τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 24. April 2014

In der Metaphysik lesen (1006a 32 – 1006b 11)

Zunächst kommen wir darauf zurück, daß Joe Sachs innerhalb der Metaphysik „Ontologie“ und „Theologie“ unterscheidet. Und zwar sagt er, das Gesamtwerk sei von Aristoteles selber „Theologie“ genannt worden, von anderen Autoren viele Jahrhunderte später „Ontologie“. Wir haben eine ähnliche Unterscheidung angebracht, sie aber nicht auf die Titulatur bezogen. Was diese betrifft, so nennt Aristoteles die „gesuchte Wissenschaft“ anfangs „Weisheit“, dann „Erste Philosophie“, schließlich „Theologie“. Allerdings scheint nicht ganz sicher zu sein, daß eine jede dieser Bezeichnungen sich auf das Gesamtwerk bezieht. Denn dieses scheint ja doch erst im Laufe von Jahren zustandegekommen zu sein (selbst wenn es bereits von Aristoteles in seinem Gesamtumfang festgelegt worden ist). Der Titel „Erste Philosophie“ paßt mit seiner sachlichen Neutralität leichter auf das Gesamtwerk als der sehr spezielle Titel „Theologie“, der doch nur im Buch XII eingelöst wird.
Unabhängig davon, ob die Bezeichnung „Ontologie“, die erst um 1600 aufgekommen ist, damals als Titel für das Gesamtwerk gedacht war oder nicht, ziehe ich es vor, unter „Ontologie“ eine Forschungsrichtung zu verstehen, die zuerst im Buch IV vorgeführt wird und die sich recht deutlich von der in den vorherigen Büchern angekündigten Forschungsrichtung abhebt, welche auf „die ersten Gründe und Ursachen“ abzielt und für welche die Bezeichnung „Metaphysik“ passend erscheint und welche tatsächlich letztlich in einer Theologie ihren Abschluß finden kann.
Unter „Ontologie“ im aristotelischen Sinn verstehe ich also die im Buch IV eingeführte Untersuchungsrichtung, würde aber bei meinem jetzigen Kenntnisstand auch nicht das Buch IV so titulieren. Eher tituliere ich die aristotelische Ontologie als die im Buch IV eingeführte (um sie von eventuellen anderen zu unterscheiden, etwa von der „kosmographischen“ Ontologie einiger gegenwärtiger Ethnologen). Wie ich auch den sogenannten Satz vom (ausgeschlossenen) Dritten lieber als „Axiom des Buches IV“ bezeichne.
Aristoteles fügt dieses Axiom in die Serie der Seinsmodalitäten ein, die sich an die Wesenheit anschließen, welche nach dem allgemeinen Gegenstand „das Seiende“ der erste Gegenstand seiner Ontologie ist.
Wenn ich in einigen früheren Schriften den Begriff „ontologisch“ verwendet habe, dann nicht in der abgehobenenen, isolierten Redeweise, die Aristoteles anschlägt, sondern im Zuge irgendeiner „Physik der Dinge bzw. Erscheinungen“, wenn mir das Hin und Her zwischen Ding und Erscheinung, zwischen Erscheinen und Verschwinden, zwischen Entstehen und Vergehen auffällig zu werden schien. Zum Beispiel im Bereich des Sagens, des Schlafens und Wachens, der Farbflecken auf der Leinwand. Da kann sogar so etwas wie Kosmogonie auftauchen – aber nicht als Weltentstehung im Sinne des biblischen Schöpfungsberichts oder der Urknalltheorie, sondern als Weltentstehung im Hier und Jetzt. Und so eine fortlaufende Weltentstehungsannahme scheint sogar mit der aristotelischen Auffassung von der Ewigkeit der Welt vereinbar. Für ihn ist die Welt „ewig“, weil wir annehmen müssen, daß sie vor uns da war und nach uns da sein wird: von uns aus, von unseren wenigen Lebensjahrzehnten aus gesehen (und erwartet) ist sie offensichtlich „ewig“. Die Beständigkeitskerne in ihr sind die Wesenheiten – die aber werden von den kontra-wesenhaften Seinsmodalitäten (wie sie in der Ontologie dramatisch thematisiert werden) umgeben, angenagt, bedroht und sind vorläufig wohl doch nicht ganz und gar umzubringen. Die aristotelische Ontologie führt eine Ontodramatik ein.
Es gibt Welterhaltungskräfte – die liegen aristotelisch in den Wesenheiten, auch in den selbständig existierenden Wesen, wie wir welche sind. In den Wesen wirken hoffentlich Selbsterhaltungskräfte, die sich gegen die ebenso wirksamen Verfallstendenzen durchsetzen – jedenfalls gelegentlich, fallweise, zeitweise. In diesem Hin und Her und Da und Dort wirkt die Ontologie „ewig“ „kosmogonisch“ „dramatisch“. Wie in der Poetik analysiert: größere Handlungszusammenhänge, die aus vielen kleinen Handlungswendungen, -unfällen, -wundern zusammengesetzt sind.
Demnach ist Ontologie keine selbständige Disziplin sondern findet fallweise als ontologische Verschärfung oder Auflösung in philosophischen Betrachtungen  unterschiedlicher Themenrichtung statt.
Was nun das Axiom des Buches IV betrifft, so fordert es, daß die Ausdrücke, die wir beim Sprechen einsetzen, auch beim Sprechen mit  uns selber, jeweils eine bestimme Bedeutung haben müssen. Dabei kann es durchaus vorkommen, daß ein Wort zwei oder drei Bedeutungen hat, nicht jedoch unendlich viele. Für die jeweilige zweite oder dritte Bedeutung kann man in der Regel auch andere Wörter einsetzen, jedenfalls kann man sie mit zusätzlichen Wörtern erklären: z. B. „Ontologie“ im Sinne von Buch IV oder „Ontologie“ im Sinne der Ethnologen. Doch in der jeweiligen Wortverwendung muß die Bedeutung festliegen.

Walter Seitter


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Sitzung vom 23. April 2014

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