τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 14. Oktober 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1039b 20 – 1040b 4)


Das Buch VII, dessen Lektüre uns nun seit dem Juni des Vorjahres beschäftigt, konzentriert sich im Unterschied zu den früheren Büchern auf ein Spezialthema, nämlich das Wesen. Daraus muss man aber nicht schließen, dass es das Untersuchungsfeld, das man „Ontologie“ nennt und das explizit im Buch IV begründet worden ist, verlässt und etwa ein neues aufmacht.

Der Grundbegriff der Ontologie scheint das „Seiende“ zu sein – ein Begriff, der unseren Ohren hölzern klingen mag, dieses Partizip Präsens in dritten Geschlecht. Ein Begriff, dessen Allgemeinheit ins Vieldeutige geht, weil er sehr unterschiedliche Seinsmodalitäten bezeichnet – vom starken Wesen bis zur schwachen (?) Relation. Also eigentlich gar kein Begriff, sondern eher ein Grundwort, ein explodierendes, fast homonymes. Obwohl so allgemein, bezeichnet das Wort nicht eine Gattung, wie man vermuten möchte, zu der dann die Unterschiede kommen. Sondern es schmiegt sich den Seinsmodulierungen an, von denen das Wesen die dominante ist. Das „Wesen“ ist der Hauptbegriff der Ontologie – und der ist wieder so gewichtig, dass er eine ganze Reihe von Synonymen um sich hat, die seine verschiedenen Nuancen ausdrücken. Vieldeutigkeit des Seienden und Vielnamigkeit des Wesens - das sind die beiden  Multiplizitäten der aristotelischen Ontologie (ohne dass ich jetzt die vielen Entfaltungsbegriffe, es sind mindestens zwanzig, genannt hätte).

Die sogenannte Metaphysik, also dieses Gesamtbuch, behandelt neben der Ontologie noch ein anderes Feld – die Theologie (die quantitativ nur marginal ist).

Im Abschnitt 15 führt Aristoteles aus, dass sowohl Einzeldinge, z. B. menschliche Individuen, wie auch „Ideen“ (im platonischen Sinn) nicht definierbar und folglich nicht wissenschaftlich behandelbar sind.

Zum Beispiel die Unmöglichkeit von „dich definieren“ (1040a 13): mit der Angabe von qualitativen Bestimmungen körperlicher oder seelischer oder geistiger Art kann ich nicht sicher sein, dass sie nur dir zukommen und sonst niemandem. Der Vorschlag, den Namen als Bestimmung anzugeben, geht fehl, weil Eigennamen von vornherein keine Begriffe sind. Und eine andere Bestimmung – nämlich die Einnahme einer bestimmten Raumstelle zu einem bestimmten Zeitpunkt, könnte zwar ein Individuum treffen, liefert aber keine Qualitäten. Die Aussage, ein veränderliches und vergängliches individuelles Ding könne nicht Gegenstand von Definition und folglich von Wissenschaft sein – widerspricht sie einer anderen aristotelischen Aussage, nämlich in 1037a 14, die Betrachtung und Definierung der sinnlich erfassbaren Wesen sei Aufgabe der Physik?

Nach Aristoteles gibt es auch ewige und strikt individuelle, nämlich einzigartige Dinge wie Sonne und Mond. Auch sie können nicht definiert werden, weil jede Definition ihnen auch allgemeine Bestimmungen zuschreiben müsste, die ihre Einzigartigkeit beeinträchtigen würde. Mir scheint, dass die heute von manchen vertretene „Gaia-Hypothese“ eine ähnliche Auffassung von der Erde suggeriert: als einem einzigartigem quasi-lebendigen und göttlichen Wesen. Und eine platonische Idee wäre nach Aristoteles auch so ein undefinierbares Ding.

Walter Seitter

Sitzung vom 10.  Oktober 2018
Nächste Sitzung am 17. Oktober 2018

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