τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 28. April 2016

In der Metaphysik lesen („verstümmelt“)

Die Salzburger Schriftstellerin Dorothea Macheiner teilt mir nach der Lektüre des letzten Protokolls ihre Vermutung mit, der Begriff „verstümmelt“ habe bei ihr die Assoziation mit dem Wort „stumm“ ausgelöst sowie mit dem Gedanken, dass Körperglieder auch sprechen und dass verstümmelte Körperglieder – also „Stummel“ – erst recht sprechen, nämlich sprechen wollen, toben, eben weil sie nicht mehr sprechen können. Dazu ihre Erinnerung an ein Wort im österreichischen Dialekt: ein „Stummerl“ ist jemand, der nichts sagt, nicht redet.

Einen etymologischen Zusammenhang zwischen „verstümmelt“ und „stumm“ scheint es indessen nicht zu geben. Und das aristotelische Wort kolobos hat auch keine Beziehung mit dem Wort für „stumm“.

Zur Aristoteles-Statue auf dem Aristoteles-Platz schreibt mir Omiros Tachmazidis, mein Übersetzer, dass sie im Jahre 1990, also vor ungefähr 25 Jahren geschaffen worden ist: von Giorgos Georgiades (*1937). Und er schickt mir einen ausführlichen Artikel über Aristoteles-Darstellungen in der neugriechischen Kunst, verfasst von Gerakina Mylona. Da wird auch diese Statue erwähnt und beschrieben. Der Kopf sei der bekannten Wiener Büste nachgebildet (die ich schon öfter erwähnt habe). Der Bildhauer habe den tradierten Typ mit einigen neueren Linien kombiniert: so die schiefen Füße, aber auch die kakoseis = Spuren von Misshandlungen, eigentlich Verunstaltungen, Verschlimmerungen. Nur mit diesem einen Wort spielt die Verfasserin auf die von mir gesehenen „Verletzungen“ an – ohne sich irgendwelche Fragen dazu zu stellen. Sie hat ihre Erwähnung offensichtlich bald nach 1990 geschrieben und hinzugefügt: die definitiven Kritiken seien noch nicht geschrieben worden. Sie bescheidet sich also sehr und tut so, als würde sie von diesem Bildhauer gar nichts wissen.

Ich hingegen weiß schon ein bisschen mehr als nichts. Die Suche im Internet hat unter dem Namen Giorgos Georgiades nur einen Fußballer ergeben und keinen Bildhauer. Dann aber ein Bericht von einer Berliner (!) Ausstellung im Jahr 1985, wo von diesem Bildhauer ein Torso in verschiedenen Variationen zu den Themen "Einsamkeit", "Gemeinsamkeit" und "Siegesfreude" gezeigt worden ist. Die Abbildung zeigt in der grausamen „Hautbehandlung“ deutliche Ähnlichkeiten mit der Thessalonicher Statue (und zwar unabhängig vom Motiv „Torso“ – das ja eine gewisse semantische Nähe zur Verstümmelung aufweist). Im Internet sind auch andere Werke zu sehen: alle figural und tendenziell gespenstisch. Der Künstler ist bis heute sehr aktiv, jedenfalls mit Ausstellungen und Publikationen. Die Aristoteles-Statue hingegen wird nirgendwo mit seinem Namen verbunden.


Wir sprechen dann noch über meine These, die Metaphysik komme aufgrund der Heterogenität ihrer „Bücher“ – jedenfalls von I bis VI – in die Nähe einer Verstümmeltheit. Dieser Charakter kommt ihr nicht so eindeutig zu wie der Poetik. Zwei Bücher, nämlich III und V, weichen von der hauptsächlichen aristotelischen Textform – pragmateia oder Abhandlung – stark ab und verlegen sich auf die Textform der Liste, der Serie. Buch III: Serie von „Aporien“ oder ungelösten Fragen wissenschaftstheoretischer oder annähernd ontologischer Natur. Diese 15 Aporien werden zunächst nur genannt und dann relativ kurz behandelt – das heißt sie werden gleich zweimal aufgelistet oder serialisiert. Und das Ergebnis sieht nicht so aus, dass damit die hier „gesuchte Wissenschaft“ auf erhellende Weise vorgestellt worden ist. Auch das Buch V ist seriell aufgebaut: 30 Begriffe werden ziemlich gleichförmig in viele Bedeutungen zerlegt, womit eine große Menge an Information geliefert wird. Die Frage ist, ob die Behandlung dieser vielen Begriffe einer bestimmten Wissenschaft zugeordnet werden kann. Die Serie beginnt eindeutig mit Begriffen aus der Physik, es kommen dann einige Grundbegriffe der Ontologie und es geht sehr kunterbunt weiter bis zu einem solchen Begriff wie „verstümmelt“, der bislang gar nicht gewusst hat, dass er ein Begriff ist – und ein Begriff aus welcher Wissenschaft?

Gianluigi Segalerba bestätigt, dass der Begriff „verstümmelt“ von den ihm bekannten Kommentatoren der Metaphysik kaum oder gar nicht beachtet worden ist. Ich aber erkläre hiermit – aus purem Übermut – diesen Begriff für einen sehr wichtigen Begriff - ja für den zentralen Begriff der Metaphysik. Es handelt sich jedenfalls um einen dramatischen, um einen existenziellen Begriff. Ein Begriff aus der Nachbarschaft der „Zerstörung“, die genau an der Stelle der erstmaligen ausdrücklichen Erfindung der Ontologie, in 1003b 7, zusammen mit anderen Seinsmodalitäten genannt worden ist. Die beiden ersten Abschnitte von Buch IV führen die Ontologie ein und beenden die Vorherrschaft des Begriffs „Ursache“, welche den Aristoteles auf weite Strecken unverständlich und unlesbar gemacht hat. Der Begriff „verstümmelt“ impliziert natürlich auch Ursachen, aber zunächst bezeichnet er etwas auf der Ebene von Eigenschaften, von Zuständen, von Schicksalen. Er impliziert direkt so etwas wie Aggression, Grausamkeit. Wenn man das alles für unwichtig hält, und nur die ousia für wichtig ...

Nur wenn einem etwas „auffällt“ – nur dann sieht man etwas. Und wenn man die Verstümmeltheit – geleitet durch die aristotelische Einführung des Begriffs – sieht, dann bekommt man einen anderen Blick auf die Welt und gleichzeitig lernt man, dass man die ousia brauchen kann, um die Verstümmelung begrifflich einzugrenzen.

Überhaupt sind die Kategorien nur wichtig, weil sie dazu dienen, Erscheinungen, Auffälligkeiten, Differenzen zu ordnen. Dazu aber muß man die Sichtbaren sehen und die Hörbaren hören und die Fühlbaren fühlen – sonst gibt es nichts zu ordnen. Die Ordnungsbegriffe allein – nun ja die kann man untereinander auch ordnen, das ist auch interessant. Vor allem weil man da wieder ins Chaotische gerät, das nach neuerlicher Ordnung ruft. Ist die zweite Substanz nicht auch eine Qualität – ja; aber die Qualität ist doch ein Akzidens. Ist etwa gar die zweite Substanz ein Akzidens – weil sie der ersten Substanz zukommt?

Inhaltlich gehört der Begriff „verstümmelt“ in die Menschenwelt und so bestätigt er die Vermutung, dass die sogenannte Metaphysik eine Kurve ins Anthropologische nimmt. Ich habe ihn ja schon einmal etymologisch mit „nachnatürlich“ übersetzt: er steht an der Kippe zwischen Physik und Machenschaften (wie Heidegger sagen würde).


Walter Seitter
 
Sitzung vom 27. April 2016



Donnerstag, 21. April 2016

In der Metaphysik lesen (1014a 12 – 28)


Man kann von Avantgarden der Aristoteles-Interpretation sprechen, wenn es Vorstöße gibt, die Neuland betreten, und ein solcher scheint mir in der „zoologischen oder biologischen Wende“ zu liegen, welche die Tiere als Protagonisten des Substanzbegriffs namhaft gemacht hat, und jetzt dürfte die Zeit reif sein für ein „anthropologische Wende“, die auch die Menschen, also „uns“, also auch die Philosophierenden oder die Aristoteles-Leser, zur Füllung des Begriffs „Substanz“ heranzieht. Substanzen, die „ich“ sagen.

Vor kurzem stieß ich in Met. I, 1, 981b 19 auf den – bereits gelesenen – Satz, dass es für Kallias oder Sokrates ein Akzidens bedeute, ein Mensch zu sein. Mich verblüffte, dass hier anscheinend das Mensch-Sein, also die zweite Substanz, einem Individuum, also der ersten Substanz, wie ein Akzidens zugeschrieben wird. Womit der ontologische Gegensatz zwischen Substanz und Akzidens, auch der Primat der Substanz vor dem Akzidens, aufgehoben zu sein scheint. Gianluigi Segalerba teilte mir dann mit, dass Aristoteles nicht direkt „Akzidens“ schreibt, sondern: es falle dem Kallias zu, Mensch zu sein. Aristoteles verwendet die finite Form des Perfekts, mit dessen Partizip sonst das Akzidens bezeichnet wird. Er spielt also mit dem Terminus so, dass die Substanz fast zum Akzidens wird. Er reißt erste Substanz und zweite Substanz weit auseinander und suggeriert eine Spaltung innerhalb der Substanz – obwohl diese ja gerade die Einheitlichkeit garantieren soll.

Wenn einem so ein Satz auffällt, wenn man sich an ihm stößt und dann darüber nachdenkt, dann beginnt die Lektüre interessant zu werden und diese beginnt, den Eigenwilligkeiten des Autors auf die Spur zu kommen.

Ich äußere die Vermutung, dass sich im Buch V die Eigenwilligkeiten des Aristoteles häufen und dieses Buch bisher eher auf Geringschätzung gestoßen ist, welche Vermutung von Segalerba bestätigt wird. Schon die Anlage des Buches, die dreißig zumeist kurzen Abschnitte, die jeweils einem Begriff gewidmet sind, der jeweils nach ähnlichem Schema in viele Bedeutungen zerlegt wird, auch die Reihenfolge, die von arche bis symbebekos reicht, die kurze Abhandlung des Begriffs ousia und seine Differenzierung in Körper und Seele – alle diese Eigentümlichkeiten scheinen die traditionellen Aristoteles-Leser abgehalten zu haben.

So bietet sich uns eine Avantgarde-Chance in Sachen Aristoteles-Lektüre, wenn wir ausgerechnet dieses Buch V ernst nehmen (Jacques Lacan hat, worauf ich am 11. November 2011 hingewiesen habe, empfohlen, die ganze Metaphysik gerade deswegen ernstzunehmen, weil sie so unernst daherkomme). Die Zweiteilung des Substanz-Begriffs in Körper und Seele haben wir in diesem Sinn besprochen, und die Verbindung dieses Körper-Begriffs mit der erwähnten Anthropologisierung haben wir auf die in der neuesten Philosophie ausgebrochene „Körper-Mode“ (Merleau-Ponty, Foucault, Nancy) bezogen, die immerhin durch Deleuze, Guattari, Latour aus der anthropologischen Verengung wieder herausgeführt wird. Bei Aristoteles steht das Anthropologische ohnehin immer in der Konstellation des Kosmos.

Dann kehren wir endlich wieder zum Abschnitt 27 zurück, zum Adjektiv „verstümmelt“. Wieso kommt so ein Adjektiv in die Position eines Begriffes, der neben „Seiendes“, „Wesen“, „Natur“ und so weiter im Wörterbuch der Metaphysik figuriert? Das Wort „verstümmelt“ stammt aus der Welt des Schlachtfeldes, der Krankenpflege oder der Verachtung. Was ist daran „metaphysisch“? Da war einmal ein gesunder Körper, dann wurde er beschädigt und in seiner Beschädigtheit erhalten: ein nachnatürlicher Körper – also ein „metaphysischer“ in diesem wörtlichen Sinn.

Aristoteles geht überhaupt nicht von der Dramatik aus, die dem Wort eingeschrieben ist, sondern von Quanten, Zahlen, Ganzen, Teilen, und fragt, was unter welchen Umständen verstümmelt werden kann und was nicht, wobei Verstümmelung von Zerstörung (Vernichtung) unterschieden wird, das Unterscheidungskriterium liegt in der Erhaltung des Wesens. Nicht verstümmelt werden können etwa Wasser oder Feuer, Zahlen oder Harmonien. Er belässt es schließlich bei zwei Typen von Körpern, die Verstümmelung erleiden können: Becher und Mensch. Also ein ziemlich banales Artefakt und der Herr aller Artefakte. Und bei diesem kommt er natürlich in die Nähe der Ursprungsbedeutung des Wortes: etwa Verlust von Extremitäten.

Denken wir daran zurück, dass Aristoteles in gewisser Hinsicht alle Wesen als Körper bezeichnet, dann geht es in diesem Abschnitt um eine Zweiteilung aller Wesen unter dem Gesichtspunkt der Verstümmelbarkeit. Wenn ein Becher unter diesen Begriff fallen kann, dann sicherlich auch ein Buch – auch es eine Art Behälter. Und damit können wir auch einen Bogen zu Aristoteles schlagen, der in Büchern wie in Zweitkörpern bis heute und bis hier weiterexistiert. Zum Beispiel in meiner Reclamausgabe der Metaphysik, die aufgrund oftmaligen Aufschlagens und Zuschlagens, Vor- und Zurückblätterns bis zum Buch V schon so zerfleddert ist, dass die Verstümmelung bereits in Sicht ist. Dies gilt jetzt für mein individuelles Exemplar. Für mein Poetik-Exemplar gilt das bereits zur Gänze. Mit der Poetik hat es jedoch eine weitergehende Bewandtnis. Denn das Buch II ist überhaupt verloren gegangen (Umberto Eco hat den Verlustvorgang dramatisch ausgemalt). Ist nun die Poetik verstümmelt oder zerstört? Einigen wir uns auf die erste Variante – dann trifft diese sicherlich zu.

Und wie steht es mit der Metaphysik? Vermutlich nicht sehr anders. Sie besteht aus 14 „Büchern“, von denen ungefähr sechs, nämlich I bis VI, so angelegt sind, als wären sie Buch I – nämlich der Anfang eines größeren Werkes. So tut auch Buch II, das jedoch nur aus ein paar Seiten besteht und im Griechischen mit klein-alpha (nach Groß-Alpha) gezählt wird. Dieses Buch ist nur ein „Stummel“ – also das, was einem Ganzen weggenommen worden ist.

Die Metaphysik ist eine mit dreihundertjähriger Nachträglichkeit hergestellte Zusammenfügung von Buchstücken, die vielleicht Bruchstücke sind. Und das Buch V mit seinen 30 Abschnitten liefert vielleicht das Modell dieser Fügung. Und der Abschnitt 27 liefert vielleicht eine Extremanalyse einer solchen Fügung, die immerzu zwischen Wohlbehaltenheit und Vernichtung oszilliert.

Ein weiterer und prominenter Zweitkörper des Aristoteles sitzt als Bronzestatue am Rand des nach ihm benannten Platzes in Thessaloniki. 


 


Große Statue von menschenfreundlichem Charakter. Doch auf der rechten Wange und an der rechten Schulterpartie hat der Bildhauer dem Körper ein paar Einschläge zugefügt. Kleine aber deutliche Verletzungen – was für welche?


Walter Seitter
 
Sitzung vom 20. April 2016



Donnerstag, 14. April 2016

In der Metaphysik lesen (Zur Substanz III)

Der Hauptbegriff der aristotelischen Ontologie heißt ousia und der wurde in den Kategorien mit der Unterscheidung zwischen „erster Substanz“ und „zweiter Substanz“ erklärt – einigermaßen ausführlich und umständlich, aber nicht so, dass es in den folgenden Jahrtausenden zu einem angemessenen Verständnis des Begriffes kam. Die lateinische Übersetzung mit substantia hat das Missliche, dass sie von einem ganz anderen griechischen Wort, nämlich hypostasis, ausgeht, während die Übersetzung mit essentia, die dem griechischen Wort ousia nähersteht, bedeutungsmäßig nur der „zweiten Substanz“ entspricht.

In der Physik, in De anima, in der Poetik wird die ousia in bestimmte Realitätsbereiche hinein konkretisiert, in De anima wird auch ihre Positionierung erläutert, wobei die Begriffe „Körper“ und „Seele“ herangezogen werden.

In der vielleicht später entstandenen Schrift Metaphysik wird die ousia wieder mit anderen Seinsmodalitäten zusammen genannt, und zwar im Buch IV (1003b 7ff.), und ihre Vorrangstellung bestätigt. Im Buch V, also im Wörterbuch, wird der ousia nur einer der dreißig Abschnitte eingeräumt, der Abschnitt 8. Dort werden ihr „zwei Versionen“ zugesprochen, also eine doppelte Begriffsverwendung, sozusagen ein homonymer Charakter, aber die beiden Applikationen werden mit den eher umgangssprachlichen Begriffen „Körper“ und „Seele“ benannt.

Die erste Substanz, ein konkret existierendes Ganzes, wird mit „Körper“ identifiziert, die „zweite Substanz“, der Teilaspekt des Was, der Was-Faktor, mit „Seele“. Die beiden unterscheiden sich also wie Ganzes und Teil. Aber beiden wird derselbe ontologische Begriff zugeordnet. Warum? Man könnte sagen, weil sie beide gleich wichtig sind. Der Teil ist in diesem Fall genauso wichtig wie das Ganze. Es handelt sich um ein sehr eigentümliches Verhältnis. Zwei unterscheidbare Größen sind untrennbar miteinander zusammengeschaltet oder zusammengewachsen.

Die Assoziation mit „Körper“ und „Seele“, die mit dieser Klarheit vielleicht nur an dieser Stelle durchgeführt wird, hat den Vorteil, dass sie die Lebewesen, die ohnehin die durchschnittlichen Protagonisten des Substanz-Begriffs sind, in den Vordergrund rücken. Sie führt allerdings zur seltsamen Konsequenz, dass der Körper jetzt für das Ganze steht, der Körper ist jetzt das Zusammengesetzte – natürlich der belebte, der beseelte Körper. Und wie schon einmal betont: Körper gibt es nur mit Seele oder mit einer Art Seele, nämlich mit Formursache. Ohne eine solche wäre da nur bloßer Stoff, d. h. nichts.

Wenn die Lebewesen die durchschnittlichen Protagonisten der Substanz sind, dann sind die Menschen, die noch etwas höheren Inhaber des Titels „Substanz“. Das heißt: „Substanz“ ist auch ein anthropologischer Begriff. Das Anthropologische am Begriff kann man heraussagen. Ich tue es mit der Formulierung:

Man ist Substanz und hat Substanz. Man ist ein Wesen und hat ein Wesen. Man ist Körper, man hat Seele.

Ich habe Körper, ich habe Seele.

Das Anthropologische aus dem Substanz-Begriff heraussagen, das ist bisher fast nie geschehen. Deshalb ist der Substanz-Begriff bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts so stumpf, so blind, so formalistisch geblieben. Immerhin kam dann gegen Ende des 20. Jahrhunderts die „zoologische oder biologische Wende“. Jetzt ist es Zeit für die „anthropologische Wende“. Die bei Aristoteles sehr wohl angelegt ist, wenn er Sokrates, wenn er Kallias, wenn er das Du mit der ersten Substanz direkt identifiziert – und ihnen die zweite Substanz zu-sagt.

Wohlgemerkt, diese ganz spezielle Verwendung des Körper-Begriffs, die behaupte ich nur für den Abschnitt 8. Aber anscheinend hat man den bisher nur wenig beachtet. Er enthält eine bizarre Konstruktion – die ich in die obigen Man- und Ich-Sätze übersetzt habe. Aber das Bizarre kann ja etwas zum Ausdruck bringen, was stimmt. In dem Fall heißt „stimmt“: mit Aristoteles übereinstimmt.

Die zweite Substanz oder die Seele ist mit dem Fragepronomen „was“ assoziiert. Und die erste Substanz, für die ich „man“ oder „ich“ einsetze? Mit dem Fragepronomen „wer“ – das auch bei Aristoteles öfter auf dieser Ebene eingesetzt wird. Während das Was zum grammatischen dritten Geschlecht, dem asexuellen, gehört, enthält das Wer die beiden sexuellen Geschlechter: der oder die. Damit ist die Bahn von den Tieren zu den Personen schon eröffnet.

In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde in Deutschland von Scheler, Plessner, Gehlen die Philosophische Anthropologie begründet. Heidegger stand dieser Bewegung sachlich nahe, legte aber Wert darauf, sich zur „Ontologie“ zu erheben. Als 1935 der katholische Philosoph Theodor Haecker ein Buch mit dem Titel Was ist der Mensch? publizierte, reagierte Heidegger höhnisch mit der Forderung: wenn schon dann „Wer ist der Mensch“!


Walter Seitter  
 
Sitzung vom 13. April 2016

Donnerstag, 7. April 2016

In der Metaphysik lesen (1024a 10-26)


Wir werfen die Frage auf, ob die Seele, welche dem Menschen seine Wesensqualität liefert, nur bis zur Artbestimmtheit reicht, was heißen würde, jeder Mensch hat die ganz gleiche Menschen-Seele. Und alle weiteren Bestimmtheiten, welche die Menschen näher und bis zu ihrer Individualität qualifizieren, also Geschlecht, ethnische Anlagen, charakterliche Anlagen, wären akzidenzielle Hinzufügungen. Gemäß dieser Ansicht müssten sich zwar auch diese Hinzufügungen in der Seele niederschlagen. Die Seele würde sich dann gewissermaßen teilen zwischen einem Wesensteil und den kontingenten Zusätzen.

Diese Auffassung würde sich vielleicht mit der modernen Auffassung gut vertragen, wonach die Geschlechtszugehörigkeit und erst recht die übrigen individuellen Eigenschaften auf soziale, historische (biographische) Einwirkungen (aber auch Eigenleistungen) zurückzuführen sind. Mit anderen Worten: die Lehre von den Akzidenzien mildert den aristotelischen „Naturalismus“ und schafft Raum für die Kontingenz anderer Faktoren. Der ethische Charakter wird durch oft wiederholte Handlungen geschaffen, die sich zur Gewohnheit verfestigen.

„Seele“ heißt die Formursache, die einen Körper zu einem lebendigen, also zu einem Lebewesen macht. Doch müssen alle Körper eine Formursache haben, sonst wären sie keine Körper, sondern sie würden sich – theoretisch – auf einen „ersten Stoff“ reduzieren, der unwahrnehmbar, unerkennbar, unwirklich wäre.

Was geschieht, wenn ein Mensch stirbt? Es bleibt der Leichnam, zweifellos ein Körper, der noch dazu eine Zeit lang, das Aussehen, die „Form“ des Menschen bewahrt. Doch die „Formursache“, die den Menschen zu einem Menschen gemacht hat, ist nicht mehr da. Sie ist plötzlich auf eine niedrigere Formursache geschrumpft, welche noch für kurze Zeit das Aussehen des Menschen aufrechterhält, für längere Zeit noch einen Ex-Organismus aufrechterhält, der sich allmählich in irgendwelche organische Substanzen zersetzt, um schließlich in andere Körper wie Würmer, Erde oder dergleichen überzugehen. Lauter Körper mit irgendwelchen Formursachen.

Der Leichnam selber ist kein Mensch mehr, sondern nur noch ein Abbild oder Simulakrum. „Das erste Bild eines Menschen“ (Thomas Macho). Wenn es sich um einen Johann Maier handelt, dann war er gestern, als er noch lebte, ein Mensch. Heute liegt er auf der Bahre und wir sagen immer noch „Johann Maier“ dazu. Doch damit ist dieser Name zu einem Homonym geworden: er bezeichnet in der Distanz von zwei Tagen zwei ganz verschiedene Dinge: einen Menschen und ein Menschen-Abbild.

Das führt mich zum allerersten Satz, den Aristoteles geschrieben hat, sagen wir zum frühesten Satz innerhalb seiner überlieferten Schriften, nämlich zum ersten Satz der Kategorien, der mit der Bekker-Zählung 1a beginnt und dem meines Erachtens die Übersetzung von Ingo W. Rath in der Reclam-Ausgabe nicht ganz gerecht wird. Meine Übersetzung: „Homonym(e) werden die Dinge genannt, die nur den Namen gemeinsam haben, aber deren Namensbegriff in Bezug auf das Wesen ein je anderer ist: so wird sowohl der Mensch wie auch die Zeichnung „zoon“ genannt.“ Das griechische Wort zoon bedeutet nämlich sowohl Lebewesen wie Gemälde, Bild. Andersherum könnte man das Wort zoon ein Homonym nennen: denn es bezeichnet zwei ganz verschiedene, ja gattungsmäßig weit auseinanderliegende Dinge. Ungefähr so wie unser deutsches Wort „Hahn“ ein bestimmtes Lebewesen bezeichnet und ein Wasserversorgungsgerät.

Ein lebender Mensch und ein gezeichneter Mensch wären laut Platon nur zwei verschiedene „Stufen“ von Mensch: die mittlere Stufe und eine unterste Stufe, während der höchste Mensch derjenige im Reich der Idee wäre.

René Magritte hingegen mit seinem „Ceci n’est pas une pipe“: ein dezidierter Aristoteliker. Und ebenso sein Schüler Foucault ....

Nach diesen vielen Wiederholungen in Sachen Substanzen nun endlich zum Abschnitt 27 mit dem Stichwort „Verstümmelt“. In gewissem Sinn der Höhepunkt der bisherigen Metaphysik-Lektüre (Buch I bis V). Die bloße Tatsache, dass so eine banale Eigenschaft aus dem beschädigten Leben einen gleichen Rang einnimmt wie der „Anfang“, das „Wesen“, die „Gattung“, zeigt, dass dieses Buch, insonderheit das Buch V, sich weit von den Ansprüchen entfernt, die jemals mit „Metaphysik“ verbunden worden sind. Oder ist die Beschädigung ein meta gegenüber dem Natürlichen? Dann hätte das meta noch eine Bedeutung gewonnen.

Die Eigenschaft „verstümmelt“ wird unter dem Akzidens Quantität subsumiert, die im Abschnitt 13 behandelt worden ist. So gerät sie auch ontologisch in den Rang, in den sie dank ihrer lebensweltlichen „Qualität“ ohnehin schon gefallen ist. Es folgen einige diffizile aber nachvollziehbare Unterscheidungen, die ihr ihren Platz genau anweisen. Diese Eigenschaft verdankt sich einer Privation (auch der wird sie untergeordnet), die das Wesentliche einer Sache denn doch verschont hat. Ein durchbohrter Becher hingegen ist nicht verstümmelt, sondern er hat seine Wesensqualität verloren. Die liegt nicht in seinem Umriß, wenn man ihn von der Seite anschaut, also nicht bloß in der Becherform. Die Wesensqualität liegt in der Formursache, die etwas zu einem Becher macht, und die liegt vor allem in seinem Funktionieren-Können, in seiner Funktionalität. Und die geht in Richtung „Seele“.

Formursache ≈ Zweite Substanz ≈ Funktionalität ≈ Seele

Soviel zur „modernen“ Ersetzung von Substanz durch Funktion.


Walter Seitter  
 
Sitzung vom 6. April 2016