τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 10. Februar 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH VIII (H), 1045b 8 - 26)

In dem schon zuletzt genannten Buch von Ralph Rhenius geht es um die Frage, ob Aristoteles seine frühe Substanzenlehre (in den Kategorien) in der Metaphysik nur umformuliert oder ob er sie neu konzipiert. In der frühen Fassung unterschied Aristoteles die Primärsubstanz und die Sekundärsubstanz: die erste war das Individuum und die war das Ganze; die zweite, die Form, war ein Teil des Ganzen – aber eben der wesentliche Teil und der hieß auch „Substanz“ und zwar sekundäre.[1] In der späteren Fassung ist die Substanz aus Stoff und Form zusammengesetzt. Zuerst eine eher logische, dann eine eher physikalische Konzeption.

Die hat später den Namen „Hylomorphismus“ bekommen – und sie hatte sich zu bewähren, wenn Entstehung, Veränderung, Vergehen, Bestehen verständlich werden sollten. Dabei handelt es sich nämlich immer um körperliche Substanzen.

Die Verwandlungen zwischen Wasser, Wein, Essig – und Wasser werden von Rhenius so kommentiert: „Wein ist die Spitze der Entstehungspyramide und der auf Wasser aufbauenden Hierarchie. Essig, als Abbauprodukt des Weines, reicht in seiner Komplexität nicht an Wein heran, Wein ist des Wassers positives Ziel bzw. telos. Essig des Wassers negatives Ziel ...“.[2]

Zu diesen teleologischen Aussagen bemerke ich, dass sie insofern zu differenzieren sind, als der Wein ein Artefakt ist und sein Teloscharakter eine Sache der menschlichen Weinkultur. Der Essig entsteht tatsächlich aus der Zerstörung der „Natur“ des Weines; für seine Herstellung sorgt indessen ein eigener Zweig der Nahrungsmittelindustrie – mit eigenem Essig-telos. (Damit ist wieder die Ebene der Institutionen berührt, die wir in der Diskussion im Hinblick auf Wissenschaft, Literatur geführt haben)

Im Text fährt Aristoteles so fort, dass er die „Teilhabe“ als Lösungsvorschlag für das ontologische Verständnis der Dinge herbeizitiert; er meint damit den platonischen Vorschlag und hält ihn für wenig tauglich, weil unklar. Stattdessen erwähnt er den ungefähr zeitgenössischen Philosophen Lykophron mit der Definition, die Wissenschaft sei ein „Zusammensein von Wissen und Seele“. Auch Aristoteles hat die Wissenschaft öfter definiert – aber als Wissen von bestimmter Art und von bestimmten Gegenständen. Trotzdem hat er gegen die zitierte Definition nichts einzuwenden, vielmehr nennt er weitere Definitionen, die demselben Schema folgen: leben oder gesund sein als Verbindungen, deren Träger die Menschensubstanz, also Seele bzw. Körper ist. Oder: dreieckiges Erz sein oder weiß sein – ebenfalls als Zusammensetzungen. Hier werden immer rein verbale Bestimmungen, Vollzüge definiert (daher „leben“ klein geschrieben) und darin könnte man ein Kippen in eine andere Ontologie sehen. Aristoteles nennt indessen selber eine Erklärung ja eine Begründung für diese Redeweise. Es ist der enge Zusammenhang zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, die wie Stoff und Form komplementär aufeinander bezogen sind, und diese Bezogenheit hat eben einen „verbalen“, d. h. prozessualen Charakter. Was in den modernen Wörtern „Dynamik“ und „Energie“ noch nachklingt.

Am Schluss ein winziger Ausblick auf das Gegenteil von all dem, auf das, was einfach eines ist: nur eines, rein eines, „einstes“.

Aber das interessiert hier Aristoteles gar nicht. Er deutet nicht einmal an, was damit gemeint sein könnte. Er zieht es auch nicht heran als dasjenige, an dem die weniger einen Dinge teilhaben müssen, um überhaupt sein zu können (das würde dem platonischen Vorschlag entsprechen).

Am Anfang des gelesenen Absatzes ist Aristoteles von dem ungenannten aber sehr bekannten Platon übergegangen auf den eher obskuren Lykophron (der sich durch übertriebene demokratische Neigungen bei Platon und vielleicht auch bei ihm unbeliebt und bei einem gewissen Popper beliebt gemacht hat). Dieser Lykophron ist ihm irgendwie dazwischengekommen und von dem übernimmt er die synousia, die auch die Vereinigung der Geschlechter meint und die „Substanz“ in Richtung „Kon-Sis†enz“ verschiebt und vielleicht einen ontologischen Primat der Relation andeutet. Die hiesigen Dinge haben ihre Konsistenz, die eine schwächere ist als die des Nur-Einen, eine weniger feste Koppelung, eine vielleicht „borromäische“, wie Lacan sagen würde. Eine spannungsgeladene Konsistenz mit einer gewissen Inkonsistenz.

Mitten in den sogenannten Substanz-Büchern zeigt sich hier, dass die Suchbewegung, die in Buch I als solche deklariert worden war, immer noch eine solche ist: eine Kompromißbildung aus Programmatik und Akzidenzialismus. Die Metaphysik hat bisherigem Augenschein zufolge nicht die Einheit einer Definition eines Begriffs – sie ist nicht eine übermäßig eine Rede. Wir haben die Metaphysik nach dem Augenschein zu beurteilen – nicht nach vorgefassten Meinungen von „antiker Philosophie“.

Wolfgang Kochs Frage, was von der Aussage zu halten sei, die „Formen“ seien unentstanden und unvergänglich, dürfte so zu beantworten sein, dass es sich dabei um eine platonische Dimension im aristotelischen Denken handelt. Und die kappt Aristoteles stellenweise selber: etwa wenn er die „Natur“ der Tragödie entwicklungsgeschichtlich historisiert. Man könnte auch sagen: das aristotelische Denken ist „zusammengesetzt“ aus platonischen und nicht-platonischen Elementen. Eigentlich keine sehr neue Erkenntnis.

Walter Seitter

Seminarsitzung vom 6. Februar 2019
Nächste Sitzung am 13. Februar 2019




[1] Siehe Walter Seitter: op. cit.: 214ff.
[2] Ralph Rhenius: Die Einheit der Substanzen (Berlin 2005): 86, 128ff. 


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