Im Abschnitt 13 vertritt Aristoteles mit Vehemenz eine These, die überraschen mag: Das Allgemeine kann nicht Wesen sein. Landläufig wird automatisch angenommen, das Wesen sei mehr „allgemein“ oder gar „abstrakt“.
Was aber ist das Allgemeine? Aristoteles: „was sich von Natur aus an
mehreren Dingen findet“ (1038b 12). Hingegen ist das Wesen jedes Einzelnen
jedem Einzelnen eigentümlich.
Aristoteles sucht das Allgemeine auch im System der
naturwissenschaftlichen Klassifikation auf und findet es auf der Ebene der
Gattung: also „Lebewesen“ ist so ein Allgemeines. Das Wesen hingegen liegt auf
der Ebene der Art – diese ist folglich ein Synonym des Wesens.
Wenn Aristoteles sagt, dass das Allgemeine nicht so wie das
Was-es-ist-dies-zu-sein ein Wesen sein kann (1028b 17), erklärt er dieses
Was-es-ist-dies-zu-sein explizit zu einem Synonym des Wesens – und gerade nicht
das Allgemeine.
Das heißt, die Vielnamigkeit des Wesens, seine Synonymisierung, bedeutet
nicht, dass ungefähr alle irgendwie naheliegenden Begriffe Synonyme des Wesens
sind – nein Aristoteles zieht da einen Trennungsstrich.
Im übrigen gibt es das Allgemeine auch im Bereich der Akzidenzien, die
vom Wesen noch weiter entfernt sind. Wolfgang Koch: die Farbe überhaupt
gegenüber der bestimmten Farbe rot. Weder die Farbigkeit noch rot können
Wesen sein.
Mit dem Oberbegriff „Gattung“ kann man die Dinge der Welt in jeweils
weiteren Begriffen zusammenfassen.
Neben den Lebewesen stehen die leblosen Dinge, über den beiden die
körperlichen Dinge, daneben die unkörperlichen.
Und darüber – die Dinge.
So würde der Hausverstand annehmen. Und Aristoteles schließt sich dem
oftmals an. So vielleicht auch hier.
Doch sein ontologischer Grundbegriff to on gehört nicht
in dieses Schema. Dieses on ist gewissermaßen „zu
allgemein“, zu sehr auf „alles Mögliche“ ausgerichtet, als dass es eine Gattung
bilden könnte (siehe 998b 22). Unsere Überlegungen der letzten Woche lassen
sich so weiterführen, dass das on, das seiend, so ein
dünner, so ein schwacher und inkonsistenter Begriff ist, dass er immer schon
auseinanderfliegt in die gegensätzlichsten Extreme – von der starken ousia über
die schwächliche Affektion bis hin zur katastrophalen Vernichtung. Also in die
unterschiedlichsten Seinsmodalitäten, die weit über die Kategorien hinausgehen.
Dieses on ist nicht die oberste und weiteste und
ruhigste Gattung, sondern eine Anzeige für den ständigen Zerfallsprozeß,
welcher zur ständigen Bildung aller möglichen Seinsmodalitäten führt.
Anders steht es mit der ousia. Ein starker Begriff,
eine starke Seinsmodalität. Stark auch in dem Sinn, dass er viele andere Wörter
anstellt, damit sie ihn erläutern, nuancieren, ersetzen und seinen inneren Reichtum
kundtun. Ihn auch für verschiedene Realitätsbereiche akkomodieren: für die
Naturkunde, für die Ethik oder für die Poetik.
Eines dieser Synonyme ist die physis. Die wurde dann in
„Natur“ übersetzt. Und um das Jahr 2000 wurde dann in Brüssel eine Kommission
eingesetzt, welche die „Natur der FPÖ“ erforschen sollte.
Übersetzungen sind überhaupt Synonymisierungsvorgänge – nicht nur
für ousia. Und es macht einen Unterschied, ob in einer Kultur
Übersetzungen als Entstellungen verpönt, ob sie gerade geduldet oder als
Erweiterungen gefördert und genutzt werden.
Gerhard Weinberger erwähnt in seinem Buch Mit dem Koran ist kein
Staat zu machen – Die Krise des Islam hautnah erlebt (Wien 2018), dass
der französische Philosoph Paul Ricoeur darauf hinweist, dass die islamische
Theologie die Übersetzung des Koran genau genommen nicht zulässt. Demgegenüber
ist das Christentum bereits mit dem Neuen Testament sehr entschlossen als
Übersetzung in die Welt getreten. Und zwar als griechische Übersetzung, welche
Synonyme für die aramäischen Wörter Mariens, Jesu oder Petri
einsetzt.
Wir selber dürfen uns, ja wir müssen uns als Aristoteles-Leser –
laienhaft wie auch immer – übersetzerisch betätigen. Etwa wenn wir uns fragen,
ob im obigen Fall auch „Charakter“ eingesetzt werden könnte.
Walter Seitter
Sitzung vom 20. Juni 2018
Nächste Sitzung am 27. Juni 2018
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