Im Abschnitt 4 von
Buch VIII hatte Aristoteles sich auch vorgenommen, nach den Ursachen solcher
Dinge zu fragen, die stofflos sind und vielleicht gar keine Wesen. Dabei kam er
auf die Mondfinsternis und erstaunlicherweise auch auf den Schlaf. Dieser
scheint eine Affektion des Lebewesens zu sein, die zu Bewegungslosigkeit
führt. Eine Affektion welcher Teile?
Näher geht Aristoteles
auf dieses Thema in einem kleinen Text „Über Schlafen und Wachen“ ein.
Dort heißt es, dass wahrnehmungsfähige Lebewesen entweder wachen oder schlafen.[1] Der Schlaf
ist eine Lähmung des zentralen Wahrnehmungsvermögens. Wieso kommt es zum
Schlaf? Aristoteles beantwortet die Frage mit Hinweisen auf Wärme- und
Kälteverteilungen im Körper, die durch Nahrungsaufnahme und
-verdauung bewirkt
werden. Letztlich beantwortet er sie mit der Erklärung, der Mensch könne
gewisse Funktionen nicht ununterbrochen ausüben, er ermüdet. Zusätzlich zur
Wirkursache muss daher die Zielursache genannt werden und die besteht in der
Erhaltung des Lebens, also in Wachen mit Wahrnehmen und Denken –
dieses sei für das Lebewesen das Beste, also der Endzweck.
Die Wirkursache des
Schlafes ist das vorherige Wachen (mit seinen Anstrengungen), die Zielursache
ist das Wachen danach. Übrigens ist das Träumen ein bestimmtes Wachen im
Schlaf. Gerhard Weinberger meint, auch das Träumen könnte man
vielleicht als Zielursache fürs Schlafen namhaft machen (vor allem wenn eine
gewisse Quantität und Qualität von Träumen erwartet werden kann).
Sodann erklärt Aristoteles
im Abschnitt 5 wiederum, auf Entitäten eingehen zu wollen, die ohne Stoff,
ohne Entstehen, Vergehen, Veränderung sind. Doch wendet er sich statt dessen
einer „Aporie“ zu (dieser Begriff war der Leitfaden im Buch III gewesen -
vierzehn sehr formale Aporien waren dort seriell abgehandelt worden), nämlich
der Frage, wie sich bei Veränderungen von materiellen Dingen der Stoff zu den
Gegenteilen verhält, zwischen denen die Veränderung stattfindet. Ein
Menschenkörper kann gesund sein oder krank – heißt das, dass er die
Möglichkeiten der Gesundheit und der Krankheit sozusagen symmetrisch in sich
trägt? Und das Wasser in Hinsicht auf Wein und Essig? Oder verdankt sich die
eine Qualität einer wesenhaften Form und die andere einer Beraubung und
widernatürlichen Verderbnis?
Der Wein ist nicht der
Möglichkeit nach Essig, der Lebende ist nicht der Möglichkeit nach ein Toter.
Aristoteles sieht da eine Asymmetrie zwischen der positiven Qualität, die dem
Wesen entspricht, und der Verderbnis, die durch Zufall oder Unfall
herbeigeführt wird.
Die Symmetrie zwischen
den beiden gegenteiligen Möglichkeiten sieht Aristoteles auf der Ebene der
Stofflichkeit. Von der aus kann es sogar einen Umschlag von der niedrigeren zur
höheren Qualität geben – auch wenn uns das zunächst unmöglich erscheinen mag.
Kann aus einem Toten ein
Lebender werden? So einfach und direkt sagt das Aristoteles
nicht; er hat ja keine Offenbarungsreligion gegründet
(das christliche Dogma von der „Auferstehung“ behauptet so etwas,
obwohl die Evangelien in ihrem Erzählen es nicht präzis nahelegen).
Vielmehr greift
Aristoteles auf seine Lehre von der Stoff-Form-Unterscheidung und
–Zusammensetzung zurück und sagt, dass aus (!) einem Toten dann ein Lebewesen
werden kann, wenn der Tote zunächst zum Stoff zurückkehrt, das heißt in
irgendwelche Stofflichkeiten zerfällt, aus denen dann auf mannigfachen Umwegen
wiederum Pflanzen, Tiere, Menschen wachsen oder sich nähren können.
Etwas einfacher und
einsichtiger lässt sich so ein paradoxer Prozess für die
Essig-Wasser-Wein-Verwandlung rekonstruieren. Der Essig kann sich – über
Verdunstung – auch in Regenwasser verwandeln und als solches irgendwie und
irgendwo einen Weingarten befeuchten, sodass aus Weintrauben wieder Wein werden
kann. So eine umwegige Geschichte – aus natur- und kulturgeschichtlichen
Episoden – interpoliere ich in die elliptischen und fast abstrus
klingenden Sätze des Aristoteles, damit seine Aporien denn doch rational
nachvollziehbar werden.
Stimmt es nun, dass
Aristoteles unsichtbaren und ewigen Substanzen nachjagt?
Hier macht er wohl etwas
anderes: er stellt einigermaßen bekannte Entstehungen (von Lebewesen,
von Wein) unter Bedingungen, die sie unmöglich zu machen scheinen, und fragt,
ob sie dennoch möglich sind.
Walter Seitter
Seminarsitzung vom 23.
Jänner 2019
Nächste Sitzung am 30.
Jänner 2019
[1] Aristoteles: Über
Schlafen und Wachen, in: Kleine naturwissenschaftliche Schriften (Stuttgart
1997): 103ff.
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