τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Dienstag, 14. März 2017

In der Metaphysik lesen (Buch VI, 1026a 23 – 32)

Zuletzt war ausdrücklich von den theoretischen (betrachtenden) Wissenschaften (oder Philosophien) die Rede und davon, dass sie die ehrwürdigsten sind. Wodurch unterscheiden sie sich von den anderen, den poietischen und den praktischen? Dadurch, dass sie auf kein wissenschaftsfremdes Tun (also Herstellen oder Handeln) abzielen. Sondern sich ausschließlich für ihr wissenschaftliches Tun interessieren: schauen und sagen, denken, beweisen (da sind immerhin schon mehrere Vermögen oder Tätigkeiten involviert). Das Ziel liegt allein im Wissen und womöglich in der Wahrheit. Selbstzweckhaftigkeit dieser Wissenschaften.

Diese „Reinheit“ und der hohe Rang der betrachtenden Wissenschaften hat sich speziell in der antiken Physik so ausgewirkt, dass sie sich vom Handwerk und vom Ingenieurwesen weitgehend ferngehalten hat – im Unterschied etwa von der Medizin oder der Strategik. Genau das hat sich dann in der frühen Neuzeit geändert, als das Experiment einen hohen Stellenwert in der Theorie bekam: Experiment heißt Versuchsanordnung, Eingriff, Fragestellung durch Veränderung der materiellen Bedingungen und Warten auf Reagieren der Natur; die Natur zwingen, Antworten zu geben. Die Naturbeherrschung also die Herstellung, die programmatisch zum Ziel erklärt wird, wird bereits in der Theorietätigkeit vorweggenommen, „ausprobiert“. Die Theorie selber operiert instrumentell-technisch.

In der Mathematik ist das anders – sie ist ja keine Naturwissenschaft; eigentlich ist sie die reine „Geisteswissenschaft“. Die historisch-philologischen Wissenschaften, die im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt und dann „Geisteswissenschaften“ genannt wurden, haben gewissermaßen den antiken Typ „betrachtende Wissenschaften“ übernommen (auch wenn ihnen dann die „praktische“ Zwecksetzung „Bildung“ noch ein bisschen aufgeladen worden ist – aber die „betrachtende Lebensweise“ mit ihrer Autarkie galt schon in der Antike als ideale Lebensform). Wie es scheint, müssen heute die Geisteswissenschaften um ihre Existenzberechtigung, also um ihre Finanzierung kämpfen.

In 1026a 23 wird die zuvor als „theologische Philosophie“ bezeichnete Wissenschaft „Erste Philosophie“ genannt und sofort mit der Frage verknüpft, wovon sie eigentlich handelt. Drei Möglichkeiten: von Allgemeinem oder von einer Gattung oder von einer bestimmten Natur. Letzteres wäre nur möglich, wenn es überhaupt neben den natürlichen Wesen noch ein anderes Wesen gäbe. Wenn nein, wäre die Physik die erste Wissenschaft und der Materialismus, der sich in der Lehre von den Substanzen eigentlich schon angekündigt hat, wäre das letzte Wort. Wenn ja, also wenn es ein unbewegtes Wesen gibt, dann ist die Wissenschaft davon die erste und gleichzeitig ist sie die allgemeine Wissenschaft, weil jenes erste Wesen das erste von allen ist. Die obige Frage, die drei Möglichkeiten offen ließ, bekommt nun eine Antwort, die sich wieder in drei Richtungen gliedert. Diese Erste Wissenschaft ist Theologie und sie ist Ontologie in zwei Variationen: Wissenschaft vom Was des Seienden und Wissenschaft von den übrigen Bestimmungen des Seienden.

Die Folge wird zeigen, dass Aristoteles – jedenfalls im Buch VI – die Betrachtung des Ehrwürdigsten sehr schnell abtut, die Betrachtung der Unwichtigsten und Zufälligsten hingegen ziemlich ausführlich bespricht. Es scheint da eine Widersprüchlichkeit in seiner Rede zu geben.

PS.: Wolfgang Koch stellt die Behauptung auf, dass Aristoteles mit seiner geozentrischen Kosmologie den Fortschritt der Wissenschaft blockiert habe. Die pure Betrachtung hat tatsächlich bestimmte Entdeckungen verhindert – sie hat die Naturbeherrschung blockiert, weil sie sie gar nicht angestrebt hat. Die Moderne hat die Naturbeherrschung vorangetrieben – mit vielen Vorteilen für die Wissenschaft, für unsere Lebenstechnik und mit erst langsam sichtbar werdenden Nebenfolgen.

Allerdings muß man die Begrifflichkeit des Aristoteles, wenn man sie aufgreift, richtig handhaben. Die Erde ist in seiner Kosmologie unbewegt – sie ist aber kein „unbewegtes Wesen“ in seinem Sinn; sie besteht hauptsächlich aus den Elementen Erde und Wasser, die sich beide nach unten bewegen. Also müsste sie sich konsequent in einer Richtung bewegen. Tatsächlich bewegt sich der Himmelskörper Erde für Aristoteles nicht „nach unten“. Wir sagen heute, daß  die Erde  ihr  Position relativ zu ihren Nachbarkörpern  rhythmisch stabil hält. Das schließt nicht aus, dass sie sich makrokosmisch doch in einer Richtung bewegt: Gravitation oder Expansion? Eher das zweite. 


Für Aristoteles war die relative Stabilität der Erde, also der Augenschein, die Anzeige dafür, dass sie sich nicht bewegt.. Im 20. Jahrhundert haben Husserl und Sloterdijk der Geozentrik - und damit dem Augenschein - eine gewisse Berechtigung zugesprochen.  Aristoteles' Auffassung von den "betrachtenden Wissenschaften" beruht auf seiner Hochschätzung des Augenscheins - die ihn von Platon trennt und einem Sophisten wie Protagoras annähert.  Sie nähert ihn auch den Dichtern an. Ich selber habe die Philosophische Physik zwischen der Wissenschaftlichen und der Poetischen Physik positioniert.  Siehe mein Nachwort zu Francis Ponge: Der Tisch. Ein Textauszug.  (Klagenfurt 2011)



Walter Seitter

Sitzung vom 8. März 2017

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