τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 13. April 2014

Ausgeschlossener Widerspruch ?

Die FAZ vom 11. April 2014 berichtet, daß am Tag zuvor die Mehrheit im Europarat (Straßburg) Rußland, das heißt den 18 russischen Abgeordneten, bis zum Ende dieses Jahres das Stimmrecht entzogen hat. Außerdem wurden diese Abgeordneten aus den Führungsgremien des Europarates ausgeschlossen. Für diese Resolution stimmten 145 Abgeordnete bei 21 Gegenstimmen und 22 Enthaltungen. Die russische Delegation hatte zuvor den Saal verlassen.
Die Ausschließungs-Resolution betraf also nicht alle, die sich nicht der Mehrheitsmeinung angeschlossen haben – das wären ungefähr 60 gewesen, sondern nur die Vertreter des Staates, dessen Handlung, nämlich die Annexion der Krim, Gegenstand der Abstimmung (und wohl auch der vorherigen Beratung) war.
Diese russischen Abgeordneten haben indessen ihren Ausschluß nicht direkt provoziert – etwa durch rüpelhaftes oder gar gewalttätiges Verhalten in der Straßburger Versammlung, sondern durch das politisch-militärische Handeln ihrer Regierung. Ihr Delikt bestand also im Vertreten einer Minderheitenmeinung, welches sie allerdings durch ihre Identifizierung mit dem Handeln ihrer Regierung bestärkt haben. Damit ist der „Widerspruch“ in der Straßburger Versammlung zwar nicht völlig, aber doch weitgehend ausgeschlossen, jedenfalls stark reduziert worden.
Hier ist auf einer pragmatischen Ebene reales Widersprechen gegen eine Mehrheitsmeinung tendenziell ausgeschlossen worden, indem die Widersprechenden – nicht alle, aber die als Zuwiderhandelnden identifizierten – faktisch ausgeschlossen worden sind.
Das von Aristoteles im Buch IV eingeführte und „bewiesene“ Axiom wird häufig als „Satz vom Widerspruch“ oder aber „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ bezeichnet. Eine ziemlich laxe A-oder-B-Bezeichnung, die uns schon skeptisch stimmen sollte. Anscheinend ist doch die Bezeichnung „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ die vollständigere, jedenfalls exaktere. Trotzdem kann man sie nicht mit irgendeiner realen Ausschließung von real Widersprechenden in Verbindung bringen. Im Gegenteil. Aristoteles’ indirekte Beweisführung für diesen Satz geht gerade nicht als Beweisführung vor, die wahr sein soll. Sie verweist vielmehr darauf, daß jedwede Beweisführung als Minimalvoraussetzung einen Beweisdiskussionspartner braucht, der minimalerweise sogar ein Widersprechender sein darf, ja sein soll – damit an ihm sich zeigt, daß er auch als Gegen-Argumentierender dieselbe Bestimmtheit der Wörter annehmen muß, die der Beweisführende verwendet.
Die indirekte Beweisführung operiert mit der Einbeziehung eines Widersprechenden. Die positive Einbeziehung des realen oder zumindest möglichen Widerspruchs weist die Notwendigkeit und Wahrheit des von Aristoteles eingeführten Axioms auf. Daher meine ich, daß seine Benennung als „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ nicht besonders gut paßt. Wir werden sehen, daß Aristoteles über dieses Axiom noch ausführlich schreiben wird, aber eine Benennung desselben sehe ich da nicht (möglicherweise findet sich bei ihm doch eine Benennung).
Jetzt noch zur Frage, wieso überhaupt dieses – oder überhaupt ein – Axiom hier eingeführt wird. Aristoteles’ Antwort: es bezieht sich auf alle Seienden - weil: auf das Seiende als seiendes. Deswegen also gehört es in die aristotelische Untersuchungsrichtung, die ich „Ontologie“ nenne. Trotzdem wirkt es wie ein Bruch, beinahe eine metabasis eis allo genos, in der Reihe der Seinsmodalitäten, welche bisher aufgemacht worden ist. Als Axiom ist es ein Satz, gehört also selber in die Sagebene und nicht direkt in die Seinsebene.

Die Erwähnung der Pflanze scheint eine Dimension aufgerissen zu haben, die wiederum mit Seienden zu tun hat – aber anders als die aristotelische Ontologie. Die Pflanze ist eine Sorte von Seienden. Und sie wird erwähnt, um eine andere Sorte von Seienden davon abzugrenzen, die Seienden, die Sagwesen sind, also die Beweisführer und die Widersprecher – beide gehören zu den Menschen, die ja „Lebewesen mit Logos“ sind. Pflanzen hingegen gelten für Aristoteles als Lebewesen ohne Logos.[1] Heißt das nun, daß Aristoteles die Seiendensorten in seine Ontologie einführt, womit er diese so auffassen würde wie neuerdings die Ethnologen (und vor denen auch schon Philosophen wie Nicolai Hartmann)? Nein – er macht hier keine Klassifikation der Seienden auf, aber erwähnen kann er sie schon; sie sind ja Seiende.
Wieso aber gehört das jetzt eingeführte Axiom zu den Seinsmodalitäten im Sinne der Ontologie? Weil das Axiom sich auf das Seiende als seiendes bezieht. Und das tut es mit aller Bestimmtheit: es schreibt ja nur vor, daß man Seiendes als seiendes sagt, A als A, Nichtseiendes als Nichtseiendes. Es „wiederholt“ ja nur die erste Gegenstandsbestimmung der Ontologie: Seiendes als Seiendes, x als y.
Die Befolgung dieses Axioms garantiert leider keine wahre Aussage, sondern nur eine logisch richtige. Der Satz „Sokrates beendete sein Leben als angesehener und vielfach geehrter Athener Bürger“ hält sich durchaus ans Axiom, ist logisch ganz richtig, aber sehr unwahr. Denn das Axiom des Buches IV ist ganz schwach. Mit seiner Einführung in die Ontologie erweist sich diese als recht minimalistische, ja als fast-nichtige Veranstaltung. Seiend im Sinne der Ontologie ist jedwedes, was ein bißchen mehr als nichts ist - und sogar nichts kann als seiend gelten, wenn es richtigerweise als nichts anerkannt wird.
Die Ontologie schließt keinen Widerspruch aus. Es sei denn einen „Selbstwiderspruch“. Auch den Selbstwidersprecher läßt sie gern gelten, wenn er sich schön brav als Selbstwidersprecher deklariert – wie der angeblich immer lügende Kreter.

Walter Seitter
 


[1] Matthew Hall sieht schon bei dem unmittelbaren Aristoteles-Nachfolger und Botanik-Begründer Theophrastos von Eresos (371-287) Ansätze, den Pflanzen Wahrnehmung, Strebung und Intelligenz zuzusprechen. Siehe Matthew Hall: op. cit.: 30ff. Von seinem einflußreichen Schüler Demetrios von Phaleron (350-280) erhielt Theophrastos einen Garten geschenkt, der in der Nähe des peripatetischen Lykeions (zu meinem dortigen Besuch siehe Poetik lesen 2 (73ff.)) liegt und gewissermaßen zur Keimzelle des heutigen Athener Nationalgartens geworden ist.

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