τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 19. März 2015

In der Metaphysik lesen (1016b 12 – 18)

Anteskriptum:

Wissenschaftszuwachs für Wien

Der Schweizer Philosophiehistoriker Christophe Erismann erhielt vom Europäischen Forschungsrat eine an die Universität Wien gebundene Projektförderung über die frühmittelalterliche Pflege der aristotelischen Logik durch griechische, lateinische, syrische und arabische Gelehrte. 
Beim Lateiner handelt es sich um den aus Irland stammenden und im heutigen Frankreich tätigen Scotus Eriugena (815-877), der als Neuplatoniker gilt und die griechische Philosophie mit der christlichen Theologie zu vermitteln suchte. Sozusagen trotzdem hat er die aristotelische Logik sehr scharf analysiert und auch ihre ontologischen Konsequenzen in einer Weise formuliert, die ihresgleichen sucht.

Erismann zitiert in einem Aufsatz folgenden Eriugena-Satz: „Nullus homo alio homine humanior est.“[1]

Dieser Satz sperrt sich gegen so manche moderne Sentimentalitäten – die allerdings die traurige Eigenschaft haben, dass sie still und leise Sexismus und Rassismus und ähnliche Entgleisungen auf den Weg bringen. Hierzu erinnere ich an die deutsche Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, die im Jahre 2014 von „Halbwesen“ und „zweifelhaften Geschöpfen, halb Mensch, halb künstlichem Weißnichtwas“ sprach, wobei sie sich auf jetzt lebende Menschen bezog, die ihr Leben sogenannten nicht natürlichen Zeugungsmethoden verdanken (aber doch wohl natürlichen Keimzellen). Im 18. Jahrhundert musste sich der deutsche Aufklärungsphilosoph(!) Christoph Meiners (1747-1810) immerhin um ein paar hundert oder tausend Kilometer nach Osten versetzen, um die mongolischen Völker als „Mittelwesen zwischen den Europäeern und den unvernünftigen Thieren, oder als eine Art von Halbmenschen“ einzustufen.

Der zitierte lateinische Satz geht direkt auf eine Passage in den aristotelischen Kategorien zurück(3b – 4a), welche doch im allgemeinen modernen Bewusstsein nur als scholastisch und längst überholt gelten. Tatsächlich formuliert er eine notwendige logische und sogar ontologische Voraussetzung für die politischen Errungenschaften, die wir für unsere kulturellen Optionen beziehungsweise für gültige Normen halten.

Im Unterschied zu Wesenheiten können akzidenzielle Bestimmungen mit den Vorzeichen „mehr“ oder „weniger“ auftreten: ein Mensch kann eifriger sein als ein anderer oder als er selber früher war; er kann sogar ganz uneifrig sein, dann wird man ihm eine positive Eigenschaft zusprechen, die auf demselben Parameter das Gegenteil darstellt, zum Beispiel: faul. Möglicherweise wird man jedem Menschen einen Grad auf dem Parameter „Arbeitsfreude“ zusprechen. Andere Parameter wie etwa Hautfarbe sind bei allen Wesen mit Haut notwendige Akzidenzienparameter – mit nicht-notwendigen Farbnuancen.


In der Metaphysik lesen (1016b 12 – 18)

Aristoteles setzt wiederum mit einem „subjektiven Faktor“ ein, formuliert ihn aber jetzt nicht mehr mit einem theoretischen Begriff wie logos oder noesis, sondern umgangssprachlich, indem er sich und seine Zuhörer als Subjekte des subjektiven Faktors setzt – das Wort „Subjekt“ kommt ja aus der Grammatik: wir nennen Eines ... ein Quantum oder ein Kontinuum. So bereits in 1016a 1. Doch jetzt zieht er diese Zusage zurück und behält sie dem Ganzen vor, das eine Form hat. Womit er die Passage 1016a 32 – 1016b aufgreift. Am Beispiel von „Schuhzeug“ unterscheidet er zwischen bloß irgendwie Zusammengeleimtem und der Einheit der Schuhform.

Das folgende Beispiel aus der Geometrie schließt anscheinend direkt daran an. Doch indem er die Kreislinie als die „einste“ von allen Linien bezeichnet, indem er den Superlativ von „ein“ bildet, verlässt er die mit dem Wesen verbundene Alternative von „Wesen“ und „Nicht-Wesen“. Eigenschaften, die im Positiv, Komparativ oder Superlativ auftreten, fallen gewöhnlich unter die Akzidenzien: süß, süßer, noch süßer .....  Der Kreislinie spricht er den Superlativ zu, weil er da die einfache Eigenschaft von Ganzheit und Vollkommenheit unterstellt. Eine platonisierende Wesensunterstellung für den Superlativ – siehe dazu Luigi Segalerbas „Stufenontologie“ vom 25. Februar. In 1016a 12 hat Aristoteles allerdings die unterschiedlichen Formen der Linie bezüglich der Einheit andersherum bewertet.

Abgesehen von dieser inneraristotelischen Unklarheit wird die Einheit dennoch nicht als akzidenzielle Eigenschaft gelten können und schon gar nicht als eine Wesenheit. Sondern als eine „transzendentale“ Eigenschaft, die allen Entitäten zukommt – aber stufenweise je nach dem Grad der Seiendheit: ens et unum convertuntur.


Postskriptum:

Im Buch IV hat Aristoteles hartnäckig und verbissen den „Satz vom Widerspruch“ gegen Vorsokratiker und Sophisten verteidigt – allerdings gibt es den dort explizit gar nicht ...

Am Donnerstag, dem 26. März 2015, findet um 18.30 Uhr im Hörsaal 3E im NIG, Universitätsstr. 7, eine Vortrags- und Diskussionsveranstaltung
                                                                           Zum Problem des Widerspruchs

statt. Leitung: Werner Gabriel.


Walter Seitter


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Sitzung vom 18. März 2015 



[1] Zit. in: Christophe  Erismann: The logic of Being: Eriugena’s Dialectical Ontology, in: J.Marenbon (Hg.): Vivarium 45: The Many Roots of Medieval Logic: The Aristotelian and the Non-Aristotelian Traditions (Leiden 2007): 217. 

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