In Platons Hippias maior berichtet
der Sophist Hippias von Elis, dass das Theorie-Interesse bei den Spartanern
eine sehr spezielle Richtung eingeschlagen habe. Eine andere als bei den
Naturphilosophen, eine andere auch als etwa bei den athenischen Philosophen.
Sie interessierten sich für die Anfänge der Menschheitsgeschichte, wollten auch
noch vor diese zurückgehen, bis auf die Heroen, und über die ersten
Stadtgründungen belehrt werden. Das Wort für diese Erforschung der Anfänge
lautet „Archäologie“ (285d 9) - nimmt also den Begriff vorweg, der seit dem 18.
Jahrhundert nach Christus ein Signum der Moderne ist.
(Man könnte sagen, dass die
athenischen Tragödien so ein „archäologisches“ Erkenntnisinteresse ausagiert
haben)
Aristoteles hat seine Suche nach den
„anfänglichen Ursachen“ an die Naturphilosophen angelehnt. Eine zweite
Untersuchnungsrichtung nennt er „Betrachtung des Seienden als seienden und der
ihm zukommenden Bestimmungen“ – die man zu Beginn der Neuzeit „Ontologie“
genannt hat. Diese Betrachtung hält sich in der Gegenwart auf und Wolfgang Koch
sagt, sie setze voraus, dass sich die Dinge selber zeigen und den Menschen
eigentlich nichts zu tun bleibe.
Ich stimme dieser Auffassung in
einer milden Variante zu – aber nicht so weit, dass die Dinge sich offenbaren.
Von Offenbarung spricht man, wenn personal gedachte Wesen intentional von sich
Kunde geben und von den Adressaten In†eresse und Glauben erwarten – also in
Offenbarungsreligionen. Nichts dergleichen bei Aristoteles.
In seiner Erkenntnisauffassung
erscheinen die Dinge – häufig lückenhaft und unvollständig. Und die Menschen
müssen sehr wohl etwas tun, um aus den Erscheinungen Erkenntnis zu
gewinnen – sie müssen streben, betrachten, beweisen, sprechen, diskutieren,
lehren, lernen.
In Buch VII und Buch VIII bemüht sich
Aristoteles hartnäckig, zu klären, was er unter „Wesen“ versteht. Ich bilde
jetzt den Satz „Jedes Ding gehört zu einer Spezies“ und behaupte, dass damit
der aristotelische Wesensbegriff expliziert wird - und zwar in einer Weise, die
sich an Botanik und Zoologie anlehnt. Eine Anlehnung, die den Wesensbegriff zu
trivialisieren scheint. Aber sie verfälscht ihn nicht.
Es gibt viele Spezies, denen die sehr
vielen Dinge angehören können. Zum Beispiel Dinge, die „Antigone“ heißen,
gehören entweder der Spezies „Mensch“ an oder der Spezies „Tragödie“.
Diese Zugehörigkeit hat zur Folge,
dass kein Ding, oder sagen wir, fast kein Ding, einzigartig ist – sondern
jeweils mit anderen Dingen das Wesen gemeinsam hat. „Spezies“ erweist sich als
ein aristotelisches Synonym für „Wesen“. Das Wesen geht über das Einzelding,
das vergängliche hinaus – was so ausgedrückt wird, dass das Wesen bzw. die Form
nicht erzeugt wird, wohl aber das aus Stoff und Form zusammengesetzte Konkrete.
(1043b 17 )
Die ontologische Betrachtung
spaltet/doppelt gewissermaßen das Wesen in zwei Versionen auf (in den Kategorien
sprach Aristoteles von Wesen 1 und Wesen 2). Doch hat diese
Spaltung/Doppelung bei Aristoteles einen anderen Charakter als bei Platon: bei
Aristoteles wohnt das eine Wesen dem anderen inne.
Seit Pythagoras galten die Zahlen als
grundlegende Schicht der Realität. Aristoteles hat diese Ansicht der
Pythagoreer im Abschnitt 5 von Buch I referiert. Im Abschnitt 16 von Buch VII
setzt er seinen Wesensbegriff von der Ebene des Einen ab und in unserem
Abschnitt behauptet er mit größter Deutlichkeit, dass das Wesen nicht Eines
oder Punkt ist, sondern Vollendung und Natur (1044a 9). Entelecheia und physis
– mit diesen Synonymen nähert Aristoteles seinen Wesensbegriff dem
Lebendigen an, für welches ja die Teleologie kennzeichnend ist.
Der aristotelische Wesensbegriff
steht nicht für alles, was irgendwie grundlegend oder wichtig ist. Er hat sein
eigenes Profil und seine eigene Positionierung und bezeichnet den jeweiligen
stabilen Charakter einer Sache, der sich prozesshaft und dynamisch durchsetzt
(soweit seine Kraft reicht). Bernard Sichère hat dafür das französische Wort essor
eingesetzt: Aufschwung.
Könnte man sagen, dass Aristoteles
selber eine Verschiebung „vom Sein zum Leben“ andeutet?
Jedenfalls war er eher „Onto-Zoologe“
als „Onto-Theologe“.
Walter Seitter
Seminarsitzung vom 9. Jänner 2019
Nächste Sitzung am 16. Jänner 2019
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