τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 6. Juli 2014

Dramatisierung der Metaphysik


Bericht aus einer laufenden Unternehmung

Was immer man unter „Metaphysik“ verstehen mag – eine Teildisziplin der Philosophie, und zwar die höchste, oder eine verschämte Umschreibung für religiöse, gar göttliche Dinge: eine gute Presse hat sie nicht. Bei den Philosophen gilt Immanuel Kant (1724-1804) als derjenige, der ihr schon vor über 200 Jahren den Todesstoß versetzt haben soll (obwohl er sich 1797 zu einer Metaphysik der Sitten aufgerafft hat). Man sagt der Metaphysik ein gespanntes Verhältnis zu den empirischen Wissenschaften nach, von denen allein zuverlässige Auskunft über das, was wirklich ist, erwartet werden kann. Metaphysik versteige sich in Spekulationen, die im Grunde genommen jeder für sich anstellen könne. Beide Teile des Wortes stehen jeweils für eine „Richtung“, welche das damit Gemeinte als wenig attraktiv erscheinen lassen: meta lässt an „Transzendenz“ oder an „jenseits“ denken, also an etwas, was weit weg ist und uns nicht betrifft; und physik erinnert zwar an die von allen geschätzte Naturwissenschaft, aber in Verbindung mit meta überwiegt die Konnotation des „Gegebenen“, des „Vorgegebenen“, das sich unserer Freiheit, unserem Handelnkönnen, unserer ersehnten Kreativität  widersetzt. Auf diese Weise hat sich die Bedeutung von „Metaphysik“ in ein Eck verschoben, wo sich das Entfernte und Abstrakte mit dem Leblosen und dem Nicht-Pragmatischen trifft.[1]

Anstatt diesem so angedeuteten Problemkomplex direkt zu Leibe zu rücken, begnüge ich mich damit, von einem derzeit laufenden Vorhaben zu berichten, das sich einerseits mit dem wohl wichtigsten Quellentext der gesamten Metaphysik-Problematik, nämlich mit dem aristotelischen Buch namens Metaphysik, beschäftigt, und sich andererseits durch eine sehr schlichte, fast laienhafte, aber auch bewusst langsame und auseinandergezogene Vorgangsweise auszeichnet.

Seit 2011 lese ich in Wien mit der „Hermesgruppe“, einer Gruppe aus circa fünf Personen, jeweils am Mittwochnachmittag, das genannte aristotelische Buch. Es handelt sich um eine nicht sehr homogene Gruppe: nicht alle sind studierte Philosophen, nicht alle haben bereits Griechisch gelernt. Jede Person trägt das Ihre zum gemeinsamen Lesen bei: ihre Kenntnisse und ihre Interessen, ihre bevorzugte Textausgabe, ihre Diskussionsbeiträge. Wir ziehen gleichzeitig einige unterschiedliche Übersetzungen (auch englischsprachige und neugriechische) heran und schauen im Falle von schwierigen oder besonders interessanten Stellen in den griechischen Text hinein, schlagen notfalls auch im Griechisch-Lexikon nach. Lesen und Besprechen sind die beiden Haupttätigkeiten an den Mittwochen. Das Besprechen bzw. Diskutieren reicht vom philologischen Verstehenwollen bis zum philosophischen Nachvollziehen, Vergleichen, Infragestellen, wobei auch andere Disziplinen sowie persönliche Erfahrungen eingebracht werden können. Philosophisches Vergleichen bezieht sich etwa auf Positionen anderer Philosophen der Vergangenheit oder der Gegenwart; andere Disziplinen werden herbeizitiert, weil Philosophieren, das sich total abschotten würde, steril zu werden droht; persönliche Erfahrungen kommen aus vielerlei Bereichen, sei es aus Berufswelten, aus Kunsterfahrungen, aus Reisen an die Stätten antiker Philosophie.

Das breite Spektrum des gemeinsamen Assoziierens mag dem streng akademischen Charakter unserer Lektüretätigkeit abträglich sein. Noch stärker wird dieser wohl dadurch in Frage gestellt, dass wir unser „Lesen in der Metaphysik“ jedenfalls zunächst einmal von Sekundärliteratur fast freigehalten haben. Denn es war unsere Ambition, dass wir selber uns mit dem Text selber konfrontieren, anstatt uns von vornherein von der riesigen Rezeptions- und Interpretations-, Verständnis- und Verkennungsgeschichte verschlingen zu lassen.

Anstatt uns von dieser aufhalten zu lassen, bauen wir selber die Umwege und Seitenwege ein, die uns daran hindern, allzu schnell verstehen zu wollen.

Wir machen uns unser Lesen selber langsam: in jeder Sitzung wird höchstens eine Seite des aristotelischen Textes durchgenommen- dabei handelt es sich um ziemlich kleine Seiten, nämlich jeweils eine Spalte der sogenannten Bekker-Zählung (ca. 1750 Zeichen).

Da wir von den universitären Gepflogenheiten immerhin die langen Ferien übernehmen, kommen wir im Jahr auf höchstens dreißig Sitzungen und so haben wir in den drei Jahren 2011 bis 2013 die ersten drei der insgesamt vierzehn Bücher der Metaphysik gelesen.

Was waren die Erfahrungen dieser Lektüre? Der Text legt sich nicht von Anfang an auf einen bestimmten Gegenstand fest, den er etwa „Metaphysik“ nennt. Er skizziert eine Anthropologie der Erkenntnis und nur allmählich deutet er eine Thematik an, die man mit „Metaphysik“ assoziieren kann – ohne dass dieser Begriff jemals vorkommt. Er selber umschreibt sie ganz pragmatisch mit „gesuchte Wissenschaft“ und setzt für diese einmal diese und dann wieder eine andere Bezeichnung ein. Das zweite und das dritte Buch setzen jeweils neu ein – immerhin so, dass allmählich ein durchgehender roter Faden erkennbar wird. Man hat es offenbar mit einer Suchbewegung zu tun, die halb diskontinuierlich, halb kontinuierlich, halb zickzackförmig, halb geradlinig voranschreitet. In der Mitte des vierten Lesejahres sind wir immerhin in der Mitte des vierten Buches angelangt, das die größte Überraschung bereitgehalten hat. Das Programm einer Suche nach den letzten (Aristoteles sagt: nach den ersten) Ursachen wird plötzlich ersetzt durch das Programm einer ganz immanentistischen Betrachtung und Differenzialanalyse dessen, was überall und jederzeit vorliegt. Gleichzeitig verschärft sich sein polemischer Ton gegen philosophische Konkurrenten, es intensiviert sich der Nahkampfcharakter in der Auseinandersetzung.

Unsere ein bisschen laienhafte und dennoch umständliche, jedenfalls sehr auseinandergezogene Lese- und Besprechungstätigkeit in der Gruppe nenne ich jetzt einmal ein bisschen bombastisch „Wissenschaftsperformanz“, um ihren Aktionscharakter zu betonen, der durch die Langsamkeit spürbar wird und spürbar bleibt: die Performanz verschwindet nicht gegenüber etwelchen Resultaten, die sich wissenschaftlich bestätigen oder widerlegen lassen.

Auf der anderen Seite scheint sie auf die Resultate, also auf den Eindruck, den wir vom Gegenstand, vom aristotelischen Text, gewinnen, durchzuschlagen. Unsere Vorgangsweise steckt den Gegenstand gewissermaßen an: und zwar mit Langsamkeit, mit Prozeduralität, mit Bewegungscharakter: er erscheint als Suchbewegung mit erkennbarem Bewegungsprofil.[2]

Mit Wissenschaftsperformanz meine ich also zunächst unsere eigene Tätigkeit, in der immerhin zwei Wissenschaften zum Einsatz kommen, die Philosophie und die Philologie. Damit will ich nicht den Anspruch auf allerhöchste Wissenschaftlichkeit erheben – sondern eher im Gegenteil das Bekenntnis zu einem Wissenschaftstun, das seine eigenen Kontingenzen nicht vertuscht: also zur Seite der „Schaftlichkeit“.

Ich würde diese Bestandsaufnahme in Sachen Metaphysik-Lektüre wohl nicht erbringen können, wenn unserer Lektüre nicht schon ein größerer Vorlauf vorangegangen wäre. Von 2007 bis 2010 hat dieselbe Hermesgruppe ein sehr anderes Buch von Aristoteles gelesen: die kleine Poetik haben wir in einem ähnlichen Tempo gelesen, nämlich in vier Jahren. Und da wir wie auch jetzt schon damals jede Mittwoch-Sitzung in einem Protokoll dokumentiert, genauer gesagt: mitgeschrieben, miterzählt haben, konnte aus den Protokollen eine größere Nachschrift oder Nacherzählung gemacht werden, und die ist auch in Form von zwei Büchern erschienen: Poetik lesen 1 (Berlin 2010), Poetik lesen 2 (Berlin 2014).[3]

Für diese Nachschrift präge ich den Begriff „Wissenschaftserzählung“. Erzählung von Wissenschaft als Machenschaft mitsamt Resultaten. Erzählt worden sind in erster Linie unsere Tätigkeiten, also das Lesen und Besprechen, in zweiter Linie die Thematik unseres Lesens und Besprechens – also die aristotelischen Fragestellungen und Darlegungen und deren Themen: also die Dichtung, die Tragödie, die Komödie, das Epos mit ihren jeweiligen Narrativitäten.

Die Wissenschaftserzählung verhält sich zur Wissenschaftsperformanz ungefähr wie Signifikant zu Signifikat und obwohl in diesem Fall dem Signifikat ein gewisser Vorrang nicht abgesprochen werden muß, hat doch auch die (von Lacan so betonte) Umkehrung ihren Sinn: eine dramatisierende Erzählung wird ihrem Gegenstand, auch wenn der „nur“ aus Wissenschaft besteht, eine Performativität entlocken, die man ihm gar nicht zugetraut hätte.

Unsere Metaphysik-Lektüre baut auf Poetik lesen auf, insofern dort unsere Wissenschaftsperformanz in einer Wissenschaftserzählung bestätigt worden ist. Nun erproben wir für die Metaphysik eine analoge Dramatisierung und Narrativisierung. Je nach dem, wie sie gelingen, wird man jenes berühmte Buch in Hinkunft anders lesen können.

Walter Seitter






[1] Eine Übersicht über die Stadien und Motive der Metaphysik-Kritik und des Metaphysik-Überdrusses findet sich bei Rémi Brague: Les ancres dans le ciel. L’infrastructure métaphysique (Paris 2011): 15ff.
[2] Ohne die philologischen Fragen, die sich an die Redaktion der Metaphysik anschließen lassen, auch nur zu berühren, lässt sich doch vermuten, dass eine Lesezeit von drei Jahren für drei Bücher den seinerzeitigen Entstehungszeiten immerhin nahekommen könnte: analogia temporum.
[3] Nunmehr gibt es also die aristotelische Poetik wieder in zwei Büchern – nur dass jetzt beide erhalten und sogar erhältlich sind. Das grausame Schicksal, das Umberto Eco im Namen der Rose dem seinerzeitigen Zweiten Buch zugeschrieben hat, muß kein endgültiges sein.