck hingegen eher darin). Daher tendiert die aristotelische Physik der Ursachen zunächst einmal wenig zum „meta“.
Die Vielfältigkeit des Ausgesagtwerdens des Seienden fängt also schon mit der Fast-Wiederholung durch die Erste Substanz an, geht weiter mit der abgeschwächten Wiederholung durch die Zweite Substanz, setzt sich fort mit der Aufzählung der anderen Kategorien, als da sind die Akzidenzien, lauter Anhängsel oder vielleicht doch nicht nur Anhängsel der Substanz, geht über die Akzidenzien noch hinaus zu stärker dramatisierenden Versionen des Wesens wie Vergehen, Beraubung, Erzeugung und sogar Verneinung. So weit gestreut ist die Vielfältigkeit des Seienden als solchen, wofür man auch sagen kann: der Seiendheit. Denn das ist die wörtlichste Übersetzung von ousia. Und dies alles wohlgemerkt innerhalb jedes Seienden – unabhängig von Art und Ort seines Vorkommens in der Welt.
Immanentismus und immanente „Explosion“ eines jeden Dinges, Wesens kennzeichnen also „Ontologie a“. (Beinahe noch immanentistischer (und anderswie extensiv) verhält sich „Ontologie b“). Allerdings wird sie im Buch IV nur kurz angerissen bzw. sie wird durch die Aufstellung von „Axiomen“, fortgesetzt, die für alle Dinge gelten. Diese Axiome sind der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, der Satz vom ausgeschlossenenen Dritten, die Regel von der Unrichtigkeit einseitiger Aussagen über alle Dinge. Auch diese Axiome gehen in die Richtung von Immanentismus, Identismus: sie besagen alle, dass jede Aussage Bestimmtes sagen muß.
Diese eher logische Weiterführung der „Ontologie“ wird sehr langwierig vorgetragen und mit beißender nicht enden wollender Polemik einerseits gegen Sophisten – hauptsächlich Protagoras – und Naturphilosophen wie Heraklit und Anaxagoras, Demokrit aufgefüllt. Als gemeinsame Behauptung dieser Philosophen nennt er die sensualistische These, die aisthesis sei phronesis, als die Wahrnehmung sei Verstand (1009b 14). Eine These, von der Aristoteles gar nicht weit entfernt ist, besagt doch unser aristotelisches Hermesgruppen-Motto, das Wahrnehmen sei so etwas Ähnliches wie das vernünftige Erfassen. Die Sophisten und einige Naturphilosophen aber kommen zu eher absurden Schlussfolgerungen oder Selbstwidersprüchen – entweder aus Lust an der Provokation oder vielleicht aufgrund ihrer Überwältigung durch den Abschied von den Mythen.
Im Zuge dieser Ausführungen gibt es immer wieder bemerkenswerte Stellen. Etwa wenn Aristoteles meint, gewisse Voraussetzungen müssen angenommen werden, können nicht bewiesen werden; etwa diejenige; dass „wir jetzt“ nicht „schlafen“ sondern „wachen“ (1011a 7). Er hat ja selber Über Wachen und Schlafen eine kleine Schrift verfasst und ich ein zweibändiges Werk darüber. Wieso kann man das nicht beweisen? Weil unser gesamtes Leben ein Traum sein könnte. Wir „müssen“ unser Wachsein theoretisch voraussetzen und wir sollen es praktisch uns einschärfen. Schlafen und Wachen könnte man – in Anlehnung an energeia und dynamis - als strikt ontologische Modalitäten unseres Daseins betrachten.

Walter Seitter

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Sitzung vom 15. Oktober 2014 


[1] Joe Sachs: op. cit.: 54.

Freitag, 10. Oktober 2014

Ontologie a und b

Bekanntlich gliedern sich die Wissenschaften bei Aristoteles so:

A Theoretische Wissenschaften
Physik (Zweite Philosophie)
Mathematik
Erste Philosophie

B Poietische Wissenschaften
Poetik, Architektonik, Medizin, Strategik ....

C Praktische Wissenschaften
Ethik, Ökonomik, Politik
 Zur Steigerung der Deutlichkeit und Verständlichkeit formuliere ich A folgendermaßen um:
 A  Theoretische Wissenschaften
A I Physik: alle Wissenschaften von materiellen Dingen, also auch von den Tieren, sowie vom Menschen (folglich auch De anima) und gewissermaßen auch von den künstlichen Dingen.

A II  Erste Philosophie spaltet sich in
A II 1 Ontologie: Lehre von allen Bestimmungen, die jedem Seienden als solchem zukommen (also allen Gegenständen aller Wissenschaften). Der allgemeine Grundsatz der Ontologie auf Lateinisch: ens multipliciter dicitur.
A II 1 a Und diese Lehre setzt bei der Kategorienlehre ein und setzt sich mit der Suche nach weiteren sozusagen dramatischen Seinsmodalitäten fort, die in Met. IV, 1003a 32ff. genannt werden. Die Begriffe dieser Lehre lauten also Substanz, Akzidenzien (Qualität, Relation, Wirken, Leiden ...), Wesen, Weg zum Wesen, Entstehung, Vergehung, Verneinung des Wesens, ... : Ontologie a.

In der Analytischen Philosophie wird die aristotelische Tradition der Ontologie mit dem Akzent auf Substanz (oder Ding) und Akzidenzien fortgesetzt, so Barry Smith; oder aber mit dem Akzent auf Ereignis, welcher Begriff ja als Zusammenfassung der aristotelischen Akzidenzien aufgefasst werden kann, wobei alternativ oder komplimentär auch Zustand, Handlung, Veränderung, Prozeß als Kategorien vorgeschlagen werden, so Christian Kanzian, Uwe Meixner. Es handelt sich dabei erklärtermaßen um mehrkategoriale Ontologien, andernfalls würden sie ja in die Lehre von den Transzendentalien umschlagen.
Martin Heidegger hat mit der Unterscheidung zwischen dem Seienden und dem Sein eine Ontologie, die vom Seienden (Substanz, Ding) ausgeht, kritisiert und dagegen ein Seinsdenken, welches das Ereignis zugrundelegt, vorschlagen wollen (sichtbar bereits in der Einsetzung von „Dasein“ für „Mensch“).
A II 1 b In der Scholastik wurde eine spezifische Richtung der Ontologie entwickelt: Lehre von den Transzendentalien bzw. von den Konvertibilitäten: Ontologie b.
Ens, res, aliquid, unum, verum, bonum; später wurde häufig auch das pulchrum hinzugefügt.

Was res, aliquid betrifft, so begnügen sie sich anscheinend mit der Wiederholung allgemeinster, banaler und sogar niedriger Begriffe – was besonders beim aliquid hervorsticht: denn es heißt bloß was im Sinne von etwas, aber durch das „ali“ wird sogar das sozusagen weggeworfen: irgendwas, man weiß nicht was, irgendwas anderes, bloß nicht dieses bestimmte Etwas hier, sondern irgendein anderes. Gleichwohl will dieses „aliquid“ besagen: etwas Bestimmtes, von anderem Abgegrenztes, also selber ein „anderwas“, ein aliud.

Demgegenüber erscheint res schon als eine sehr hohe Modalität, die eigentlich bereits das Wesen oder gar die selbständig existierende Substanz impliziert. Aber die Transzendentalien müssen als so „flexibel“ gedacht werden, dass sie allen Seinsmodalitäten zukommen können – jeweils in Entsprechung mit deren Eigenart und Rang. Also ist jedwedes, auch eine Eigenschaft, eine res: etwas res-haftes.

Ens et unum convertuntur: das Seiende als solches ist eines, ist einheitlich, kohärent. Dieses Transzendentale ist in der älteren griechischen Philosophie – von Parmenides bis Platon – schon häufig postuliert und diskutiert worden, auch in der Metaphysik war es schon vorgekommen.

Ens et verum convertuntur: dieser Satz ist von Platon und Aristoteles vorbereitet worden: je höher etwas in der Stufung der Seienden steht, umso intelligibler, umso klarer ist es – nicht unbedingt für uns, wohl aber an sich.

Ens et bonum convertuntur: und umso erstrebenswerter: appetibler.

Ens et pulchrum convertuntur: das Schöne ist eine Kombination aus Wahrem (Wahrnehmbarem) und Gutem: das was gefällt.

Ergibt sich nicht aus diesen ca. sechs Konvertibilitäten der Satz: Ens et convertibile convertuntur - ? Ja, aber der Satz gilt nicht so generell wie die vorigen. Ens ist nur mit „convertibile cum re, cum aliquo, cum vero ...“ konvertibel. Immerhin ist das schon eine multiple Konvertibilität, sodaß der Satz „ens multipliciter dicitur“ in beschränktem Maß auch auf die Transzendentalienlehre bezogen werden kann.
Tatsächlich gehört er direkt in diese Lehre hinein, denn bei Thomas gibt es auch die multitudo absoluta sive transcendens: die innere Opposition zur transzendentalen Einheit. Das Transzendentale „aliquid“ geht schon in diese Richtung. Wird dadurch das „ens et unum convertuntur“ aufgehoben? Wohl nicht.

Ens est convertibile multipliciter und folglich
Ens et convertibile (multipliciter) convertuntur.
Lassen sich die ontologischen Konvertibilitäten noch vermehren?
Etwa in Richtung Aktivität? Das verum und das bonum werden ja wie üblich mit Passiv-Eigenschaften übersetzt, obwohl sie doch Vollkommenheiten bezeichnen (diese Passiv-Eigenschaften beruhen allerdings auf ihrer Vollkommenheit: sie attrahieren, sie faszinieren).
Andere Vollkommenheiten, die wir mit „aktiv“ verbinden, würden lauten:
Ens et potens, et agens, et intelligens, et appetens (desiderans) convertuntur. Solche Konvertibilitäten würden die Richtung „res“ in Richtung „substantia“ intensivieren und zu „animal“, „spiritus“, „persona“ weiterführen. Sie würden auch das sächliche Geschlecht nur mehr als neutrale Hülle bestehen lassen. Res ist ja grammatisch bereits aus diesem Geschlecht herausgetreten, semantisch nur schwach. Immerhin macht „res“ ein grammatisch weibliches Wort zur allgemeinen Begriffshülse.


A II 2: Für die andere Richtung der Ersten Philosophie passt die Bezeichnung „Metaphysik“ einigermaßen: Lehre von den ersten oder höchsten oder entferntesten Ursachen, wie sie in Buch I flüchtig erwähnt worden ist. Vielleicht kann man auch sagen: Lehre von den überirdischen oder nicht-irdischen Dingen. Also vom Guten an sich oder vom unbewegten Beweger oder vom Göttlichen.

Walter Seitter


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Sitzung vom 8. Oktober 2014 

Sonntag, 6. Juli 2014

Dramatisierung der Metaphysik


Bericht aus einer laufenden Unternehmung

Was immer man unter „Metaphysik“ verstehen mag – eine Teildisziplin der Philosophie, und zwar die höchste, oder eine verschämte Umschreibung für religiöse, gar göttliche Dinge: eine gute Presse hat sie nicht. Bei den Philosophen gilt Immanuel Kant (1724-1804) als derjenige, der ihr schon vor über 200 Jahren den Todesstoß versetzt haben soll (obwohl er sich 1797 zu einer Metaphysik der Sitten aufgerafft hat). Man sagt der Metaphysik ein gespanntes Verhältnis zu den empirischen Wissenschaften nach, von denen allein zuverlässige Auskunft über das, was wirklich ist, erwartet werden kann. Metaphysik versteige sich in Spekulationen, die im Grunde genommen jeder für sich anstellen könne. Beide Teile des Wortes stehen jeweils für eine „Richtung“, welche das damit Gemeinte als wenig attraktiv erscheinen lassen: meta lässt an „Transzendenz“ oder an „jenseits“ denken, also an etwas, was weit weg ist und uns nicht betrifft; und physik erinnert zwar an die von allen geschätzte Naturwissenschaft, aber in Verbindung mit meta überwiegt die Konnotation des „Gegebenen“, des „Vorgegebenen“, das sich unserer Freiheit, unserem Handelnkönnen, unserer ersehnten Kreativität  widersetzt. Auf diese Weise hat sich die Bedeutung von „Metaphysik“ in ein Eck verschoben, wo sich das Entfernte und Abstrakte mit dem Leblosen und dem Nicht-Pragmatischen trifft.[1]

Anstatt diesem so angedeuteten Problemkomplex direkt zu Leibe zu rücken, begnüge ich mich damit, von einem derzeit laufenden Vorhaben zu berichten, das sich einerseits mit dem wohl wichtigsten Quellentext der gesamten Metaphysik-Problematik, nämlich mit dem aristotelischen Buch namens Metaphysik, beschäftigt, und sich andererseits durch eine sehr schlichte, fast laienhafte, aber auch bewusst langsame und auseinandergezogene Vorgangsweise auszeichnet.

Seit 2011 lese ich in Wien mit der „Hermesgruppe“, einer Gruppe aus circa fünf Personen, jeweils am Mittwochnachmittag, das genannte aristotelische Buch. Es handelt sich um eine nicht sehr homogene Gruppe: nicht alle sind studierte Philosophen, nicht alle haben bereits Griechisch gelernt. Jede Person trägt das Ihre zum gemeinsamen Lesen bei: ihre Kenntnisse und ihre Interessen, ihre bevorzugte Textausgabe, ihre Diskussionsbeiträge. Wir ziehen gleichzeitig einige unterschiedliche Übersetzungen (auch englischsprachige und neugriechische) heran und schauen im Falle von schwierigen oder besonders interessanten Stellen in den griechischen Text hinein, schlagen notfalls auch im Griechisch-Lexikon nach. Lesen und Besprechen sind die beiden Haupttätigkeiten an den Mittwochen. Das Besprechen bzw. Diskutieren reicht vom philologischen Verstehenwollen bis zum philosophischen Nachvollziehen, Vergleichen, Infragestellen, wobei auch andere Disziplinen sowie persönliche Erfahrungen eingebracht werden können. Philosophisches Vergleichen bezieht sich etwa auf Positionen anderer Philosophen der Vergangenheit oder der Gegenwart; andere Disziplinen werden herbeizitiert, weil Philosophieren, das sich total abschotten würde, steril zu werden droht; persönliche Erfahrungen kommen aus vielerlei Bereichen, sei es aus Berufswelten, aus Kunsterfahrungen, aus Reisen an die Stätten antiker Philosophie.

Das breite Spektrum des gemeinsamen Assoziierens mag dem streng akademischen Charakter unserer Lektüretätigkeit abträglich sein. Noch stärker wird dieser wohl dadurch in Frage gestellt, dass wir unser „Lesen in der Metaphysik“ jedenfalls zunächst einmal von Sekundärliteratur fast freigehalten haben. Denn es war unsere Ambition, dass wir selber uns mit dem Text selber konfrontieren, anstatt uns von vornherein von der riesigen Rezeptions- und Interpretations-, Verständnis- und Verkennungsgeschichte verschlingen zu lassen.

Anstatt uns von dieser aufhalten zu lassen, bauen wir selber die Umwege und Seitenwege ein, die uns daran hindern, allzu schnell verstehen zu wollen.

Wir machen uns unser Lesen selber langsam: in jeder Sitzung wird höchstens eine Seite des aristotelischen Textes durchgenommen- dabei handelt es sich um ziemlich kleine Seiten, nämlich jeweils eine Spalte der sogenannten Bekker-Zählung (ca. 1750 Zeichen).

Da wir von den universitären Gepflogenheiten immerhin die langen Ferien übernehmen, kommen wir im Jahr auf höchstens dreißig Sitzungen und so haben wir in den drei Jahren 2011 bis 2013 die ersten drei der insgesamt vierzehn Bücher der Metaphysik gelesen.

Was waren die Erfahrungen dieser Lektüre? Der Text legt sich nicht von Anfang an auf einen bestimmten Gegenstand fest, den er etwa „Metaphysik“ nennt. Er skizziert eine Anthropologie der Erkenntnis und nur allmählich deutet er eine Thematik an, die man mit „Metaphysik“ assoziieren kann – ohne dass dieser Begriff jemals vorkommt. Er selber umschreibt sie ganz pragmatisch mit „gesuchte Wissenschaft“ und setzt für diese einmal diese und dann wieder eine andere Bezeichnung ein. Das zweite und das dritte Buch setzen jeweils neu ein – immerhin so, dass allmählich ein durchgehender roter Faden erkennbar wird. Man hat es offenbar mit einer Suchbewegung zu tun, die halb diskontinuierlich, halb kontinuierlich, halb zickzackförmig, halb geradlinig voranschreitet. In der Mitte des vierten Lesejahres sind wir immerhin in der Mitte des vierten Buches angelangt, das die größte Überraschung bereitgehalten hat. Das Programm einer Suche nach den letzten (Aristoteles sagt: nach den ersten) Ursachen wird plötzlich ersetzt durch das Programm einer ganz immanentistischen Betrachtung und Differenzialanalyse dessen, was überall und jederzeit vorliegt. Gleichzeitig verschärft sich sein polemischer Ton gegen philosophische Konkurrenten, es intensiviert sich der Nahkampfcharakter in der Auseinandersetzung.

Unsere ein bisschen laienhafte und dennoch umständliche, jedenfalls sehr auseinandergezogene Lese- und Besprechungstätigkeit in der Gruppe nenne ich jetzt einmal ein bisschen bombastisch „Wissenschaftsperformanz“, um ihren Aktionscharakter zu betonen, der durch die Langsamkeit spürbar wird und spürbar bleibt: die Performanz verschwindet nicht gegenüber etwelchen Resultaten, die sich wissenschaftlich bestätigen oder widerlegen lassen.

Auf der anderen Seite scheint sie auf die Resultate, also auf den Eindruck, den wir vom Gegenstand, vom aristotelischen Text, gewinnen, durchzuschlagen. Unsere Vorgangsweise steckt den Gegenstand gewissermaßen an: und zwar mit Langsamkeit, mit Prozeduralität, mit Bewegungscharakter: er erscheint als Suchbewegung mit erkennbarem Bewegungsprofil.[2]

Mit Wissenschaftsperformanz meine ich also zunächst unsere eigene Tätigkeit, in der immerhin zwei Wissenschaften zum Einsatz kommen, die Philosophie und die Philologie. Damit will ich nicht den Anspruch auf allerhöchste Wissenschaftlichkeit erheben – sondern eher im Gegenteil das Bekenntnis zu einem Wissenschaftstun, das seine eigenen Kontingenzen nicht vertuscht: also zur Seite der „Schaftlichkeit“.

Ich würde diese Bestandsaufnahme in Sachen Metaphysik-Lektüre wohl nicht erbringen können, wenn unserer Lektüre nicht schon ein größerer Vorlauf vorangegangen wäre. Von 2007 bis 2010 hat dieselbe Hermesgruppe ein sehr anderes Buch von Aristoteles gelesen: die kleine Poetik haben wir in einem ähnlichen Tempo gelesen, nämlich in vier Jahren. Und da wir wie auch jetzt schon damals jede Mittwoch-Sitzung in einem Protokoll dokumentiert, genauer gesagt: mitgeschrieben, miterzählt haben, konnte aus den Protokollen eine größere Nachschrift oder Nacherzählung gemacht werden, und die ist auch in Form von zwei Büchern erschienen: Poetik lesen 1 (Berlin 2010), Poetik lesen 2 (Berlin 2014).[3]

Für diese Nachschrift präge ich den Begriff „Wissenschaftserzählung“. Erzählung von Wissenschaft als Machenschaft mitsamt Resultaten. Erzählt worden sind in erster Linie unsere Tätigkeiten, also das Lesen und Besprechen, in zweiter Linie die Thematik unseres Lesens und Besprechens – also die aristotelischen Fragestellungen und Darlegungen und deren Themen: also die Dichtung, die Tragödie, die Komödie, das Epos mit ihren jeweiligen Narrativitäten.

Die Wissenschaftserzählung verhält sich zur Wissenschaftsperformanz ungefähr wie Signifikant zu Signifikat und obwohl in diesem Fall dem Signifikat ein gewisser Vorrang nicht abgesprochen werden muß, hat doch auch die (von Lacan so betonte) Umkehrung ihren Sinn: eine dramatisierende Erzählung wird ihrem Gegenstand, auch wenn der „nur“ aus Wissenschaft besteht, eine Performativität entlocken, die man ihm gar nicht zugetraut hätte.

Unsere Metaphysik-Lektüre baut auf Poetik lesen auf, insofern dort unsere Wissenschaftsperformanz in einer Wissenschaftserzählung bestätigt worden ist. Nun erproben wir für die Metaphysik eine analoge Dramatisierung und Narrativisierung. Je nach dem, wie sie gelingen, wird man jenes berühmte Buch in Hinkunft anders lesen können.

Walter Seitter






[1] Eine Übersicht über die Stadien und Motive der Metaphysik-Kritik und des Metaphysik-Überdrusses findet sich bei Rémi Brague: Les ancres dans le ciel. L’infrastructure métaphysique (Paris 2011): 15ff.
[2] Ohne die philologischen Fragen, die sich an die Redaktion der Metaphysik anschließen lassen, auch nur zu berühren, lässt sich doch vermuten, dass eine Lesezeit von drei Jahren für drei Bücher den seinerzeitigen Entstehungszeiten immerhin nahekommen könnte: analogia temporum.
[3] Nunmehr gibt es also die aristotelische Poetik wieder in zwei Büchern – nur dass jetzt beide erhalten und sogar erhältlich sind. Das grausame Schicksal, das Umberto Eco im Namen der Rose dem seinerzeitigen Zweiten Buch zugeschrieben hat, muß kein endgültiges sein.