τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 27. Februar 2015

In der Metaphysik lesen (1016a 1-14)

Der britisch-amerikanische Philosoph Barry Smith, der sich hauptsächlich als Ontologe versteht, verbindet seine Auffassung von Philosophie mit starkem Interesse für die österreichische Philosophie, die seit dem späten 19. Jahrhundert eine Schule des logischen Empirismus hervorgebracht hat. Seit einigen Jahren fragt man sich mehr und mehr, wieso es zu dieser österreichischen Entwicklung gekommen ist, die sich deutlich vom Mainstream deutschen Philosophierens absetzt. Barry Smith, dessen erstes 1994 erschienenes Buch Franz Brentano (1838-1917) gewidmet war, möchte die Frage beantworten, indem er sie durch eine anscheinend entgegengesetzte These ersetzt. Den Sonderfall philosophischer Entwicklung habe nicht Österreich sondern Deutschland hervorgebracht: mit dem Deutschen Idealismus und weiterhin mit Nietzsche und Heidegger sei das begründet worden, was man seit einigen Jahrzehnten als „Continental Philosophy“ bezeichnet: ein Philosophieren, das sich stärker an Literatur und Politik anlehnt als an wissenschaftliches Forschen und Argumentieren, und dessen Ergebnisse sich durch Kommentarbedürftigkeit und sogar durch Unübersetzbarkeit auszeichnen.[1] Die deutsch-französische – von Amerika aus so benannte - „Continental Philosophy“ stehe der normalen Philosophie gegenüber, die weltweit verbreitet ist, die die Standards der Wissenschaftlichkeit nicht ignoriert – und mit der Philosophie überhaupt erfunden worden ist: also auch mit Aristoteles.
Daher geht es in unserer Lektüre hier nicht darum, einen tiefsinnigen Text zu feiern, sondern eine rationale Suchbewegung zu verstehen, ihr auch mit eigenen Fragen und Thesen zu begegnen, sofern diese geeignet erscheinen, den Text mitsamt seinem Sachbezug verständlich zu machen.
So habe ich im letzten Protokoll die Frage aufgeworfen, ob die akzidenziellen Bestimmungen (mit ihrer Art von Einheit, also Zugehörigkeit) total nicht-notwendig im Raum schweben. Oder ob auch sie mit einer Art Notwendigkeit verbunden sind. Im Sinne der „Unvermeidlichkeit der Akzidenzien“ (Menschenfassungen: 169ff.) habe ich die These aufgestellt, dass die nicht-notwendigen Akzidenzien in aller Regel einer bestimmten Notwendigkeit unterstehen: dass sie als Variablen in konstanten Parametern auftreten, die zu bestimmten Wesen gehören. Menschen müssen nun einmal irgendwelche ethischen Eigenschaften haben – auch wenn sie das theoretisch oder sonstwie (siehe Der Mann ohne Eigenschaften – das Gegenbuch gegen den von Per Leo nachgezeichneten „Charakterismus“ der vorletzten Jahrhundertwende) vermeiden zu können meinen. Ebenso hängen den Menschen notwendige Dimensionen physischer Eigenschaften an: zum Beispiel Geschlecht, Körpergröße, Augenfarbe. Diese Skalen kann man Eigenschaftsdimensionen oder Parameter nennen und damit wird das von Aristoteles Gesagte nicht unbedingt korrigiert, wohl aber vervollständigt. Oder ich habe hier das moderne Präfix „meta“, das der - indirekt aus der Brentano-Schule stammende - polnische Logiker Alfred Tarski (1901-1983) erfunden hat, um die Metasprache von der Objektsprache zu unterscheiden, eingeführt, um den Gesamtduktus der aristotelischen Metaphysik klarer zu machen. Und wie verläuft dieser Duktus bisher? Aristoteles versucht sowohl objektsprachlich wie metasprachlich über die einzelnen schon gegebenen Wissenschaften hinaus Rationalität auszuweiten – und zwar wissenschaftliche.
Nach der akzidenziellen Einheit bespricht Aristoteles das „Eine an sich“. Und zwar zuerst das Kontinuum, welches sich dadurch auszeichnet, dass es viel Vielheit (im Sinne von Ausdehnung) enthält. Unterschiedliche Typen von Kontinuum enthalten mehr oder auch weniger Einheit. Als Maß der räumlichen Einheit wird die Einheitlichkeit der Bewegung aufgestellt – so kommt auch die Zeit in Betracht. Die Kontinuen schließen „kontinuierlich“ an die akzidenziellen Einheiten an.
Bleibt die Frage, wieso das Eine in der antiken Philosophie (und überhaupt in den Wissenschaften) so ein wichtiger Grundbegriff (und zwar nicht nur in der Mathematik) war und wieso das heute nicht mehr der Fall zu sein scheint.
Für uns ist „ein(e)s“ ein Zahlwort und darauf scheint Gianluigi Segalerba zu rekurrieren, wenn er einen Aufsatz „Numerische Einheit als ontologisches Kriterium. Zur Unterscheidung der Entitäten bei Aristoteles“ nennt. Er bezieht das „Eine“ nur auf die aristotelische „erste Substanz“, also das existierende Ding, das dem „Allgemeinen“ gegenübersteht. Hingegen sieht er in der platonischen Lehre eine „stufenartige Ontologie“: Existenz eines unvollkommenen Abbildes sowie eines vollkommenes Urbildes.[2]


PS.: Thomas Sautner, der Autor des finanzpolitischen Gesprächs zwischen Aristoteles und dem Engelchen (DER STANDARD, 21. 2. 2015), wird am 26. März 2015 in der Sonnenfelsgasse 3 lesen.


Walter Seitter


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Sitzung vom 25. Februar 2015 




[1] Siehe Barry Smith: Philosophie, Politik und wissenschaftliche Weltauffassung: Zur Frage der Philosophie in Österreich und Deutschland, in: R. Haller (Hg.): 1ff.
[2] Siehe Gianluigi Segalerba: Numerische Einheit als ontologisches Kriterium. Zur Unterscheidung der Entitäten bei Aristoteles, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, XXXV/2003: 82f. 

Donnerstag, 19. Februar 2015

In der Metaphysik lesen (1015b 15 – 35)

Der nächste Begriff in diesem „Wörterbuch“ lautet „eines“. Bekanntlich das erste Element der Zahlenreihe und als solches oder aber darüber hinaus ein theoretischer Begriff, der uns auch schon mehrmals untergekommen ist, so in der Form „eines als eines“: parallel bzw. konvertibel mit „seiend als seiend“. Auch am Schluß des letzten Abschnittes war die Rede von „einfach“ in einem wohl verwandten Sinn.
Hier unterscheidet Aristoteles zwei Bedeutungen: eines im Sinne von „symbebekotisch“, „akzidenziell“, „zustoßend“ - oder eines „an sich“.
Bei der ersten Bedeutung von „ein“ handelt es sich um die nicht notwendige Zusammenfügung von unterschiedlichen Bestimmungen (Wesenheit als spezifische Soseinsbestimmtheit – hier „Mensch“; konkret-existierender Mensch mit dem Namen „Koriskos“; Fähigkeiten oder Eigenschaften auf der Ebene von Charakter oder Kompetenz). Zu diesem Behufe wird der arme Koriskos zunächst einmal nach Strich und Faden zerlegt, ohne daß diese Zerlegung dann auch genetisch analysiert wird - etwa nach Natur und Kultur. Insgesamt machen die genannten Eigenschaften einen eher kulturellen Eindruck; nur die Wesenheit muß als natürlich gelten. (Bei den Kausalitäten unterscheidet Aristoteles die natürliche, die künstliche und darüber hinaus die zufällige) Auf die Wesenheit trifft ohnehin das Eine im Sinn von „an sich“ zu.
Der Abschnitt über das akzidenzielle Eine spielt auf die Akzidenzien überhaupt an und da stellt sich die Frage, ob die akzidenziellen Eigenschaften wirklich mit Notwendigkeit nichts zu tun haben. Mir scheint, daß bestimmten Wesenheiten bestimmte Eigenschaftsdimensionen notwendig zukommen – nur die jeweils auftretenden Eigenschaften sind zufällig: und zwar im Vergleich zur Wesenheit, nicht aber gegenüber dem konkreten Individuum. Menschen müssen so etwas wie „Charakter“ haben: und der fällt so aus oder so oder verändert sich vielleicht sogar. Oder ein physisches Ding muß an einer bestimmten Stelle farbig sein: die Farbe kann so sein oder so oder kann sich ändern. 

Walter Seitter


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Sitzung vom 18. Februar 2015 

Sonntag, 15. Februar 2015

Nachtrag (Begriffe haben bestimmte Bedeutungen)

Ludwig Wittgenstein: „Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – ‚Wissen’, ‚Gegenstand’, ‚Ich’, ‚Satz’, ‚Name’ – und das Wesen des Dinges zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.“
Gewissermaßen ähnlich ist Heidegger vorgegangen, wenn er die philosophischen Begriffe, zumeist die griechischen, auf ihre etymologischen Wurzeln und deren Semantik zurückgeführt hat: logos auf legein, d. h. reden, aber ursprünglich – angeblich - sammeln als eine physisch-häusliche Tätigkeit.
Im frühen 20. Jahrhundert wirkte in Wien der Publizist, Schriftsteller und Dichter Karl Kraus (von dem sich Ludwig Wittgenstein inspirieren ließ) und eines seiner Anliegen war der Kampf gegen die „Phrase“: damit meinte er den Gebrauch hoher Worte, ohne genaue Vorstellung von ihrer Bedeutung (Signifikat und Referent), Sprachgebrauch ohne Vorstellungskraft bzw. Vorstellungsleistung. Und in diesem Sinne möchte ich mir die von Wittgenstein aufgestellte Empfehlung zu eigen machen (an ihn allerdings auch die Frage richtend, was er denn mit „metaphysisch“ meine) – und zwar speziell für unsere Aristoteles-Lektüre, mit der ja immer Übersetzen und Sprechen über das Gelesene verbunden ist. Dieses Sprechen sollte frei von „Phrasen“, von leeren Worthülsen sein. Dies umso mehr, als Aristoteles selber, wie wir eben bei seiner Behandlung der Begriffe physis oder „notwendig“ gesehen haben, vorgeht wie Wittgenstein empfiehlt: Ausgang von Alltagsbedeutungen, eventuell auch von Etymologien, der betreffenden Wörter. Aristoteles ist eben ein „analytischer“ Philosoph.
Von Karl Kraus beeinflusst war seinerzeit auch der junge Eric(h) Voegelin. Wie schon irgendwann erwähnt gehörte er in den Zwanzigerjahren in Wien zum „Geist-Kreis“ – einer national-ökonomisch und soziologisch ausgerichteten Parallelaktion zum „Wiener Kreis“. Diesem gehörte zwar Wittgenstein nicht direkt an, aber seine wegwerfende Verwendung des Wortes „metaphysisch“ mochte ihn mit ihm verbinden. Voegelin seinerseits hat jedenfalls in seinen späteren Jahren von der Philosophie des Wiener Kreises wenig gehalten und in den Darstellungen gilt er als Vertreter einer konservativen und beinahe religiösen Politik-Theorie. Es mag sein, daß diese Bezeichnungen etwas treffen. Aber auf der erkenntnistheoretischen Metaebene hat er sich scharf von allen Dogmatisierungen, philosophischen oder religiösen, distanziert und betont: es geht um Erfahrungen und die müssen symbolisiert werden und die Symbolisierungen können so oder so ausfallen, sie sollten möglichst differenziert sein: also präzis und nicht simplifizierend. Das heißt: es kann immer wieder bessere Symbolisierungen geben und bessere Symbolisierungen wirken sich wiederum auf die Verfeinerung von Erfahrungen aus. Mit den Begriffen „Erfahrung“ und „Symbolisierung“ gerät Voegelin in die Nähe der Sprache des Wiener Kreises (was ihm wohl nicht ganz entgehen konnte). In der ZEIT vom letzten Donnerstag (12. Februar 2015) erwähnt Bruno Latour Voegelins These (und Postulat) von der Differenzierung von Vorstellungen sowie Symbolen.
Um auf den zitierten Satz von Wittgenstein zurückzukommen: Was heißt „Wesen“ bei Aristoteles?

Walter Seitter

Donnerstag, 12. Februar 2015

In der Metaphysik lesen (1015a 30 – 1015b 15)

Die beiden ersten, die „praktischen“ Bedeutungen von „notwendig“, die Aristoteles einerseits in erfolgreichen Mittel-Zweck-Verbindungen, andererseits in der Blockierung des Wünschens durch fremde Gewalt sieht, laufen auf „ursächlich“ hinaus, sind also eigentlich theoretischer, nämlich physischer Natur. Aristoteles sagt das dann auch noch ausdrücklich und spricht noch einmal von „mitursächlich“. Dies bedeutet, dass eine Wirkung mehr als eine Ursache hat. Was wegen der vierfachen Ursachenstruktur (bei Aristoteles) ohnehin unvermeidlich ist; es kann aber wohl auch der Fall eintreten, dass irgendwo nicht nur eine Wirkursache am Werk war. Hier sei erwähnt, daß Uwe Meixner eine historische Verschiebung von der Agenskausalität zur Ereigniskausalität annimmt, eine ontologiehistorische Verschiebung.[1] Die Zurückstellung göttlicher und menschlicher Akteure und die wahrscheinlich-notwendige Verknüpfung der pragmata innerhalb der Tragödie (in der Poetik) geht wohl in Richtung Ereigniskausalität.
Die eigentliche Bedeutung von „notwendig“ liegt darin, daß sich etwas nicht anders verhalten kann (1015a 34, 1015 b 8). Der Begriff echein (sich verhalten) taucht unter den Akzidenzien als hexis auf, doch scheint er dem Wort sein semantisch sehr nahezustehen.
In der Logik ist notwendig, was in einer Beweisführung von Voraussetzungen aus erschlossen wird. Diese sind zwar Sätze, doch auch sie werden „Ursachen“ genannt.
Und dann oder vielmehr zuallererst ist notwendig, was ohne eine ihm äußere Ursache in sich selber „einfach“ ist oder „nur eines“, in seinem Verhalten ohne Mehrfachmöglichkeit. Davon spricht Aristoteles in einem Wenn-Satz und im Plural: irgendwelche Ewige und Unveränderliche, denen keine Gewalt etwas anhaben kann. Für „irgendwelche“ setzt Aristoteles eine Abkürzung ein, die im Deutschen mit „irwelche“ oder „irche“ nachgeahmt werden könnte – damit sie als fern und irgendwie ... Sind die nur in sich selber notwendig oder ist ihre Existenz von uns aus gesehen, die wir nicht solche sind, notwendig anzunehmen – als Ursachen von uns?
Wenn sich Aristoteles in Richtung „Metaphysik“ bewegt, dann so.

Walter Seitter



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Sitzung vom 11. Februar 2015 


[1] Siehe Uwe Meixner: Theorie der Kausalität. Ein Leitfaden zum Kausalbegriff in zwei Teilen (Paderborn 2001): 320ff.

Donnerstag, 5. Februar 2015

In der Metaphysik lesen (1015a 20 – 33)

Nach physis ist „notwendig“ der nächste hier behandelte Begriff – im Unterschied zu den vorhergehenden durch ein Adjektiv vertreten, folglich gewiß einer anderen Kategorie zugehörig. Aber welcher?
Auch bei diesem Begriff nennt Aristoteles verschiedene Bedeutungen. Die erste wird durch Beispiele veranschaulicht, die jeweils eine Bedingung oder ein Mittel für eine erwünschte Zweckrealisierung darstellen: nützliche und daher gute Mittel. Für das Leben der Lebewesen, für die Erhaltung der Gesundheit oder für den Empfang einer Geldsumme (dafür wird beispielshalber als notwendige Bedingung eine Reise nach Ägina genannt – also nichts, was mit Natur zu tun hat; heutzutage könnte man den Besitz einer Kreditkarte und den Gang zu einem Bankomaten oder aber gute Beziehungen zu einer bestimmten Bank nennen). Im übrigen werden diese Mittel von Aristoteles auch als „ursächlich“ (genauer „mitursächlich“) bezeichnet – insofern schließen sie sich an die ersten vier Begriffe an.
Die zweite Bedeutung von „notwendig“ sieht sehr konträr aus: nämlich irgendeine Gewalt oder einfach irgendein Faktor oder eine Tatsache, die sich meinem Trieb, meinem Willen widersetzt – und zwar siegreich. Also mich zur Unfreiheit oder Erfolglosigkeit verdammt. Und daher – für mich – eine Niederlage, ein Unglück bedeutet. Auch hier ließe sich der Begriff „Ursache“ einführen: Ursache meines momentanen Scheiterns oder meiner dauernden Erfolglosigkeit.
Diese beiden Bedeutungen von „notwendig“ gehen also ins Praktische, ins Existenzielle. Ihre Darstellung kann auch Sache von Erzählungen sein: Historiographie, Dichtung. Davon war in der Poetik die Rede und Aristoteles zitiert eine Stelle aus Sophokles’ Elektra.

Walter Seitter


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Sitzung vom 4. Februar 2015