τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 22. Oktober 2015

In der Metaphysik lesen (1019a 15 – 1020b 4)

Erinnerung an die Lektüre des Kapitels über Vermögen (Fähigkeit), Möglichkeit, vermögend (fähig, könnend), unvermögend (unfähig), unmöglich.

Ob nun substantivisch oder adjektivisch, positiv oder negativ, diese Ausdrücke umfassen eine beträchtliche Spannweite. Während „möglich“ als passive oder logische Qualität, einen ziemlich niedrigen Wirklichkeitsgrad bezeichnet und vielleicht von Aristoteles eingeführt worden ist, um so eine Stufe nicht einfach dem Unwirklichen (me on) zuschlagen zu müssen, bezeichnet die aktive Fähigkeit eine relative hohe Wirklichkeitsstufe, die man eigentlich nur beseelten, also Lebewesen, zuzusprechen geneigt ist. Der Ausdruck dynamis wird auch schon vor Aristoteles gebräuchlich gewesen sein, in der Alltagssprache oder in der politischen Sprache (wo allerdings dynasteia ein eingeführter Begriff war)[1]. Indessen legt Aristoteles Wert darauf, zu betonen, dass die aktive Fähigkeit auch unbeseelten Wesen zukomme: denn eine Leier könne tönen (1019b 16). Auch mit diesem Beispiel unterstreicht Aristoteles seine Bereitschaft, dem Geringen seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Und nicht etwa nur dem sogenannten „Dynamischen“ und „Dynastischen“, dem Mächtigen und dem Übermächtigen – wie dies etwa die Göttergeschichten und die Heldenverehrungen, die Kriegsgeschichten und die Siegerehrungen getan haben mögen.[2]

Hoher oder niedriger Wirklichkeitsgrad. Hat dieser Unterschied etwas mit der Ontologie, also mit der Lehre von den Seinsmodalitäten, zu tun? Wenn ja, müsste er auch an anderen Seinsmodalitäten anzutreffen sein. Und das ist auch der Fall: denn die Differenz zwischen Substanz und Akzidenzien hat gerade deswegen einen „hierarchischen“ Charakter, weil der Substanz mehr Wirklichkeit (Seiendheit) zukommt als den Akzidenzien: hier steht die Differenz zwischen „selbständig“ und „abhängig“ im Vordergrund. Innerhalb der in Met. 1003b 7f. genannten Seinsmodalitäten wird man wohl der Privation oder der Zerstörung weniger Wirklichkeit zusprechen als der Qualität oder der Erzeugung. Gibt es auch innerhalb der Akzidenzien Rangunterschiede, die ein „wirklicher“ oder „weniger wirklich“ bedeuten?

Etwa zwischen Qualität und Quantität? Diese Frage haben wir angeschnitten, als wir zum Kapitel 13 übergingen, das der Quantität gewidmet ist.

In der europäischen Neuzeit setzte sich ein Unterscheidungsprozeß durch, der die eher quantitativen Sinnesqualitäten wie Größe, Figur, Bewegung/Ruhe als „primäre“ bezeichnete, weil sie den Körpern wirklich und sogar notwendig zukommen, während die „sekundären“ wie Farbe, Temperatur, süß/sauer eher dem Wahrnehmungsapparat zugeschrieben werden und daher beinahe als Täuschungen gelten müssen. So nach John Locke: An Essay Concerning Humane Understanding (London 1690). Die überwiegend mathematisch vorgehenden Naturwissenschaften verfestigten die Vorstellung vom höheren Wirklichkeitscharakter der Quantität bis hin in die Sozialwissenschaften, Medizin, Unterrichtssysteme und so weiter. Allerdings blieben die Reaktionen nicht aus: Romantik, Geisteswissenschaften (die sich heute Kulturwissenschaften nennen), Esoterik, Zivilisationskritik haben bei vielen Menschen eine Gegenhaltung entstehen lassen, die so weit geht, dass sogar der Begriff der Qualität eine Verbiegung erfahren hat und „Qualität“ mit „Gutheit“ gleichgesetzt wird – anstatt eine neutrale Kategorie zu sein. Und „Quantität“ mit Technokratie, Banalität ...

Bei Aristoteles herrscht sachliche Nüchternheit – keine technokratische Vergötzung der Quantität, keine sentimentale Verfälschung des Begriffes „Qualität“.

Die Quantität erfährt eine durchgehende Zweiteilung: messbar oder zählbar, stetig oder diskret, in der Sprache des 20. Jahrhundert: analog oder digital.

Walter Seitter

Sitzung vom 21. Oktober 2015



Postskriptum






[1] Auf den scheint Foucault zurückzugreifen, wenn er die Analyse eines Sachverhalts unter dem Machtgesichtspunkt als „Dynastik“ bezeichnet. Siehe Michel Foucault: Théorie et institutions pénales. Cours au Collège de France. 1971-1972 (Paris 2015). 215.
[2] Bekanntlich gingen Foucaults Machtanalysen dann doch in die Richtung, nicht die Übermachtbildungen sondern die feinen Machtverteilungen, auch die passiven Machtmodalitäten in den Blick zu nehmen: Mikrophysik der Macht. Insofern eine gewisse wenngleich weit hergeholte Entsprechung zur hiesigen aristotelischen „Machtanalyse“ - ? 

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