τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 27. Januar 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH VIII (H), 1044b 20 – 1045a 7)

Im Abschnitt 4 von Buch VIII hatte Aristoteles sich auch vorgenommen, nach den Ursachen solcher Dinge zu fragen, die stofflos sind und vielleicht gar keine Wesen. Dabei kam er auf die Mondfinsternis und erstaunlicherweise auch auf den Schlaf. Dieser scheint eine Affektion des Lebewesens zu sein, die zu Bewegungslosigkeit führt. Eine Affektion welcher Teile?

Näher geht Aristoteles auf dieses Thema in einem kleinen Text „Über Schlafen und Wachen“ ein. Dort heißt es, dass wahrnehmungsfähige Lebewesen entweder wachen oder schlafen.[1] Der Schlaf ist eine Lähmung des zentralen Wahrnehmungsvermögens. Wieso kommt es zum Schlaf? Aristoteles beantwortet die Frage mit Hinweisen auf Wärme- und Kälteverteilungen im Körper, die durch Nahrungsaufnahme und 
-verdauung bewirkt werden. Letztlich beantwortet er sie mit der Erklärung, der Mensch könne gewisse Funktionen nicht ununterbrochen ausüben, er ermüdet. Zusätzlich zur Wirkursache muss daher die Zielursache genannt werden und die besteht in der Erhaltung des Lebens, also in Wachen mit Wahrnehmen und Denken – dieses sei für das Lebewesen das Beste, also der Endzweck.

Die Wirkursache des Schlafes ist das vorherige Wachen (mit seinen Anstrengungen), die Zielursache ist das Wachen danach. Übrigens ist das Träumen ein bestimmtes Wachen im Schlaf. Gerhard Weinberger meint, auch das Träumen könnte man vielleicht als Zielursache fürs Schlafen namhaft machen (vor allem wenn eine gewisse Quantität und Qualität von Träumen erwartet werden kann).

Sodann erklärt Aristoteles im Abschnitt 5 wiederum, auf Entitäten eingehen zu wollen, die ohne Stoff, ohne Entstehen, Vergehen, Veränderung sind. Doch wendet er sich statt dessen einer „Aporie“ zu (dieser Begriff war der Leitfaden im Buch III gewesen - vierzehn sehr formale Aporien waren dort seriell abgehandelt worden), nämlich der Frage, wie sich bei Veränderungen von materiellen Dingen der Stoff zu den Gegenteilen verhält, zwischen denen die Veränderung stattfindet. Ein Menschenkörper kann gesund sein oder krank – heißt das, dass er die Möglichkeiten der Gesundheit und der Krankheit sozusagen symmetrisch in sich trägt? Und das Wasser in Hinsicht auf Wein und Essig? Oder verdankt sich die eine Qualität einer wesenhaften Form und die andere einer Beraubung und widernatürlichen Verderbnis?

Der Wein ist nicht der Möglichkeit nach Essig, der Lebende ist nicht der Möglichkeit nach ein Toter. Aristoteles sieht da eine Asymmetrie zwischen der positiven Qualität, die dem Wesen entspricht, und der Verderbnis, die durch Zufall oder Unfall herbeigeführt wird.

Die Symmetrie zwischen den beiden gegenteiligen Möglichkeiten sieht Aristoteles auf der Ebene der Stofflichkeit. Von der aus kann es sogar einen Umschlag von der niedrigeren zur höheren Qualität geben – auch wenn uns das zunächst unmöglich erscheinen mag.

Kann aus einem Toten ein Lebender werden? So einfach und direkt sagt das  Aristoteles nicht; er hat ja keine Offenbarungsreligion gegründet (das christliche Dogma von der „Auferstehung“ behauptet so etwas, obwohl die Evangelien in ihrem Erzählen es nicht präzis nahelegen).

Vielmehr greift Aristoteles auf seine Lehre von der Stoff-Form-Unterscheidung und –Zusammensetzung zurück und sagt, dass aus (!) einem Toten dann ein Lebewesen werden kann, wenn der Tote zunächst zum Stoff zurückkehrt, das heißt in irgendwelche Stofflichkeiten zerfällt, aus denen dann auf mannigfachen Umwegen wiederum Pflanzen, Tiere, Menschen wachsen oder sich nähren können.

Etwas einfacher und einsichtiger lässt sich so ein paradoxer Prozess für die Essig-Wasser-Wein-Verwandlung rekonstruieren. Der Essig kann sich – über Verdunstung – auch in Regenwasser verwandeln und als solches irgendwie und irgendwo einen Weingarten befeuchten, sodass aus Weintrauben wieder Wein werden kann. So eine umwegige Geschichte – aus natur- und kulturgeschichtlichen Episoden – interpoliere ich in die elliptischen und fast abstrus klingenden Sätze des Aristoteles, damit seine Aporien denn doch rational nachvollziehbar werden.

Stimmt es nun, dass Aristoteles unsichtbaren und ewigen Substanzen nachjagt?

Hier macht er wohl etwas anderes: er stellt einigermaßen bekannte Entstehungen (von Lebewesen, von Wein) unter Bedingungen, die sie unmöglich zu machen scheinen, und fragt, ob sie dennoch möglich sind.

Walter Seitter

Seminarsitzung vom 23. Jänner 2019
Nächste Sitzung am 30. Jänner 2019

[1] Aristoteles: Über Schlafen und Wachen, in: Kleine naturwissenschaftliche Schriften (Stuttgart 1997): 103ff.
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