Ivo Gurschler teilt mir eine bemerkenswerte Stelle aus Josef
Königs Einführung in das Studium des Aristoteles (Freiburg
München 2002) mit:
„Aristoteles ist der wortkargste Philosoph, den ich kenne. Und
dies Urteil ist allgemein. Gerade deshalb muß man dem, was er nun äußert und
dessen sprachliche Fixierung er für notwendig erachtet, sorgfältig nachgehen.
Es lohnt sich immer. Es ist nicht nur notwendig für das begriffliche Verstehen,
sondern gewährt den Genuß, einen in seinen Gegenstand verlorenen Künstler und
Meister bei der Arbeit zu sehen: wie er Striche hinsetzt, die sitzen. Dieses zu
verfolgen und immer wieder mit ihm nachzuvollziehen, ist überhaupt der tiefste
Gewinn solcher Schriften. Der liegt nicht darin, dass uns irgendwelche große
Gedanken über Gott und die Welt vorgetragen werden, Gedanken, die dann andere
auch große Philosophen bestreiten und die sich schließlich doch irgendwo im
Dunkel verlieren. Er liegt in der Qualität der Arbeit, in dem tiefen Handwerk.
Dies zu gewahren, die Möglichkeit und Wirklichkeit solchen selbstverlorenen
Sachbezugs an irgendeinem scheinbar und vielleicht auch wirklich wenig
bedeutungsvollen Punkt und Satz leibhaft vor sich zu sehen – ist ein dauernder
Besitz. Von den sog. großen umfassenden Gedanken gilt das nicht. In diesen
kleinen Dingen liegt die Realität des Philosophierens. Und wer sie da nicht
erfaßt, dem wird die Philosophie immer nur ein eingebildeter und zufälliger
Besitz sein.“
In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1041a 6 – 1041b 2)
Aristoteles setzt sein Herumfragen in Bezug auf das „Wesen“
fort.
Was und wie beschaffen ist das Wesen? Und wie steht es mit jenem
Wesen, das abgetrennt von den sinnlich erfassbaren Wesen existiert? Zwei
Fragen, die man wohlweislich unterscheiden muss: die erste bezieht sich auf
das Wesen bzw. auf alle Wesen überhaupt; die zweite scheint auf die
Unterscheidung von Realitätsbereichen zu zielen: in dem einen gibt es ein
Wesen, in dem anderen mehrere und zwar sinnlich erfassbare.
Anstatt diese Fragen zu beantworten, geht Aristoteles zu einer
anderen Frageform über: zur Weshalb- oder Warum-Frage, die zunächst ohne den
Begriff „Wesen“ auskommt.
Da wird gefragt: weshalb kommt einem etwas anderes zu? Die
tautologische Frage, weshalb etwas etwas ist, braucht gar nicht gestellt werden.
(Eine positive Rolle spielt die Tautologie allerdings in der Zweiten
Ontologie-Gründung in Buch V). Sinnvoll sind nur Fragen vom Typ: weshalb kommt
eines zum anderen: das Musische zu diesem Menschen, der Schall zu
den Wolken, die Steine zu so einem Aufbau? Schematisch gibt Aristoteles zwei
Antworten. Die Ursache liegt entweder im Was (Formursache oder Wesen) oder in
der Wirkursache. Letztere ist Ursache beim Entstehen oder Vergehen, erstere
beim Sein.
An dieser Stelle darf wieder einmal angemerkt werden, dass
für Aristoteles jedwede Sache vier Ursachen hat (mindestens zwei von ihnen
würden wir eher als Bestandteile bezeichnen).
Die Frage, was der Mensch sei, wird als zu einfach abgetan.
Sinnvoller sei es, zu fragen, weshalb dieser so und so bestimmte Körper da ein
Mensch sei. Derart würde man die Ursache des Stoffes suchen – und die wäre die
Form, das Was, das Wesen.
Eine etwas andere Fragerichtung bezieht sich auf
zusammengesetzte Dinge, die aus Elementen bestehen und zwar so, dass sie mehr
sind als die Summe der Elemente. Etwa die Silbe aus zwei Buchstaben in
einer bestimmten Anordnung. Oder das Fleisch von Lebewesen aus den Grundstoffen
- „Elementen“ - Feuer und Erde und noch etwas – so dass das Fleisch sehr wohl
etwas anderes ist als Feuer plus Erde und noch was, nämlich eine völlig neue
Qualität.
Was führt dazu, dass da eine neue Qualität zustande kommt? Diese
Ursache ist das Wesen; die erste Seinsursache des jeweiligen Dinges. Nicht alle
Dinge sind Wesen, sondern nur diejenigen, die von Natur aus und naturgemäß
bestehen.
Hier bedeutet physis – jedenfalls für das
Beispiel „Fleisch“ - den Realitätsbereich, den wir „Natur“ nennen.
Wenn Aristoteles daraus folgert: da würde sich die Natur als Wesen zeigen – so
kippt die Bedeutung von physis in die Seinsmodalität „Wesen“ (wie
das Aristoteles im Abschnitt 4 von Buch V selber ausgeführt hat). Diese „Natur“
wäre nicht etwa ein weiteres Element sondern eine andersartige Ursache,
Formursache, die hier „Prinzip“ genannt wird. Der aristotelische Ursachen-Begriff
ist sehr vieldeutig.
Das Beispiel der Silbe würde man kaum dem Realitätsbereich der
Natur zuordnen – aber der Silbencharakter wird von Aristoteles ebenfalls einem
„Wesen“ zugerechnet werden, welches Sache der jeweiligen Sprache ist.
In allergrößter Entfernung vom Realitätsbereich der Natur setzt
Aristoteles die physis als Wesen und somit als Seinsmodalität
ein, wenn er in der Poetik davon spricht, dass die
Entwicklung der Tragödie aufgehört habe, sobald sie „ihre Natur erreicht habe“.[1]
Walter Seitter
Sitzung vom 24. Oktober 2018
Nächste Sitzung am 31. Oktober 2018
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