τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 8. April 2017

In der Metaphysik lesen (Buch VI, 1027a 28 – 35)

Zuerst eine Diskussion zu den Thesen von Wolfgang Koch.

Dass es im alten Griechenland die Wissenschaften (jedenfalls einige) schon vor der Philosophie gab, geht auch aus Aristoteles hervor, für den überhaupt die Wissenschaften den Horizont seines Tuns bilden. Daher definiert er im Buch I der sogenannten Metaphysik das Objekt dieses seines Unternehmens als „gesuchte Wissenschaft“ (neben den anderen bereits existierenden).

Vor den Philosophen gab es auch die sogenannten „Weisen“, das waren Inhaber verschiedener Rollen (z. B. Verfassungsgeber), denen man ein allgemeines Orientierungswissen zusprach. Bestimmte Wissenschaftler wie Thales oder Pythagoras verallgemeinerten ihre Fragestellung, führten Weisheit und Wissenschaft zu einer neuen Art von Orientierungswissen, zu einer höchsten Wissenschaft zusammen, die „Philosophie“, also Liebe zur Weisheit genannt wurde und automatisch in einen Konflikt mit der Religion geriet. Während sich in den nicht-griechischen Imperien die Wissenschaften mit der staatlichen Religion (wie mit der ebenso staatlichen Ökonomie) gut vertrugen. Dort kam auch keine Philosophie auf. Herodot (490-424) besuchte fremde Länder in Asien und Afrika und beschrieb die Unterschiede zwischen den Kulturen, womit er den Wissenshorizont der Griechen erheblich ausweitete (ohne dass seine Forschung von den Philosophen als Wissenschaft anerkannt wurde).

Ein weitgehend philosophenloses Land war dann viel später Österreich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Da beherrschten die Künste (zusammen mit der Religion) die Bühne der Öffentlichkeit – so sehr, dass die Dichtung die Stelle der Philosophie einnehmen musste. Zeitweise Aufschwünge der Wissenschaften (Mathematik, Ökonomie, Medizin) beförderten tendenziell das Aufkommen von Philosophie, das sich aber erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verstetigen und zu verdichten begann. Hier könnten viele Übergangsfiguren genannt werden, wie etwa der Psychiater und Schriftsteller Ernst von Feuchtersleben (1806- 1849), der sich für die Reform des Bildungswesens und die Etablierung des Faches Philosophie einsetzte. Der „Wiener Kreis“ steht im frühen 20. Jahrhundert für ein Philosophieren, welches seine Abhängigkeit von den Wissenschaften auch noch affirmiert.

Die Existenz von Philosophie scheint ein rareres Faktum zu sein als die Existenz anderer Wissenschaften. Gleichwohl wird man sagen können, dass die Philosophie eine Form von kultivierter Orientierungssuche ist, ohne die Gesellschaften heute kaum auskommen: so sind alle neueren Verfassungen von philosophischen Konzepten geprägt. Gerhard Weinberger erinnert an Hans Kelsen (1881-1973), der als Architekt der österreichischen Bundesverfassung (1920) gilt; im Jahr 2016, zwei Jahre nach dem Inkrafttreten der neuen tunesischen Verfassung, wurde ihm im dortigen Parlament eine Feier dargebracht, bei der der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer anwesend war.

Damit haben wir einen Bogen von der Entstehung der Philosophie in Griechenland zu ihrer heutigen Bedeutung geschlagen und mit der Geschichte haben wir auch die Dimension berührt, in der Akzidenzien eine stärkere Rolle spielen als in anderen Bereichen, etwa in der Natur. Und zwar die Akzidenzien so, wie sie in Abschnitt 30 von Buch V und in Abschnitt 2 von Buch VI definiert werden: Sachverhalte, Ereignisse, Ereignisfolgen, die nicht immer oder häufig eintreten sondern eher selten oder ausnahmsweise. Im Unterschied zu solchen, die häufig oder regulär auftreten, weil sie von einsichtigen oder sogar einsehenden Instanzen wie Vernunft oder Kunst oder Natur verursacht werden. In der „Geschichte“, d. h. in der Abfolge, in der Masse, im Durcheinander der menschlichen Taten und Leiden überlagern sich reguläre Verursachungen, also geplante und absichtliche Handlungen, mit Gegenaktionen, Überraschungen, Nebenwirkungen, ungewollten Resultaten.

Die Kongruenz von Akzidenzialität und Geschichte war das Ergebnis meiner Poetik-Lektüre. Und jetzt zeigt sich auch in der Metaphysik-Lektüre so etwas.

Die Erste Philosophie, die vor den anderen betrachtenden Wissenschaften (Physik, Mathematik) rangiert, teilt sich in Theologie, die Wissenschaft vom Höchsten und vom Wissbarsten (siehe Met. I, 983a 5ff.), und in die Ontologie, die Wissenschaft von den allgemeinen Bestimmungen des Seienden als Seienden. Die wiederum gliedern sich in die Wesensbestimmungen und die Akzidenzien, von denen es gar keine Wissenschaft geben soll. Trotzdem geht Aristoteles im Buch VI auf diese ein und fragt sogar nach ihren Ursachen, womit er sie doch wissenschaftlich behandeln möchte.

Bisher hat er zwei Antworten auf die Frage nach den Ursachen der Akzidenzien gegeben: Ursache ist der Zufall (1025a 25), Ursache ist der Stoff (1027a 14).

1027a 29ff. wird diese Ursachenfrage neuerlich aufgeworfen. Da könnten wir schon während der Osterferien hineinschauen. Immerhin wird zu Ostern ein extrem akzidenzielles Ereignis im aristotelischen Sinn gefeiert: eigentlich unmöglich, angeblich doch passiert, also etwas Exzeptionelles, Unwahrscheinliches, Rares, Rarissimum.



Walter Seitter

Sitzung vom 5. April 2017


Nächste Sitzung am 26. April.

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