τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 17. Juni 2018

Gedankenprotokoll vom 13. Juni 2018


Quer zur bisherigen Lektüre und Diskussion ontologischer Darlegungen in der Metaphysik, vor allem in Buch IV und VII, möchte ich zwei Begriffe hervorheben und ihre Tragweite erörtern.
Einerseits sei der Begriff on - seiend herausgehoben, andererseits der Begriff ousia – Seiendheit, Wesen, Substanz .... 
Im Buch IV heißt es: Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende  als solches und die ihm zukommenden Bestimmungen betrachtet ... das Seiende wird mannigfaltig ausgesagt ... Wesen oder Affektionen oder Weg zum Wesen oder Vernichtungen oder Beraubungen oder Qualitäten ... oder Verneinungen (1003a 21ff.)

Dieser Begriff „seiend“ ist der Grundbegriff der Ontologie und er explodiert gleichsam, sobald man ihn angreift, in alle mögliche Richtungen und Grade von Seinsmodalitäten: von der stabilen Seinsmodalität „Wesen“ bis hin zu akzidenziellen oder abhängigen Eigenschaften und sogar zum Nicht-Seienden, sofern es doch ein Seiendes ist, wenngleich mit negativem Vorzeichen.

Ein Begriff von minimaler semantischer Intensität, äußerst flexibel, kann er sowohl sehr wie auch kaum „Reales“ bezeichnen, Seinsmodalitäten von dieser oder jener Art, Relationen, Potenzialitäten, durchgehende Bestimmungen wie „ein“ oder „wahr“.

Man könnte on wohl auch mit „real“ übersetzen, es heißt sowohl „etwas seiend“ wie „existierend“ und sogar dessen Negation.

Die Formel „das Seiende“ hat etwas Steifes und sie verdeckt daher die semantische Flexibilität des Ausdrucks, der ein Minimalausdruck ist, aber das Maximale nicht ausschließt. Die Formel hat etwas Neutrales  – sie soll aber nicht nur „neutrale“ Aspekte bezeichnen  sondern auch intensive, dramatische, lebendige (wiewohl dieses Wort schon an bestimmte Realitätsbereiche denken lässt). 
Die Mannigfaltigkeit von „seiend“ könnte man eine Polysemie nennen und mit Homonymie in Verbindung bringen. Sie wird ja auch von Aristoteles offiziell deklariert.
Bei der ousia, als der höchsten Bedeutung von „seiend“, handelt es sich um einen Hauptbegriff der Ontologie. Und da lässt sich eine andere Mannigfaltigkeit feststellen, die Aristoteles nur mit seinem Sprachgebrauch indiziert, immerhin manchmal auch deutlich sichtbar macht, so im Buch VII, 1035b 14ff., wo er ousia, logos, eidos, to ti en einai als Synonyme hintereinander schaltet. Sehr verschiedene Wörter, die das Gleiche bezeichnen und es doch differenzieren, nuancieren.
Nämlich das Wesen, die Substanz, die Essenz. Jetzt habe ich selber schon drei ziemlich verschiedene Wörter für dieses Gleiche genannt – und damit so etwas gemacht wie Aristoteles an der angegebenen Stelle.
Nach über 2000 Jahren Übersetzungsgeschichte verfügen wir über noch mehr Synonyme für die ousia als Aristoteles, bei dem sich immerhin ungefähr zehn davon auffinden lassen – neben den eben genannten auch Form, Vorbild, Natur, Wirklichkeit, Zielbestimmtheit.
Die Mannigfaltigkeit der ousia lässt sich als eine synonymische oder polynomische bezeichnen: verschiedene Wörter für ein Gleiches. Dieses Gleiche ist die höchste Stufe der viel heterogeneren Variationen von seiend. Dieses Gleiche ist das Wesen.
Eine Mannigfaltigkeit, die uns erlaubt, ja dazu auffordert, dass wir beim Übersetzen von ousia nicht krampfhaft ein einziges Wort privilegieren müssen.
Die eingehende Diskussion der ousia im Buch VII bewegt sich hauptsächlich in dem Realitätsbereich, den man den biologischen nennen könnte und in dem die ousia den Platz der Art (innerhalb einer Gattung) einnimmt. Das ist auch der Platz der „Seele“ – welche ebenfalls an der angegebenen Stelle als Synonym des Wesens genannt wird.
Das überraschendste Synonym dieser Art ist wohl das persönliche Fürwort „du“, das Aristoteles ausdrücklich einführt, wenn er sagt: „Denn das Du-sein ist nicht das Musisch-sein. Denn du bist nicht musisch, insofern du bist, was du also bist, insofern du du bist, das ist dein Was-es-ist-dies-zu-sein.“ (1029b 15ff. ). Die synonymische oder polynomische Mannigfaltigkeit der ousia erreicht hier eine Spitze, die – jedenfalls für die Antike – schon außerhalb der üblichen Begrifflichkeit liegt.

Umso mehr darf sie als eine wichtige Besonderheit des aristotelischen Substanzauffassung gelten und diese aus dem Vorurteil lösen, es handle sich um eine Konzeption, die alle Dinge unter einen starren Begriff zwinge.

Der Begriff der ousia ist nicht im gleichen Sinn mannigfaltig wie der des on. Er ist grundsätzlich gedoppelt-gespalten: das Einzelne und dessen Was. Und zudem streut er sich in viele verschiedene Ausdrücke. In unabzählbare – auch der moderne Begriff „Individuum“ könnte da eingesetzt werden. Wenn es in der Scholastik geheißen hatte „Das Individuum ist nicht aussprechbar“, wird man nun dazu sagen können „Das Individuum ist sehr wohl ansprechbar“ – mit dem Du. Und die anderen persönlichen Fürwörter sind nicht aus- sondern miteingeschlossen.

Die „mannigfache Bedeutung des Seienden“ ist seit langem ein bekannter Topos in der Aristoteles-Forschung. Die „vielfältige Benennung des Wesens“ könnte eine neue Perspektive bilden.


Walter Seitter

Sitzung vom 13. Juni 2018

Nächste Sitzung am 20. Juni 2018

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