τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 5. November 2015

In der Metaphysik lesen (1020b 26 – 1021a 9)

Für den Fall, dass die seit dem Frühling geführte Rede von der Muttermilch irgendwie „antifeministisch“ aufgefaßt worden sein sollte, ist zum Ausgleich nachgetragen worden, dass auch der Mann ein Quantum ist, folglich auch er teilbar, und aktuelle Teilungen finden statt, indem geringe Mengen einer weißlichen Flüssigkeit abgetrennt, ausgeschieden, subtrahiert werden (wohin auch immer sie gelangen mögen).

In reduzierter Quantität hat das Aristoteles-Seminar (das auf diese Wesensqualität Anspruch erhebt (Latour setzt für „Wesen“: „Institution“)) noch einmal auf die Kategorie „Qualität“ zurückgeblickt und festgestellt, dass Aristoteles in der Kategorienschrift ausführlicher auf sie eingeht, wobei er jedoch nur die akzidenzielle Qualität berücksichtigt und nicht auch die essenzielle wie in Metaphysik V, 14. Die essenziellen Qualitäten kommen den Dingen notwendig zu – so die „Pferdheit“ den Pferden. Die akzidenziellen Qualitäten wie „dunkelbraun“ oder „nervös“ könnten auch durch andere ersetzt sein. Ich meine aber, dass in diesen Qualitäten auch eine Notwendigkeit am Werk ist: dass nämlich für Pferde die Eigenschaftsdimension „Farbigkeit“ ebenso unvermeidlich ist wie die Eigenschaftsdimension „Temperament“. Wesensnotwendigkeit und Eigenschaftskontingenz überlappen sich zu einer gewissen Eigenschaftsnotwendigkeit oder Kontingenznotwendigkeit. Aristoteles muß das vorausgesetzt haben, hat es aber m. E. nicht thematisiert.[1] 

Und nun zur akzidenziellen Kategorie pros ti, Relation, Bezüglichkeit.

Ich meine, dass diese Kategorie aufgrund ihrer heute üblichen Bezeichnung dem modernen Menschen ziemlich wichtig vorkommt, er sogar dazu neigt, sie für grundlegender zu halten als etwa die Substanz. Die altgriechische Bezeichnung hingegen ist ein Extrem von Lakonie, Dürftigkeit, Unvollständigkeit: zu was. In der Metaphysik führt Aristoteles irgendwo aus, dass die Relation die seinsschwächste Modalität sei (1088a 22ff.), und in unserem Kapitel führt er sie zunächst als Weiterbestimmung der Quantität ein: das Doppelte, das Dreifache, das Vielfache, das Übertreffende. Aber dann doch auch als das Bewirkende zum Bewirkten – welche beiden ja als eigene Kategorie figurieren und im Grunde genommen das ausmachen, was man „Kausalität“ nennt. Und schließlich einige Bewirkte oder Resultate zu den jeweiligen kognitiven Tätigkeiten wie Messen, Wissen, Wahrnehmung.

Es handelt sich also um eine weit verbreitete Kategorie bzw. Modalität und insofern kommt Aristoteles der modernen Einschätzung doch wieder nahe.

Bei den quantitativen Relationen unterscheidet Aristoteles zwischen den zahlenmäßig bestimmten und den zahlenmäßig unbestimmten. Damit greift er die im vorletzten Abschnitt getroffene Unterscheidung zwischen „diskret“ und „stetig“ wieder auf und der amerikanische Übersetzer Joe Sachs macht dazu eine theoriegeschichtliche Anmerkung, die ich so verstehe, dass seit Descartes die nicht-zahlenmäßige, also die stetige Quantität ihre rationale Eigenständigkeit verloren hat: alle Quantitäten werden „numeralisiert“, „digitalisiert“.[2] Dies in der Mathematik. Und die sogenannte Quantenphysik: weitet sie die Digitalisierung auf die Physik aus?


Walter Seitter

Sitzung vom 4. November 2015






[1] Zur Unvermeidlichkeit der Akzidenzen siehe Walter Seitter: Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft. Mit einem Vorwort des Autors zur Neuausgabe 2012 und einem Essay von Friedrich Balke: „Tychonta, Zustöße. Walter Seitters surrealistische Entgründung der Politik und ihrer Wissenschaft“ (Weilerswist 2012):169ff. Davon strikt zu unterscheiden der exzeptionelle „Akzidenzialismus“ in der aristotelischen Poetik; siehe Walter Seitter: Poetik lesen 1 (Berlin 2010): 102ff.

[2] Siehe Aristotle’s Metaphysics. A new translation by Joe Sachs (Santa 2002): 97. 

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