τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 24. April 2014

In der Metaphysik lesen (1006a 32 – 1006b 11)

Zunächst kommen wir darauf zurück, daß Joe Sachs innerhalb der Metaphysik „Ontologie“ und „Theologie“ unterscheidet. Und zwar sagt er, das Gesamtwerk sei von Aristoteles selber „Theologie“ genannt worden, von anderen Autoren viele Jahrhunderte später „Ontologie“. Wir haben eine ähnliche Unterscheidung angebracht, sie aber nicht auf die Titulatur bezogen. Was diese betrifft, so nennt Aristoteles die „gesuchte Wissenschaft“ anfangs „Weisheit“, dann „Erste Philosophie“, schließlich „Theologie“. Allerdings scheint nicht ganz sicher zu sein, daß eine jede dieser Bezeichnungen sich auf das Gesamtwerk bezieht. Denn dieses scheint ja doch erst im Laufe von Jahren zustandegekommen zu sein (selbst wenn es bereits von Aristoteles in seinem Gesamtumfang festgelegt worden ist). Der Titel „Erste Philosophie“ paßt mit seiner sachlichen Neutralität leichter auf das Gesamtwerk als der sehr spezielle Titel „Theologie“, der doch nur im Buch XII eingelöst wird.
Unabhängig davon, ob die Bezeichnung „Ontologie“, die erst um 1600 aufgekommen ist, damals als Titel für das Gesamtwerk gedacht war oder nicht, ziehe ich es vor, unter „Ontologie“ eine Forschungsrichtung zu verstehen, die zuerst im Buch IV vorgeführt wird und die sich recht deutlich von der in den vorherigen Büchern angekündigten Forschungsrichtung abhebt, welche auf „die ersten Gründe und Ursachen“ abzielt und für welche die Bezeichnung „Metaphysik“ passend erscheint und welche tatsächlich letztlich in einer Theologie ihren Abschluß finden kann.
Unter „Ontologie“ im aristotelischen Sinn verstehe ich also die im Buch IV eingeführte Untersuchungsrichtung, würde aber bei meinem jetzigen Kenntnisstand auch nicht das Buch IV so titulieren. Eher tituliere ich die aristotelische Ontologie als die im Buch IV eingeführte (um sie von eventuellen anderen zu unterscheiden, etwa von der „kosmographischen“ Ontologie einiger gegenwärtiger Ethnologen). Wie ich auch den sogenannten Satz vom (ausgeschlossenen) Dritten lieber als „Axiom des Buches IV“ bezeichne.
Aristoteles fügt dieses Axiom in die Serie der Seinsmodalitäten ein, die sich an die Wesenheit anschließen, welche nach dem allgemeinen Gegenstand „das Seiende“ der erste Gegenstand seiner Ontologie ist.
Wenn ich in einigen früheren Schriften den Begriff „ontologisch“ verwendet habe, dann nicht in der abgehobenenen, isolierten Redeweise, die Aristoteles anschlägt, sondern im Zuge irgendeiner „Physik der Dinge bzw. Erscheinungen“, wenn mir das Hin und Her zwischen Ding und Erscheinung, zwischen Erscheinen und Verschwinden, zwischen Entstehen und Vergehen auffällig zu werden schien. Zum Beispiel im Bereich des Sagens, des Schlafens und Wachens, der Farbflecken auf der Leinwand. Da kann sogar so etwas wie Kosmogonie auftauchen – aber nicht als Weltentstehung im Sinne des biblischen Schöpfungsberichts oder der Urknalltheorie, sondern als Weltentstehung im Hier und Jetzt. Und so eine fortlaufende Weltentstehungsannahme scheint sogar mit der aristotelischen Auffassung von der Ewigkeit der Welt vereinbar. Für ihn ist die Welt „ewig“, weil wir annehmen müssen, daß sie vor uns da war und nach uns da sein wird: von uns aus, von unseren wenigen Lebensjahrzehnten aus gesehen (und erwartet) ist sie offensichtlich „ewig“. Die Beständigkeitskerne in ihr sind die Wesenheiten – die aber werden von den kontra-wesenhaften Seinsmodalitäten (wie sie in der Ontologie dramatisch thematisiert werden) umgeben, angenagt, bedroht und sind vorläufig wohl doch nicht ganz und gar umzubringen. Die aristotelische Ontologie führt eine Ontodramatik ein.
Es gibt Welterhaltungskräfte – die liegen aristotelisch in den Wesenheiten, auch in den selbständig existierenden Wesen, wie wir welche sind. In den Wesen wirken hoffentlich Selbsterhaltungskräfte, die sich gegen die ebenso wirksamen Verfallstendenzen durchsetzen – jedenfalls gelegentlich, fallweise, zeitweise. In diesem Hin und Her und Da und Dort wirkt die Ontologie „ewig“ „kosmogonisch“ „dramatisch“. Wie in der Poetik analysiert: größere Handlungszusammenhänge, die aus vielen kleinen Handlungswendungen, -unfällen, -wundern zusammengesetzt sind.
Demnach ist Ontologie keine selbständige Disziplin sondern findet fallweise als ontologische Verschärfung oder Auflösung in philosophischen Betrachtungen  unterschiedlicher Themenrichtung statt.
Was nun das Axiom des Buches IV betrifft, so fordert es, daß die Ausdrücke, die wir beim Sprechen einsetzen, auch beim Sprechen mit  uns selber, jeweils eine bestimme Bedeutung haben müssen. Dabei kann es durchaus vorkommen, daß ein Wort zwei oder drei Bedeutungen hat, nicht jedoch unendlich viele. Für die jeweilige zweite oder dritte Bedeutung kann man in der Regel auch andere Wörter einsetzen, jedenfalls kann man sie mit zusätzlichen Wörtern erklären: z. B. „Ontologie“ im Sinne von Buch IV oder „Ontologie“ im Sinne der Ethnologen. Doch in der jeweiligen Wortverwendung muß die Bedeutung festliegen.

Walter Seitter


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Sitzung vom 23. April 2014

Montag, 21. April 2014

Metaphysik/Metaphysics


Die englische Übersetzung der Metaphysik in der Loeb-Ausgabe des griechischen Textes ist uns durchaus manchmal nützlich. Sie wurde 1933 zum ersten Mal gedruckt, ist also schon sehr alt. Deshalb dürfte ein Blick in eine jüngere englische Ausgabe nicht schaden.
Ich ziehe die amerikanische Ausgabe heran, die Joe Sachs 1999 zum ersten Mal herausgegeben hat.[1] Die Einleitung zeigt einen erfrischenden Ton und so greife ich einige Punkte heraus – vor allem solche, die mit unserer Lektüre konvergieren.
Sachs macht längere Ausführungen zum uneinheitlichen Charakter des Gesamttextes, der schon zu vielen sehr negativen Beurteilungen geführt hat. Er selber erklärt zu dieser losen Fügung, daß das Gesamtbuch zwei „erste Bücher“ hat, die in der griechischen Zählung Alpha und klein Alpha heißen, in der lateinischen Buch I und Buch II. In Wirklichkeit fange die Metaphysik viel öfter an als nur zweimal: nur die Bücher VIII, IX und XIV seien keine Neuanfänge.[2] Die Metaphysik beginnt elf mal neu: die Suchbewegung nach der „gesuchten Wissenschaft“ ist dermaßen vielfältig zusammengesetzt – als ob ungefähr elf Bücher nicht recht weiter führen, sozusagen Sackgassen seien, beinahe Aporien. Diese kleine Aporien- bzw. Anfänge-Mathematik scheint mir ein Glanzstück von Hermeneutik zu sein, die sich wohl nicht auf irgendeine Intention des mutmaßlichen Verfassers bezieht, sondern auf die Wirrnisse und die schließliche Entscheidung mehrerer antiker Redaktionsgenerationen.
Elf Neuanfänge – aber nicht ganz so viele Antworten auf die Frage, was denn das Thema des Buches ist. Eigentlich nur zwei. Nämlich „das Seiende als Seiendes“ und die „Prinzipien und Ursachen der Seienden, die abgetrennt, bewegungslos, göttlich sind“. Beide Formulierungen tauchen immer wieder auf. Die erste erstmals im Buch IV, die zweite im Buch VI. „Aufgrund der zweiten Bestimmung wird das ganze Werk von Aristoteles als ‚Theologie’ bezeichnet: aufgrund der ersten wird es ‚Ontologie’ genannt – aber von anderen und viel später.“[3] Diese deutliche Unterscheidung haben wir so ähnlich auch schon ausgedrückt. Sachs meint, Aristoteles würde die beiden Richtungen in seinem Buch zu einem Berührungs- oder Überschneidungspunkt zusammenbiegen. Wenn Sokrates im Staat meint, das Gute liege jenseits des Seins, doch könne es nicht mit den Gleichnissen erfaßt werden, dazu bedürfe es eines längeren Umwegs, so Sachs: die aristotelische Metaphysik sei so ein Umweg.[4]
Sachs geht auch auf die alten naturphilosophischen Lehren ein, die das Unbewegte entweder voraussetzen oder suchen. Sie leben in der neuzeitlichen Physik wieder auf, welche die Materie mit Trägheit (inertia) gleichsetzen, was sich jedoch nicht halten läßt. Er nennt Isaac Newton, John Dalton, neuere Molekularbiologen, die schließlich eine Nicht-Trägheit einsetzen müssen. Mit den Begriffen energeia und entelecheia habe Aristoteles die Schwierigkeit überwunden. Aber nicht etwa einfach mit diesen Begriffen – sondern mit der Fügung der Metaphysik, die „aus der größten Zahl von distinkten Teilen komponiert“ sei.[5]
Schließlich kommt Sachs auf die Übersetzungsproblematik zu sprechen. Er entscheidet sich gegen die jahrhundertelange Tradition, Aristoteles in einem angeblich englischen Latein wiederzugeben. Er möchte ihn englisch schreiben – so wie Aristoteles selber griechisch geschrieben hat: in der griechischen Umgangssprache, die er fallweise zu Begriffen und sogar zu Neologismen umgemünzt hat: aber es ist immer griechisch.

Das erinnert gewiß an Heideggers Verdammung der Latinisierung der Philosophen. Sachs selber erkärt, von Heidegger gelernt zu haben.[6] So weit so gut. Zu seinen Übersetzungsresultaten muß ich jetzt nichts sagen. Sie sind keineswegs alle gelungen. Aber dazu vielleicht später an Ort und Stelle.

Walter Seitter


[1] Aristotle’s Metaphysics. A new translation by Joe Sachs (Santa 2002). 1995 hatte Joe Sachs Aristotle’s Physics: A Guided Study herausgegeben.
[2] Siehe Op. cit.: XV.
[3] Op. cit.: XVII.
[4] Siehe op. cit.: XX.
[5] Siehe op. cit.: XXVf.
[6] Siehe op. cit.: XXXVI.

Sonntag, 13. April 2014

Ausgeschlossener Widerspruch ?

Die FAZ vom 11. April 2014 berichtet, daß am Tag zuvor die Mehrheit im Europarat (Straßburg) Rußland, das heißt den 18 russischen Abgeordneten, bis zum Ende dieses Jahres das Stimmrecht entzogen hat. Außerdem wurden diese Abgeordneten aus den Führungsgremien des Europarates ausgeschlossen. Für diese Resolution stimmten 145 Abgeordnete bei 21 Gegenstimmen und 22 Enthaltungen. Die russische Delegation hatte zuvor den Saal verlassen.
Die Ausschließungs-Resolution betraf also nicht alle, die sich nicht der Mehrheitsmeinung angeschlossen haben – das wären ungefähr 60 gewesen, sondern nur die Vertreter des Staates, dessen Handlung, nämlich die Annexion der Krim, Gegenstand der Abstimmung (und wohl auch der vorherigen Beratung) war.
Diese russischen Abgeordneten haben indessen ihren Ausschluß nicht direkt provoziert – etwa durch rüpelhaftes oder gar gewalttätiges Verhalten in der Straßburger Versammlung, sondern durch das politisch-militärische Handeln ihrer Regierung. Ihr Delikt bestand also im Vertreten einer Minderheitenmeinung, welches sie allerdings durch ihre Identifizierung mit dem Handeln ihrer Regierung bestärkt haben. Damit ist der „Widerspruch“ in der Straßburger Versammlung zwar nicht völlig, aber doch weitgehend ausgeschlossen, jedenfalls stark reduziert worden.
Hier ist auf einer pragmatischen Ebene reales Widersprechen gegen eine Mehrheitsmeinung tendenziell ausgeschlossen worden, indem die Widersprechenden – nicht alle, aber die als Zuwiderhandelnden identifizierten – faktisch ausgeschlossen worden sind.
Das von Aristoteles im Buch IV eingeführte und „bewiesene“ Axiom wird häufig als „Satz vom Widerspruch“ oder aber „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ bezeichnet. Eine ziemlich laxe A-oder-B-Bezeichnung, die uns schon skeptisch stimmen sollte. Anscheinend ist doch die Bezeichnung „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ die vollständigere, jedenfalls exaktere. Trotzdem kann man sie nicht mit irgendeiner realen Ausschließung von real Widersprechenden in Verbindung bringen. Im Gegenteil. Aristoteles’ indirekte Beweisführung für diesen Satz geht gerade nicht als Beweisführung vor, die wahr sein soll. Sie verweist vielmehr darauf, daß jedwede Beweisführung als Minimalvoraussetzung einen Beweisdiskussionspartner braucht, der minimalerweise sogar ein Widersprechender sein darf, ja sein soll – damit an ihm sich zeigt, daß er auch als Gegen-Argumentierender dieselbe Bestimmtheit der Wörter annehmen muß, die der Beweisführende verwendet.
Die indirekte Beweisführung operiert mit der Einbeziehung eines Widersprechenden. Die positive Einbeziehung des realen oder zumindest möglichen Widerspruchs weist die Notwendigkeit und Wahrheit des von Aristoteles eingeführten Axioms auf. Daher meine ich, daß seine Benennung als „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ nicht besonders gut paßt. Wir werden sehen, daß Aristoteles über dieses Axiom noch ausführlich schreiben wird, aber eine Benennung desselben sehe ich da nicht (möglicherweise findet sich bei ihm doch eine Benennung).
Jetzt noch zur Frage, wieso überhaupt dieses – oder überhaupt ein – Axiom hier eingeführt wird. Aristoteles’ Antwort: es bezieht sich auf alle Seienden - weil: auf das Seiende als seiendes. Deswegen also gehört es in die aristotelische Untersuchungsrichtung, die ich „Ontologie“ nenne. Trotzdem wirkt es wie ein Bruch, beinahe eine metabasis eis allo genos, in der Reihe der Seinsmodalitäten, welche bisher aufgemacht worden ist. Als Axiom ist es ein Satz, gehört also selber in die Sagebene und nicht direkt in die Seinsebene.

Die Erwähnung der Pflanze scheint eine Dimension aufgerissen zu haben, die wiederum mit Seienden zu tun hat – aber anders als die aristotelische Ontologie. Die Pflanze ist eine Sorte von Seienden. Und sie wird erwähnt, um eine andere Sorte von Seienden davon abzugrenzen, die Seienden, die Sagwesen sind, also die Beweisführer und die Widersprecher – beide gehören zu den Menschen, die ja „Lebewesen mit Logos“ sind. Pflanzen hingegen gelten für Aristoteles als Lebewesen ohne Logos.[1] Heißt das nun, daß Aristoteles die Seiendensorten in seine Ontologie einführt, womit er diese so auffassen würde wie neuerdings die Ethnologen (und vor denen auch schon Philosophen wie Nicolai Hartmann)? Nein – er macht hier keine Klassifikation der Seienden auf, aber erwähnen kann er sie schon; sie sind ja Seiende.
Wieso aber gehört das jetzt eingeführte Axiom zu den Seinsmodalitäten im Sinne der Ontologie? Weil das Axiom sich auf das Seiende als seiendes bezieht. Und das tut es mit aller Bestimmtheit: es schreibt ja nur vor, daß man Seiendes als seiendes sagt, A als A, Nichtseiendes als Nichtseiendes. Es „wiederholt“ ja nur die erste Gegenstandsbestimmung der Ontologie: Seiendes als Seiendes, x als y.
Die Befolgung dieses Axioms garantiert leider keine wahre Aussage, sondern nur eine logisch richtige. Der Satz „Sokrates beendete sein Leben als angesehener und vielfach geehrter Athener Bürger“ hält sich durchaus ans Axiom, ist logisch ganz richtig, aber sehr unwahr. Denn das Axiom des Buches IV ist ganz schwach. Mit seiner Einführung in die Ontologie erweist sich diese als recht minimalistische, ja als fast-nichtige Veranstaltung. Seiend im Sinne der Ontologie ist jedwedes, was ein bißchen mehr als nichts ist - und sogar nichts kann als seiend gelten, wenn es richtigerweise als nichts anerkannt wird.
Die Ontologie schließt keinen Widerspruch aus. Es sei denn einen „Selbstwiderspruch“. Auch den Selbstwidersprecher läßt sie gern gelten, wenn er sich schön brav als Selbstwidersprecher deklariert – wie der angeblich immer lügende Kreter.

Walter Seitter
 


[1] Matthew Hall sieht schon bei dem unmittelbaren Aristoteles-Nachfolger und Botanik-Begründer Theophrastos von Eresos (371-287) Ansätze, den Pflanzen Wahrnehmung, Strebung und Intelligenz zuzusprechen. Siehe Matthew Hall: op. cit.: 30ff. Von seinem einflußreichen Schüler Demetrios von Phaleron (350-280) erhielt Theophrastos einen Garten geschenkt, der in der Nähe des peripatetischen Lykeions (zu meinem dortigen Besuch siehe Poetik lesen 2 (73ff.)) liegt und gewissermaßen zur Keimzelle des heutigen Athener Nationalgartens geworden ist.

Freitag, 11. April 2014

In der Metaphysik lesen (1006a 18 – 31)

Wir kommen auf unsere durch Aristoteles' beiläufige Erwähnung der Pflanzen (1006a 15) ausgelöste Diskussion über deren Fähigkeiten  bzw. Unfähigkeiten zurück. Ivo Gurschler bringt ein neues Buch zur „philosophischen Botanik“ mit, in dem die Einordnung und Einschätzung der Pflanzen gegenüber allen anderen Wesen der Natur dargestellt wird, wie sie in ungefähr allen Kulturen bisher formuliert worden ist.[1] Im großen und ganzen kommt Matthew Hall zum Ergebnis, daß die abendländische Kultur auf ihrem Sonderweg eine Abwertung der Pflanzen durchgesetzt hat, jedenfalls eine große Distanz zwischen deren Fähigkeit und den menschlichen. Aristoteles wird in diese Strategie eingegliedert – allerdings mit der bemerkenswerten Besonderheit seines „Zoozentrismus“.[2] Damit folgt Hall der Untersuchungsrichtung von Philippe Descola, die ich im April 2013 vorgestellt habe; eher noch stärker ist bei ihm die Distanzierung von der abendländischen „Ordnung der Dinge“ und das Sympathisieren mit einer eher animistischen „Aufwertung“ der Pflanzen. Ebenso wie Descola nennt er eine kulturell dominierende Klassifikation und Hierarchisierung aller Wesen die jeweilige „Ontologie“ einer Kultur.[3] Diese Verwendung des Begriffs ist eine gewissermaßen „ethnologische“ oder „historische“, aber semantisch geht sie in eine kosmologische Richtung.

Wenn wir die im Buch IV vorgeschlagene Untersuchungsrichtung als „Ontologie“ bezeichnen, hat dieser Begriff gewiß eine andere Bedeutung. Er richtet sich nicht auf alle in der Welt vorkommenden Dinge, Lebewesen und so weiter. Er verweilt hartnäckig beim begrifflich fixierten „Seienden“, nagelt es noch einmal auf seine Seiendheit fest, und öffnet es dann auf die Vielfalt seiner notwendigen Bestimmungen: diejenigen, die durch die zehn Kategorien benannt werden, aber auch noch weitere wie Entstehung und Vergehung – bis hin zu seiner Negation. Es geht also um eine immanente Dramatisierung des Seienden, die allen Seienden zukommt – gewiß auch den natürlichen und kosmischen (für die sich Aristoteles sehr interessiert hat: das Enzyklopädische des ethnologischen „Ontologie“-Begriffs war ihm nicht fremd, aber die Untersuchungsrichtung im Buch IV ist eine andere). Daß so ein berühmtes Wort wie „Ontologie“ verschiedentlich verwendet wird, ist kein Unglück. Wichtig ist nur, daß bei jeder Verwendung klargestellt wird, wie es verwendet wird.

Der indireke oder „elenktische“ Beweis für den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch besteht darin, daß Aristoteles eine erstaunliche Aussage über die Beweisführung macht: sie werde nämlich nicht vom Beweisführenden hervorgebracht sondern vom Diskussionspartner, der einer Argumentation nur dann widersprechen kann, wenn er sie zunächst einmal verstanden und insofern angenommen hat. Das geht aber nur, wenn die Wörter des Beweisführenden eine bestimmte Bedeutung haben – und zwar auch für den widersprechenden Diskussionspartner. Die indirekte Beweisführung geht auf die Diskussionssituation zurück, die auch dann vorausgesetzt werden muß, wenn in der Diskussion keine Einigung erzielt wird. Also die pragmatische Einbeziehung des Widerspruchs erweist die Notwendigkeit eines minimalen Konsenses: über die bestimmte Bedeutung der verwendeten Wörter und damit des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch.

Walter Seitter


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Sitzung vom 9. April 2014


[1] Siehe Matthew Hall: Plants as Persons. A Philosophical Botany (New York 2010).
[2] Siehe Matthew Hall: op. cit.: 26ff. Hall erfaßt damit die Mitte des aristotelischen Denkens oder wenn man will seiner „Ontologie“. Im Unterschied zu der von Heidegger unterstellten Onto-Theologie.
[3] Siehe Matthew Hall: op. cit.: 110.

Freitag, 4. April 2014

In der Metaphysik lesen (1006a 12 – 1006a 19)


Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch ist zwar nicht direkt beweisbar, wohl aber indirekt, nämlich „elenktisch“: dem das Gegenteil behauptenden Gesprächspartner wird gezeigt, daß er sich selber widerspricht. Das Beweisverfahren ist also insofern tautologisch, als die gegnerische These vom nicht-ausgeschlossenen Widerspruch als Selbstwiderspruch „vorgeführt“ und disqualifiziert wird. Es wird dem Gegenredner gezeigt, daß seine Gegenrede darauf hinausläuft, „überhaupt nichts zu sagen“ – obwohl er ja redet. Und da greift der Physiker (Naturphilosoph) Aristoteles zu einem drastischen Vergleich, indem er den Gegenredner mit Wesen gleichsetzt, die schon deswegen nichts sagen, weil sie überhaupt nicht reden: das sind die Pflanzen. Er hätte ihn auch mit einem solchen Tier gleichsetzen können, das offensichtlich – ich meine offenhörlich – redet: dem aber die logos-Beiziehung fehlt, welche das Reden zu einem Sagen macht.[1]

Mit seinem Sprung zwei Stufen unter das menschliche Niveau behauptet Aristoteles implizit, daß die Pflanzen überhaupt nicht reden oder (akustisch) signalisieren.

Er spricht ja den Pflanzen eine Seele zu, die aber nur die „Ernährung“ zustandebringt: Verwandlung von vorhandenen Stoffen in die Pflanze selber, somit auch deren Wachstum und Fortpflanzung. Abgesprochen werden den Pflanzen: Bewegung, Wahrnehmung, Strebung. Diese Leistungen wären demnach die Voraussetzungen für das tierische „Reden“ (Brüllen, Singen usw.) wie auch für das menschliche Reden, Sagen, Sprechen.
Stimmt es, daß man den Pflanzen die genannten Fähigkeiten absprechen muß? Neuere Forschungen verneinen das jedenfalls im Hinblick auf die Wahrnehmung. Fest steht, daß die Pflanzen die Stoffe aus ihrer Umwelt (Sonnenlicht, Erde, Wasser) selektiv und „zweckrational“ zum Zweck ihrer Selbsterhaltung und –vermehrung aufnehmen und verarbeiten – sodaß auch eine Art Strebung unterstellt werden muß (die im aristotelischen Begriff der entelecheia bereits impliziert ist). So etwas wie Reden wäre allerdings ein aktives Sich-Zeigen, das situativ geleistet wird. Arteigene Präsentierungsleistungen, wie visuelle Auffälligkeiten (Blütenfarben, Fruchtfarben), gehen in diese Richtung.

Am Mittwoch hielt Prof. Eugen Dönt einen Vortrag mit dem Titel
„Der wahre Grund für Platons Rede vom ‚Streit zwischen Philosophie und Dichtkunst’ und die beiden Formen des Wissens der Dichter“. Er stellte einen Platon vor, der ein dichterfreundlicher und selber dichterischer Philosoph ist. Hat er damit Platon richtig charakterisiert? Und wie stellt sich demgegenüber Aristoteles dar?

Da nunmehr nach langer Verzögerung auch der Band 2 von Poetik lesen erschienen ist, sollen wir versuchen, für Mitte Juni eine Buchpräsentation zustandezubringen. 

Walter Seitter


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Sitzung vom 2. April 2014


[1] Als eine weitere Stufe des Redens könnte man mit Lacan das Sprechen anführen, das nicht nur signalisiert (wie die tierischen Verlautbarungen), auch nicht nur signifiziert (wie die meisten menschlichen Aussagen), sondern evoziert (wie gelegentliche Sprechakte).