τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 28. Januar 2016

In der Metaphysik lesen (1022b 22 – 1023a 7)

Versuchen wir, die Frage, was denn nun hier im „Wörterbuch“ gemacht wird oder zumindest angestrebt wird, nicht mit Disziplinbezeichnungen, sondern „direkt“ oder beschreibend zu beantworten, so können wir sagen: es werden allgemeinste Begriffe, insgesamt immerhin 30, ausgewählt, aneinandergereiht und jeweils erklärt, zumeist in ihrer Bedeutungsvielfalt auch mit Beispielen erläutert; und durch diese Begriffsordnung sollen die Dinge der Welt, die Dinge der nächsten und der weiteren Umwelt, geordnet werden; indem sie allgemeinen Begriffen zugeordnet werden, sollen die Gemeinsamkeiten zwischen vielen verschiedenen Dingen (auch Eigenschaften, Beziehungen usw.) sagbar gemacht werden – aber auch die Unterscheidungen, die vielen verschiedenen Unterscheidungen, sollen ihre Begrifflichkeit bekommen.

Keine Rolle spielen hier allgemeine Begriffe, welche die Realitätsbereiche kennzeichnen: geistig-materiell, organisch-anorganisch, natürlich-kulturell; also sozusagen inhaltliche Begriffe. Die Begriffe des Wörterbuchs haben eher formalen Charakter – sie bezeichnen Seinsmodalitäten, die eine Tendenz zum Dramatischen haben

Auch wenn bei Aristoteles den Dingen ein Vorrang etwa gegenüber den Ereignissen (hat er überhaupt einen Begriff für „Ereignis“?)[1] zukommt, beziehen sich die meisten der Stichworte von Buch V keineswegs direkt auf Dinge, Wesen, Körper sondern vielmehr auf Zusatzbestimmungen, die in der Fachsprache Akzidenzien heißen und denen manchmal die Konsistenz eines ordentlichen Begriffs zu fehlen scheint (dasselbe, wonach). Schon in der Kategorientafel steht es 9:1 für die Akzidenzien gegen die Substanz. Und an der zweiten „Gründungsstelle“ der Ontologie (Met. 1003a 23ff.) werden an die ousia mehrere andere Seinsmodalitäten angefügt, auch solche, die in ihrer Dramatik über die neun Akzidenzien hinausgehen: etwa Entstehung und Vergehung und sogar das Nicht-Seiende.

Dort wird auch schon die steresis genannt, die nun das Thema von Abschnitt 22 ist. Und die, wenn man das Wort genau anschaut, semantisch für eine Aktion steht, und zwar für eine negative. Die Bedeutungen, die Aristoteles zuerst nennt, beschränken sich auf Zustände des Nicht-Habens: sowohl solche, die als ein „Mangel“, ein „Fehlen“, gelten - Blindheit bei einem Menschen, wie auch solche, die jedenfalls gemäß traditionellem botanischem Wissen keinen Verstoß gegen die Normalität darstellen: Augenlosigkeit bei Pflanzen.

Erst die zweite Bedeutung schöpft den Vollsinn des Wortes aus und kommt in die Nähe eines kriminellen Aktes: gewaltsame Wegnahme von etwas. Ein verwandter Krimineller kam schon einmal vor. Die Beispiele bleiben also nicht alle im Bereich der „Physik“. Dann aber werden unter Privation irgendwelche Eigenschaften genannt, deren negativer Charakter durch das sogenannte Alpha privativum gekennzeichnet ist, wenn man nicht gar dieses Alpha als „Räuber“ bezeichnen will: das Unsichtbare (Unfarbige) oder fast Unsichtbare (fast Unfarbige), das Fußlose oder Schlechtfüßige (also ein gravierender Defekt bei Wesen mit Füßen – woraus Aristoteles noch ein eigenes Stichwort machen wird). Oder das Kernlose. Mein Übersetzer fügt zu diesem Adjektiv das Obst dazu, was dem Sinn des Wortfeldes entspricht. Allerdings versteht Aristoteles unter dem Kernlosen solches Obst, das nur wenige oder unzureichend Kerne hat: ein Mangelzustand, der in der Natur gar nicht „vollkommen“ vorkommt. Eklatanter Unterschied zu heutigen kernlosen Trauben, die kulturell, d. h. industriell auf Kernlosigkeit gezüchtet sind, weil das irgendwelchen Geschmacksvorlieben entspricht.

Im letzten Satz des Abschnitts springt Aristoteles mit negativen Begriffen wie „schlecht“, „ungerecht“ ziemlich eindeutig auf das Gebiet der Ethik und macht dazu die Aussage, die Menschen seien nicht unbedingt schlecht oder gut - sondern häufig irgendwo dazwischen.

Das Interessante dieses Abschnitts wird kaum von einer derartigen Aussage resümiert. Sondern es liegt in dem Sammelsurium verschiedenster Negativitäten, banaler wie auch existenzieller Art.

Den eher banalen oder logischen Privationen kommt aber auch eine generelle Bedeutung zu: jedes Seiende besteht aus Form, Privation und Stoff. Zum Beispiel Farbe: weiß, schwarz, Oberfläche; Gesundheit, Krankheit, Körper; Haus: Form, Unordnung, Ziegel. Und aufgrund dieser Dreierzusammensetzung gibt es Werden (wozu noch ein Bewegendes kommen muß). Siehe Met. XII, 1070b 18ff.
                          

Walter Seitter  
 
Sitzung vom 27. Jänner 2016



[1] Am ehesten kommen bei Aristoteles wohl die pragmata in die Nähe des Ereignisses. Bezeichnenderweise kommen sie in den Texten, denen üblicherweise die „Ontologie“ entnommen wird, gar nicht vor – sondern in der Poetik, die von der literarischen Zubereitung von Ereignissen handelt. Siehe Walter Seitter: Poetik lesen (Berlin 2010, 2014). Aristoteles-Kritiker werfen ihm allerdings vor, er habe mit der Literarisierung den Ereignis-Charakter des musikalisch-tänzerisch-kultischen Theaters bereits reduziert. 

Donnerstag, 21. Januar 2016

In der Metaphysik lesen (1022b 15 – 21)

Die Begriffe, welche in den einzelnen Abschnitten von Buch V bestimmt und differenziert werden, werden nicht immer gegen zuvor bestimmte streng abgegrenzt, sondern gelegentlich mit Bezug auf sie bestimmt. So ist die Hexis im letzten Abschnitt zu einer Disposition in einem bestimmten Sinn erklärt worden. Und im Abschnitt 21 werden die Erleidungen mit den Qualitäten gleichgesetzt, mit Geschmacks- oder Farbqualitäten – sofern etwas sie bekommen kann (z. B. schwarz werden) oder sofern etwas sie schon bekommen hat (schwarz geworden ist).

„pathos“ ist das Substantiv zum Verb „paschein“, das seinerseits zu den Kategorien gehört und „erleiden“ bedeutet. Es bedeutet ein qualitatives Werden oder Erleiden – ein passives Werden. Zunächst ein neutrales Verändertwerden, Bewirktwerden, ein neutrales passives Affiziertwerden. Daher auch die deutsche (und englische) Übersetzung mit „Affektion“. Die direkten lateinischen Entsprechungen zu „paschein“ und „pathos“ lauten „pati“ und „passio“. In diesen Wörtern leben die griechischen Wörter direkter weiter und zu ihrem Wortfeld gehört eben auch die Passivität, welche den Wortsinn sehr neutral bewahrt. Vor den emotionalen Profilierungen, wie sie sowohl im Leiden als auch in der Leidenschaft zum Ausdruck kommen. Leiden, Schmerz, Unglück bilden dann bei Aristoteles die dritte (bzw. die zweite) Bedeutungsebene von „pathos“. In seinem bzw. im griechischen Vokabular gehört auch die Leidenschaft dazu – wie wir in der Poetik gelesen haben.

Der Übergang zu dieser Bedeutungsebene ergibt sich daraus, dass Passivität bei den Griechen von vornherein als Übel, jedenfalls als Mangel betrachtet worden ist. Und als Charakteristik den Frauen und den Sklaven zugeschrieben worden ist. Wohlgemerkt als qualitativer also akzidenzieller Mangel und nicht, jedenfalls laut aristotelischer Kategorienlehre, als Wesensmangel (denn wenn kein Mensch menschlicher ist als ein anderer, dann ist auch kein Mensch weniger menschlich als ein anderer – womit dem Rassismus immerhin die Spitze gebrochen wird).[1]

Die Leidenschaften galten den Antiken als Überwältigtwerden durch irgendwelche Kräfte, als Verlust der Eigenmächtigkeit, als Einbuße an Macht und Selbstherrschaft. Bis zum Stoizismus (der noch in den lateinischen Philosophen der frühen Neuzeit weiterlebte) galt die Parole, die Leidenschaften (zu denen auch Gefühle wie Trauer und Freude gehören) müssten ausgeräumt, zumindest zurückgedrängt werden. Aristoteles hat bekanntlich auch hier jeden Radikalismus vermieden und die ethische Zulassung und Formung der Leidenschaften, etwa auch des Zorns, vorgezogen.

Platon, der das stoische Programm der Leidenschaftsniederhaltung begründet hat, hat allerdings gewisse Formen des Überwältigtwerdens von seinem Verdikt ausgenommen: die von den Göttern verhängte Raserei, die so etwas wie die Dichter (und wohl auch Platon selber) möglich macht: „enthousiasmos“, „mania“. Unterwerfung unter den Gott, Passivität unter Gott: ja.[2] 

Was aber die gewöhnlichen Passiven und Schwachen, die Passiven und Schwachen unter den gewöhnlichen Herren anlangt, also die Sklaven und die Frauen, so haben die in der Spätantike, in einer orientalischen, nicht-olympischen Sekte ihre Zuflucht gefunden. Im Christentum, das so klug war, seine eigentlich jüdische Religionsreform ins Griechische zu übersetzen und damit die eigenen Schriftgelehrten überflüssig zu machen.[3]

Die griechischen Frauen und Sklaven waren, wie aus den Paulus-Briefen zu ersehen ist, diejenige Schicht, die den Aufstand gegen die antike Herrengesellschaft, den Auszug aus der olympischen Herrenreligion, zwar still und leise, langsam und mühselig und mit vielem Leiden, vorangetrieben hat. Weil sie eben eigentlich keinen Aufstand der Passiven gegen die Aktiven vom Zaun brachen, sondern die platonische, die höhere Passivität unter dem Gott-Vater gemeinsam mit dem fremden und neuen Bruder Gott-Sohn sich zueigen machten.[4]

Die griechische Kultur hat in mehrfacher Hinsicht dem Christentum vorgearbeitet – und den unleugbaren qualitativen Sprung („pathos“) möglich gemacht (was fanatischen Philhellenen wie Nietzsche und Heidegger großes Kopfzerbrechen bereitet hat (nicht nur Kopfzerbrechen)).[5]

Aber was ist das globale politische Resultat? Abschaffung der Passiven, der Sklaven, der abhängigen Frauen? Verallgemeinerung der Bürgergesellschaft? Massensedimentierungen? Was für Transformationen („pathe“) bei den Menschen?

Übersetzen wir „pathos“ als qualitative Transformation, die auch Menschen und Kulturen treffen kann, dann wird der Bezug zu unserem Wort „Pathos“ verständlich, das aus der griechischen Rhetorik stammt.

Zum Schluß wurde die Frage aufgeworfen,  was für eine Art von Untersuchung oder Disziplin hier in diesem aristotelischen Wörterbuch vorliegt. Gianluigi Segalerba hat darauf - unter anderem - mit dem Vorschlag geantwortet: "analytische Ontologie". Und nachträglich schreibt er dazu:

Bei der Analyse eines Buches von Joshua Hoffman und Gary S. Rosenkrantz habe ich soeben eine Beschreibung des Begriffes "analytische Ontologie" gefunden, die am besten wiedergibt, was ich innerhalb der gestrigen Sitzung darlegte (aus: "Substance among other categories", Seite 7):

"Instead, our project ist an example of what D. C. Williams has called "analytic ontology."

(Es folgt das Zitat aus dem Buch von D. C. Williams "The Principles of Empirical Realism")

"Concerned with what it means to be a thing or kind at all, [analytic ontology] is in some wise prior to an independent of the other great branch of metaphysics, speculative cosmology: what kinds of things are there, what stuff are they made of, how are they strung together?"

Walter Seitter 


PS.: Donald Cary Williams (1899-1983) ist ein amerikanischer Philosoph, dessen Werk ein breites Spektrum an Themen und Positionen ausbreitet: von "analytischer Philosophie" bis zu einer Art von "Materialismus".
Walter Seitter  
 
Sitzung vom 13. Jänner 2016






[2] Michel Foucault, der auf den Aktiv-Passiv-Kontrast in der antiken Kultur aufmerksam gemacht hat, hat gleichwohl einer gewissen Selbsttransformation durch Unterwerfung unter die Wahrheit das Wort geredet.
[3] Friedrich Kittler, der bekennende Nicht-Christ, hat in der christlichen (und griechischen) Außerkraftsetzung der jüdischen Schriftgelehrten sowohl ein Motiv für die Kreuzigung Jesu wie auch für die ökumenische Durchsetzung des Christentums gesehen.
[4] Einer Bemerkung von Aris Fioretos kann man entnehmen, dass die – heutigen – Griechen drei griechische Helden verehren; in dieser Reihenfolge: Jesus, Herakles, Alexander.
[5] Siehe dazu Michael Brumlik: Was wir auch den Griechen verdanken? Das Christentum!, in: Neue Rundschau 125, 2014, 4: 98ff. Papst Benedikt XVI. hat in seiner Regensburger Vorlesung vor einer „Enthellenisierung“ des Christentums gewarnt. 15. Jänner  2016

Samstag, 16. Januar 2016

In der Metaphysik lesen (1022b 1 – 1022b 14)

Am Beginn der Sitzung macht Bernd Schmeikal korrigierende bzw. ergänzende Ausführungen zu meinem letzten Protokoll in Sachen Entropie und Negentropie – sie finden sich als Kommentar an das Protokoll vom 10. Januar. Dazu noch der Begriff „Phasenübergang“, der auch die Veränderungen der Aggregatzustände bezeichnet.

Der Abschnitt 19 ist so extrem kurz – er besteht aus kaum mehr als einem Satz, dass ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, das Buch V sei nicht ganz ordentlich komponiert oder redigiert – womit das hier gewählte Stichwort als Frage an das ganze Kapitel gerichtet wird. Wie ordentlich ist die Anordnung seiner Teile? Ist diese Anordnung eher chaotisch oder doch „kosmisch“.

Denn das Stichwort lautet „Disposition“ – ich ziehe hier die lateinische Übersetzung vor, weil sie dem Griechischen näher ist. Disposition ist die Ordnung, die innere Ordnung eines Dinges, das über Teile verfügt, und zwar über Teile in drei möglichen Hinsichten: Raumteile, Fähigkeitsteile, Definitionsteile. Dann wird aus dem Wort „Disposition“ der Wortteil „Position“ herausgegriffen und als Begriff oder Sache dem Begriff oder der Sache „Disposition“ irgendwie zugeordnet. Ich finde diesen Nachsatz semantisch nicht besonders klar – als syntaktische Operation hingegen zumindest reizvoll. Was wiederum gut „passt“ – denn die Disposition steht der Syntax besonders nahe.

Wie überzeugend dieser lakonische Abschnitt 19 auch sein mag, sein Thema oder gar sein Anliegen ist die Ordnung und das wollte ich mit meiner etwas ironischen Paraphrase auch gar nicht in Abrede stellen. Wohl aber wollte ich darauf hinweisen, dass man sich mit dem Insistieren auf der Ordnung auch ein bisschen verhaspeln kann – und das tut Aristoteles hier, indem er die Lakonie doch etwas übertreibt. Wenn man eine Sache extrem verkürzt, hat sie nämlich höchstens zwei oder drei Teile, und dann ist es mit der Ordnungsleistung möglicherweise nicht mehr weit her.

Gianluigi Segalerba weist darauf hin, dass nicht Platon der Hauptgegner des Aristoteles ist sondern Empedokles, dessen Lehre von Liebe und Streit voller Selbstwidersprüche sei. Daß Aristoteles bei aller Kritik an Platon doch Platon-Schüler geblieben sei, habe ich in den Sechzigerjahren ganz explizit bei Helmut Kuhn in München gehört (und Eric Voegelin hat der Sache nach dasselbe gemeint).[1]
Das Stichwort in Abschnitt 20 lautet „hexis“ – das Verbalsubstantiv von „echein“. Also heißt „hexis“: Habung, Haltung, Habitus. Schwarz übersetzt mit „Zustand“, „Innehaben“. Aristoteles insistiert in seiner Worterklärung auf dem verbalen Verbalnomen, das zwischen zwei nominalen Verbalnomina steht: Verwirklichung sowohl des Habenden wie des Gehabten. Praxis und kinesis wie poiesis, die zwischen dem Bewirkenden und dem Bewirkten steht. Die Gewandtragung steht zwischen dem Träger des Gewandes und dem getragenen Gewand.

Die zweite Bedeutung von Hexis wird unter Disposition subsumiert – die also doch etwas weiter ausgeführt wird. Und zwar im Sinn von Befinden, sich gut oder schlecht befinden; etwa Gesundheit. Hexis kann auch ein Teil eines solchen Befindens sein. Teil der Gesundheit? Etwa Kräftigkeit oder Appetit oder ... Und jetzt erst kommt Aristoteles auf das Wort, welches in seiner Lehre den wichtigsten Anwendungsbereich der Hexis bezeichnet: „arete“: Tüchtigkeit, Vortrefflichkeit, Tugend. In der Ethik wird die Hexis als Gattungsbegriff für die Tugenden eingeführt. Hier dasselbe Wort – aber wohl noch vor der ethischen Spezifizierung. Bloß irgendwelchen Teilen zugesprochen, und zwar Dispositionsteilen.

Aristoteles geht mit „seinen“ Begriffen manchmal sozusagen respektlos um.

Walter Seitter  
 
Sitzung vom 13. Jänner 2016






[1] Meinem Lehrer Eric Voegelin (1901–1985), dem gemeinhin und nicht ganz zu Unrecht eine platonisch-aristotelische Orientierung nachgesagt wird, widme ich hier aus eher politischem Anlaß eine Fußnote und zwar aufgrund einer Erwähnung, die ihm Jörg Scheller jetzt in der ZEIT zuteil werden lässt. Scheller setzt sich mit Marc Jongen auseinander, der mit flotten und (selbst)widersprüchlichen Thesen eine „konservative“ Position zu entwickeln sucht. Und stellt ihm als Beispiel für ein glaubwürdiges konservatives Denken Voegelin gegenüber, der amerikanische Common-Sense-Philosophie mit philosophisch durchdachtem Christentum, „offene Gesellschaft“ mit meditativer „Offenheit der Seele“ verbinde. Siehe Jörg Scheller: Wenn die stolzen Geister denken, in: DIE ZEIT 2016/3.  

Sonntag, 10. Januar 2016

Philosophen-Café-Protokoll

 Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?

Das Thema des gestrigen Philosophen-Cafés war die Frage „Warum existiert die Welt?“ und diese verdient es, protokollarisch festgehalten zu werden. Einmal weil sie durch ihre Eigenart imstande ist, die Position der Philosophie zu markieren: als die Fähigkeit oder das Interesse, auch solche Fragen zu stellen, die in Richtung Unbeantwortbarkeit tendieren. Mit dem Begriff „Welt“ nimmt sich die Frage eine Größe vor, welche schon an den Rand unserer Fassungskraft grenzt (wiewohl der neulich erwähnte griechische Kosmos-Begriff den Welt-Begriff fassbar zu machen sucht). Doch die Warum-Frage scheint das Phänomen „Welt“ auch noch zu übersteigen. Vor allem, wenn man an die uns bekannten Schöpfungsreligionen denkt, welche der Welt einen transzendierenden Gott „vorsetzen“ – um die Frage zu beantworten (auch wenn sie sie gar nicht stellen). Die Spezialität der Religionen liegt ja darin, Antworten auf alle möglichen Fragen zu liefern, auch auf solche, die vom menschlichen Verstand weder aufgeworfen noch beantwortet werden. Doch unsere Frage positioniert die Philosophie auch im Verhältnis zu den Einzelwissenschaften, welche aufgrund begrenzter Erkenntnisse weitere – aber begrenzte – Fragen aufwerfen. In unserem Fall etwa die Frage nach einem eventuellen zeitlichen Anfang der Welt.

Falls der Begriff „Welt“ hier die Gesamtheit des Existierenden meint, könnte die Frage ohne wesentliche semantische Änderung durch eine klassische Formel ersetzt werden, die da lautet „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“. Sie wird häufig auf Leibniz zurückgeführt, findet sich aber auch bei anderen Autoren.[1] Es geht dabei nicht einfach um die Gegenüberstellung von „etwas“ und „nichts“, schon gar nicht um ein substantiviertes „Nichts“, sondern um das Warum für die vorausgesetzte Tatsache, dass es überhaupt etwas gibt (und nicht gar nichts).

Eine Voraussetzung, die schwerlich zu bestreiten ist (höchstens einige griechische Sophisten mögen sich dazu verstiegen haben) und die bei näherem Zusehen auch noch Spezielleres impliziert: etwa die Existenz der Frage selber sowie die der Fragenden. 

Der Fragesatz setzt also die Existenz von etwas voraus – und trotzdem fragt er nach dem Warum. Ich höre da einen leisen Protest heraus, ein leises Plädoyer dafür, dass es „vielmehr“, d. h. „eher“, d. h. „lieber“ nichts geben möge – weil dann vielleicht „alles“ einfacher, leichter wäre. Jedenfalls könnte bzw. müsste man dann nicht so eine schwierige, ja unbeantwortbare Frage stellen. Ich bin darauf schon einmal eingegangen – am 29. Mai 2013.

Ich vermute da eine Tendenz zum Einfacheren, ja zum Bequemeren. Eine Tendenz, die ich mit der „Moderne“, einer bestimmten Moderne, assoziiere: Tendenz zu weniger Arbeit, zu weniger Anstrengung, zu mehr „Freizeit“ (nicht: Muße). Eine Tendenz zu weniger Unterscheidung, zu weniger Ordnungsaufbau, zu weniger Unwahrscheinlichem. Zu Wahrscheinlicherem.

Also die Tendenz, die man seit dem 19. Jahrhundert als Tendenz zu höherer „Entropie“ in geschlossenen Systemen bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen irreversiblen Prozeß in geschlossenen Systemen. Einfachstes Beispiel: Auflösung einer aus vielen Schneekristallen bestehenden weißen Schneedecke in eine weniger geordnete Bewegung einzelner Wassermoleküle, die ins Erdreich versinken. Weniger einfaches Beispiel: Verwesung eines abgestorbenen Organismus, etwa eines verendeten Rehes, und Auflösung in seine Bestandteile, die irgendwann dann nicht mehr organischen Charakter haben. Dabei handelt es sich um irreversible Prozesse in geschlossenen Systemen, also in begrenzten Formaten. Während die Leibniz-Frage sich auf viel größere Dimensionen bezieht. Weshalb sie ja auch das Übergewicht der „Negentropie“ akzeptiert; ich sage: akzeptieren muß.

Der Vorläufer des Begriffs „Negentropie“, nämlich „negative Entropie“, wurde von Erwin Schrödinger eingeführt, und zwar zur Charakterisierung von Lebewesen.[2] Schrödinger hielt daran fest, dass auch Lebewesen den Gesetzen der Physik folgen. Sie zeichnen sich jedoch durch Energiezufuhr, -speicherung und -umwandlung aus, sind also offene Systeme und fähig, das Gegenteil von Entropie zu leisten.

Ähnliches geschieht beim Aufbau von kulturellen Organisationen, Werken, Praktiken. Auch da kommt es zu unwahrscheinlichen Gebilden und Prozessen.

In bezug auf die Leibniz-Formel vermute ich nun: gerade weil sie einen leisen pro-entropischen Ton anschlägt, legt sie eine anti-entropische Beanwortung der in ihr enthaltenen Frage nahe: es gibt etwas – und nicht etwa gar nichts, weil in dem von ihr eröffneten Raum eine Kraft am Werk ist, die für Etwas überhaupt, für das Sein von Etwas überhaupt optiert und arbeitet. Eine Kraft und eine Art Wille. Ein Art Wille, der sich gegen das Leichtere und Einfachere entscheidet: für Differenzierung, Strukturierung, Ordnung, für Leistung und Tätigkeit, für die Fortsetzung und Vermehrung von Tätigkeit.

Eine Option für das Existieren, die mit dem Einsatz für Tätigkeit und Relation, für Differenz und Pluralität Hand in Hand geht. Ich setze diese Option in einer ontologischen Schicht an, in der ich noch keine getrennten Entitäten, etwa Subjekte oder Objekte ausmachen kann. Auch keine unterscheidbaren Aktivitäten wie Lieben oder Erkennen oder Hassen. Aber irgendwelche Kristallisierungen müssen da stattfinden, die wohl zu solchen Differenzen führen, wie sie uns in der Welt der Erscheinungen begegnen. Begegnungen und Erscheinungen – ja solche banalen Phänomene müssen da zustande kommen. Was denn sonst? Allerdings Begegnungen und Erscheinungen mit Bedeutungen.

Wenn mein Antwortversuch von einer fundamentalen Willensschicht spricht, mag man daran denken, dass Philosophen wie Arthur Schopenhauer oder Friedrich Nietzsche einen „Willen zum Leben“, einen „Willen zur Macht“ angenommen haben. Inwieweit der von mir angesetzte Grundwille mit diesen Konzeptionen konvergiert, sei dahingestellt.


Walter Seitter



[1] Siehe dazu die umfangreiche Publikation von R. Hauswald, J. Lemanski, D. Schubbe (Hg.): Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? (Hamburg 2013).

[2] Siehe Erwin Schrödinger: Was ist Leben? – Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet (München 1951). Auch Ludwig von Bertalanffy erforschte den Zusammenhang zwischen Entropie und Leben.