τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 19. Mai 2016

In der Metaphysik lesen (genos)


Wir kommen auf den Vortrag zu sprechen, den vor kurzem Jens Hauser (Kopenhagen) in Wien gehalten hat: „Biomedialiät und Medienkunst“. Er hatte mich davon informiert, weil er meinem Buch Physik der Medien. Materialien Apparate Präsentierungen wichtige Anregungen verdanke. Vor zwei Jahren organisierte er im Wiener Naturhistorischen Museum eine Ausstellung unter dem Titel „Wetware – art agency animation“ und wir fragen uns, was mit „wetware“ gemeint ist.

Der Begriff wurde in Anlehnung an „hardware“ und „software“ gebildet und meint solche Elemente oder Materialien, die zu drei Viertel aus Wasser bestehen – nämlich das menschliche Gehirn, überhaupt Menschenwesen als Teil einer IT-Architektur. Was ist IT?
Also Mitarbeiter, Programmierer, Entwickler, Systemadministratoren – alle, die dafür zuständig sind, dass die IT funktioniert. Zitat eines Projektmanagers: „Bevor wir mit diesem Projekt weitermachen können, brauchen wir mehr wetware.“ Manchmal werden die Nutzer von Hard- und Software ebenfalls mit diesem Begriff bezeichnet.
Ich übersetze jetzt einmal das englische Wort ins Aristotelische und sage dafür: „Mensch als zoon“.

Im Grunde ist damit auch schon das „Subjekt“ genannt, welches vom genos im Abschnitt 28 des Buches V vorausgesetzt wird, näherhin eben fortgepflanzt wird.

Aristoteles führt Beispiele an, aus denen hervorgeht, dass größere Menschheitsteile, nämlich Völker, sich nach Personen benennen, von denen sie abstammen: die Hellenen von einem gewissen Hellen, die Ionier von Ion; also Stämme von ihren Stammvätern; er führt auch das Beispiel einer Stammmutter an; aber da kann er kein Volk nennen; denn die Nachkommen der Pyrrha sind – bei ihm – die Menschen überhaupt; immerhin nähert er sich bei diesem Beispiel zumindest dem Anschein, es könnte auch von einer Frau die Weitergabe der genetischen Information ausgehen.

Im übrigen ist das gesamte Menschengeschlecht gegenüber einzelnen Völkern so etwas wie die Gattung – womit die zweite, die logische Bedeutung von genos zum Zug kommt. Diese Bedeutung wird hier anhand geometrischer Größen – Flächen und Körper – vorgeführt und schließlich verweist Aristoteles auf die Hauptunterscheidung in seiner Ontologie, die Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidenzien. Dabei greift er sogar auf die Terminologie der ersten Ontologie-Gründung, also der Kategorien, zurück und spricht von den verschiedenen Kategorien des Seienden. (1024b 13ff.) Unter dem Stichwort „das Seiende“ hatte er im Buch V ebenfalls auf die Kategorienlehre verwiesen, dort aber die Infinitivform „das Sein“ zum Terminus gemacht. (1017a 23ff.) Die Unterscheidung zwischen dem Partizip Präsens und dem Infinitiv Präsens wird Aristoteles schon bewusst vollzogen haben, er lädt sie aber nicht mit einer riesigen Bedeutung auf (wie später dann Heidegger).

Obwohl diese formalistischen Aspekte nur von begrenzter Wichtigkeit sind, kann man die Tatsache, dass die Metaphysik auf die Frühschrift über die Kategorien zurückgreift, in dem Sinn interpretieren, dass das Gesamtwerk des Aristoteles jenseits besserer oder schlechterer Erhaltungszustände doch einige durchgehende Züge aufweist.

PS.: 
Arbogast Schmitt, der mir von seiner Poetik-Kommentierung in deutlicher aber nicht bester Erinnerung ist, hat nun ein großes Werk vorgelegt, das mit seinem hohen Anspruch unser Interesse erwecken sollte.

Arbogast Schmitt: Wie aufgeklärt ist unsere Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht (Heidelberg 2016)

Schmitt versucht, den Erkenntnisbegriff des Aristoteles, seine spezifische Form von Rationalität, herauszuarbeiten. Er bezeichnet sie als "präsentische" Erkenntnisweise, welche sich direkt auf die Dinge richtet und die Unterschiede zwischen diesen klarstellen will: "Eine jede Sache wird an ihrem Vermögen (dynamis) und ihrer Leistung (ergon) erkannt und in dem, was sie ist, unterscheidend bestimmt." Indem er diese Problematik durch die Geschichte des Abendlandes weiter verfolgt, gelangt er zum Realitätsbegriff der Aufklärung und meint, die Aufklärung habe eine mentale "Repräsentation" favorisiert, die über die wahrgenommenen Dinge gelegt werde.

Schmitt spricht der aristotelischen Position mehr Plausibilität und Evidenz zu und sieht in ihr noch einen zusätzlichen Vorteil: sie könne eine Brückenfunktion in der immer wichtiger werdenden Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Kulturen wahrnehmen - etwa der westlichen und der ostasiatischen.

Es trifft sich, daß am kommenden Wochenende in Wien eine große Tagung stattfindet über


Philosophy of Nature
In Regard on Neo-Aristotelism in All-Encompassing System of Knowledge

stattfindet, die genau diese geopolitische Dimension mit über zwanzig Vorträgen aufspannt. 

Natürlich empfehle ich dringend den Besuch dieser Tagung.

Walter Seitter
 
Sitzung vom 18. Mai 2016 / Nächste Sitzung am 1. Juni 2016


Samstag, 7. Mai 2016

In der Metaphysik lesen (1024a 29 – 1024b 9)

Wir stellen die Frage, ob die Beschädigungen oder Verletzungen, die an der Thessalonicher Aristoteles-Statue angebracht sind, auf biographische oder persönliche Schäden oder Mängel bei Aristoteles selber hinweisen könnten. Man kann davon ausgehen, dass diese Statue wohl die einzige skulpturale Aristoteles-Darstellung aus neuerer Zeit ist, die vom klassischen Statuen-Ideal in großen Zügen wie auch in einigen krassen Details abweicht. Andere Aristoteles-Standbilder, in Griechenland oder anderswo, zeigen klassizistisch-starren weißen Marmor.

In seiner Athener Zeit hatte Aristoteles gravierende Nachteile in Kauf zu nehmen, da er nicht einheimischer Staatsbürger war. Obwohl Gründer und Leiter einer angesehenen Lehranstalt konnte er sich da nur als Mieter oder Gast halten. Eventuell hing schon die Tatsache, dass er nach dem Tod Platons (347) nicht die Leitung der Akademie übernehmen konnte, mit seinem schwachen politischen Status zusammen. Vollends dramatisch wurde seine Situation, als er nach dem Tod Alexanders des Großen (323) um sein Leben fürchten musste – und nach Euboia auswich, wo er bald starb.

Der Ausdruck „verstümmelt“ würde sich wohl auf das Werk des Aristoteles anwenden lassen, wenn man seinen Erhaltungszustand in Betracht zieht - und dabei nicht nur die Poetik und die Metaphysik in Betracht zieht, sondern vor allem die Tatsache, dass diejenigen Schriften, die von ihm autoritativ verfasst und publiziert worden sind, zur Gänze verloren sind. Allerdings sind von Aristoteles so viele Schriften erhalten, dass diese Verlusttatbestände kaum in unser Bewusstsein fallen. Anders steht es mit den „Fragmenten“ der Vorsokratiker – um die sich allerdings eine kultische Aura von Archaik und Tiefsinn gelegt hat.

Und dann noch zur Frage, wie sich das Stichwort „verstümmelt“ im Buch V ausnimmt, das ja als Wörterbuch – Wörterbuch der Metaphysik ? – gilt. Im letzten Protokoll habe ich dieses Wort zum „zentralen Begriff der Metaphysik“ erklärt. Zunächst einmal stellt es sich als der marginalste, der niedrigste Begriff in der Serie der 30 Stichworte dar. Alle übrigen – 29 – Stichworte sind Begriffe von hoher Allgemeinheit. Das gilt auch für „Quantität“, „Privation“, „Teil“, „Ganzes“ – mit denen die Verstümmelung in näherer logischer Beziehung steht. „Verstümmelt“ wird erstens den Quantitäten untergeordnet und zweitens als eine Sorte von Privation bestimmt. Gerade diese Unterordnungen weisen darauf hin, dass es sich um einen niedrigen Begriff handelt – tatsächlich um den niedrigsten in der Reihe der dreißig. Ähnlich niedrige, das heißt konkrete, das heißt beliebige Bestimmungen kommen in den übrigen Abschnitten zuhauf vor – aber immer nur als Beispiele, als Differenzierungen für die Stichworte. Beispiele wie „blind“, „farblos“, „kernlos“, „ungerecht“ – für Privation. Da sieht man schon, wenn man sieht, dass „verstümmelt“ genau in diese Reihe hineinpassen würde. Es steht aber nicht in dieser Reihe sondern ist sozusagen daraus emporgehoben worden und steht nun gleichrangig neben dem Stichwort „Privation“, obwohl es logisch eine Stufe darunter angesiedelt ist.

Die Eigenschaft „verstümmelt“ ist also logisch (nicht nur logisch) der niedrigste Stichwort-Begriff – aber textuell, literarisch, lexikographisch emporgehoben in die Serie der höheren Begriffe, von denen einige übrigens allerhöchste sind: logisch allerhöchst: „seiend“, logisch und nicht nur logisch allerhöchst: „Natur“, sehr hoch auch: „Geschlecht“/„Gattung“.
Das heißt Aristoteles hat mit „verstümmelt“ eine Sonderaktion durchgeführt, er hat eine Ausnahme gemacht, sodaß aus dem niedrigsten Begriff der besonderste geworden (natürlich nicht der höchste). Insofern der „zentrale“.

Wir gehen zum nächsten Abschnitt über, dessen Stichwort genos sich durch eine interessante Mehrdeutigkeit auszeichnet, dementsprechend sind die deutschen Übersetzungen hin- und hergerissen: zwischen „Geschlecht“ und „Gattung“. Das aristotelische Wort genos wird zumeist mit „Gattung“ übersetzt, weil sich dieser Begriff in der Logik durchgesetzt hat: als Bezeichnung für eine größere Allgemeinheit als „Art“.

Davon weicht aber die Übersetzung von H. Carvallo und E. Grassi (Reinbek 1994) sehr entschieden ab, indem sie das Wort genos, das ja in der Metaphysik schon öfter vorgekommen ist, immerzu mit „Geschlecht“ übersetzt, und zwar auch dann, wenn offensichtlich die logische Bedeutung im Spiel ist und das Wort „Geschlecht“ total missverständlich erscheint und darüber hinaus bizarr und abstrus beziehungsweise geradezu sex(ual)istisch, sofern dieses Wort ja auch so etwas bezeichnet. Die meisten deutschen Übersetzungen, so auch die meinige (eine wenn man so will „österreichisch-deutsche“) schreiben zumeist „Gattung“ und nur selten, wenn der Kontext es erzwingt, fallweise auch „Geschlecht“, wie eben in diesem Abschnitt 28.

Die mir vorliegende englische Übersetzung (bei LOEB) entscheidet sich ebenfalls hier für eine zweigleisige Übersetzung: für die logische Bedeutung das lateinische „genus“ und für die andere Bedeutung „race“. Die neuere amerikanische Übersetzung von Joe Sachs schreibt hingegen einheitlich „kind“ – eine vermutlich erstmalige „angelsächsische“ Lösung.

In den ersten Sätzen von Abschnitt 28 verwendet Aristoteles das Wort genos offensichtlich in der Bedeutung von „Geschlecht“. Und daher zunächst einmal einige Überlegungen zu diesem deutschen Wort, das selber zwei Bedeutungsrichtungen aufweist.

Geschlecht 1: Generationenabfolge, Abstammung, Fortpflanzung – also das Nacheinander im „Menschengeschlecht“ bzw. in einzelnen z. B. adeligen „Geschlechtern“.

Geschlecht 2: in diesem Sinn gibt es zwei natürliche oder sexuelle Geschlechter: männlich, weiblich. Die drei grammatischen Geschlechter (der, die, das) kann man als abgeleitete Variation bezeichnen. Und neuerdings spricht man sogar bei den natürlichen menschlichen Geschlechtern von mehr als zwei, wofür jetzt unterschiedliche neue Bezeichnungen erfunden werden. Um die Natürlichkeit der zwei menschlichen Geschlechter zu relativieren, hat man im Englischen (und im Neudeutschen) neben das Wort „sex“ das Wort „gender“ gesetzt.

Und der Zusammenhang zwischen Geschlecht 1 und Geschlecht 2 liegt darin, dass Geschlecht 1, d. h. Fortpflanzung, bei den Menschen und bei vielen Tieren und Pflanzen nur „mit Geschlecht 2“, nur mit dem Miteinander zwischen den beiden sexuellen Geschlechtern funktioniert.

Im großen und ganzen und trotz den angedeuteten Sprachtendenzen dominiert heute im Deutschen „Geschlecht 2“, während „Geschlecht 1“ aus der Mode gekommen ist. Bis zum 18. Jahrhundert dürfte es vorgeherrscht haben (eine geradezu tautologische Feststellung, weil mit dieser Bedeutung so etwas wie „Herrschaft“ verbunden war).

Jetzt aber noch zum Wort „Gattung“, das in die Logik gehört. Aber wenn man das Wort anschaut, womöglich anhört, nämlich auf es hört, dann nimmt man wahr, dass es mit den „Gatten“ verwandt ist. Auch das Wort „Gattung“ stammt aus dem semantischen Feld der Biologie. Auch es bezeichnet eine biologische Verbindung zwischen Menschen, aber nicht nur im Nacheinander, sondern auch im Neben- und Miteinander: Verwandtschaft. Und die „Gatten“ entsprechen genau der Zweizahl, die das Geschlecht 2 kennzeichnet: Mann und Frau.

In den ersten Sätzen von Abschnitt 28 also hat das Wort genos nur die Bedeutung von Geschlecht 1. Allerdings zunächst mit einer gewissen Verallgemeinerung über das Nur-Menschliche hinaus: „kontinuierliche Entstehung der (Dinge), die dieselbe Form (Art) haben“. (1024a 29) Wobei für „Entstehung“ genesis steht – also dazugehörige sis-Wort, das einen Vorgang oder eine Tätigkeit bezeichnet, und die Tätigkeit heißt im Deutschen „Fortpflanzung“, „Zeugung“. Einzelne Geschlechter bzw. Stämme oder Völker werden nach den Stammvätern benannt, oder auch nach den Stammmüttern, wofür Aristoteles einige Beispiele aus der griechischen Geographie und Sagenwelt nennt. Er wundert sich selber darüber, da nach seiner Auffassung die Zeugung als Übertragung der Menschenform nur vom Vater geleistet wird, die Mutter liefere lediglich den Stoff. Zeugung und Gebärung seien die unterschiedlichen Fortpflanzungsleistungen von Mann und Frau. Aber das Wort genos hat bei Aristoteles nur die Bedeutung von Geschlecht 1.

Und dann eben noch die logische Bedeutung „Gattung“. Aristoteles nennt Beispiele aus der Geometrie: die Gattung der Fläche umfasst verschiedene Arten von Flächen, die Gattung der Körper umfasst verschiedene Arten von Körpern; formal kann die Gattung definiert werden als erster Bestandteil einer Definition oder als Substrat für die Unterschiede. Die scholastische Zusammenfassung lautet: definitio fit per genus et differentias specificas.

Walter Seitter
 
Sitzung vom 4. Mai 2016