Aristoteles’ hartnäckige
Kritik an der sogenannten „Ideenlehre“ Platons wirft die Frage auf, ob es das,
was bei Platon „Idee“ heißt, bei Aristoteles gar nicht gibt oder, wenn doch,
dann mit welchen Unterschieden. Die in den sokratisch-platonischen Dialogen
herausgearbeitete Soseins- oder Artbestimmtheit wird sehr wohl auch von
Aristoteles übernommen und nimmt in den logischen wie in den
realwissenschaftlichen (hauptsächlich physikalischen) Schriften eine wichtige
Stellung ein: eher vielleicht wichtige Stellungen. Denn sie wird mit
zahlreichen unterschiedlichen Begriffsformulierungen ausgedrückt, denen
immerhin erkennbare sachliche Nuancen zugrundeliegen. Trotzdem sei hier von
diesen einmal abgesehen und statt dessen die Vielzahl der Termini genannt:
idea, eidos, morphe, logos, ousia, ti en einai, ti estin, entelecheia. In den
logischen Schriften steht die Differenz von Substanz und Akzidenzien im
Vordergrund und da wird das eidos hauptsächlich der Substanz zugeordnet. In den
anderen Schriften überwiegt die Ursachenbestimmung und –unterscheidung und da
wird das eidos als zweite, als Formursache, geführt; es kann aber auch zweite,
dritte und vierte Ursache gleichzeitig sein. Das Wort „Ursache“ hat allerdings
den Nachteil, daß es den immanenten Charakter der Formursache verdeckt, und der
macht nun einmal den Hauptunterschied dieser aristotelischen „Ursache“
gegenüber den platonischen Ideen aus, die transzendent positioniert sind
(Aristoteles sagt nüchterner: sie existieren „getrennt“).
Gegenüber der platonischen
„Ideenlehre“ könnte man bei Aristoteles von „Ursachenlehre“ sprechen. Und die
ersten Abschnitte in der Metaphysik haben denn auch diese
Untersuchungsrichtung betont. Hingegen hat der zuletzt gelesene Abschnitt über
die „mathematischen Wissenschaften“, aber auch viele andere Stellen wie
diejenige über die „Wertfreiheit“ der Mathematik, eine ganz andere Dimension
auftauchen lassen, die auch direkt mit dem Selbstverständnis des Textes als Suche
nach einer bestimmten, nämlich „gesuchten Wissenschaft“ zusammenhängt: die
Dimension einer „Wissenschaftslehre“, mit der übrigens auch der sogenannte
„Meta“-Charakter des Textes zusammenpasst. Ein Textverständnis, das durchaus
Wirkung gezeigt hat, auch wenn es sich von der Hauptwirkung namens „Metaphysik“
deutlich absetzt. So hat zum Beispiel Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) seine
zentralen Schriften allesamt Wissenschaftslehre genannt – und zwar ohne
jede Bezugnahme auf Aristoteles oder gar die Metaphysik. Er sah sich als
Fortsetzer von Kant, dessen Kritik der reinen Vernunft einerseits als
Wissenschaftslehre auftritt, andererseits aber auch der Metaphysik – endlich –
eine ordentliche Begründung liefern wollte.
Jetzt zu einem Autor des
20. Jahrhunderts, der kaum zu den professionellen Philosophen zu zählen ist,
sich aber unordentlicherweise doch in die Philosophie eingemischt hat. Zunächst
mit dem Motiv, der von Sigmund Freud begründeten – man kann auch sagen:
erfundenen – Psychoanalyse zu stärkerer Wissenschaftlichkeit zu verhelfen.
In seiner Rede von Rom 1953
hat er hierzu ein „epistemologisches Dreieck“ vorgeschlagen, bestehend aus
Geschichte, Mathematik und Linguistik, um die Psychoanalyse darin zu
integrieren und auf den Stand der Wissenschaften zu bringen.[1] Was die
Linguistik betrifft, so hat er über Claude Lévi-Strauss die eher esoterischen
Untersuchungen von Ferdinand de Saussure sowie von Roman Jakobson aufgegriffen.
Er zitiert aber auch Freud, der sich für eine ideale psychoanalytische Hochschule
die um 1900 schon gut eingebürgerten geisteswissenschaftlichen Disziplinen
„Kulturgeschichte, Mythologie, Religionspsychologie und Literaturwissenschaft“
gewünscht hat. Und nachdem er einige Minuten zuvor eine platonische „Rückkehr
zum Begriff der wahrhaftigen Wissenschaft“ statuiert hatte, ergänzt er die
Freudsche Liste mit einer erklärtermaßen aristotelischen und postuliert
folgende Gebiete: Rhetorik, Dialektik, Topik, Grammatik, Poetik.[2] Er
resümiert diese, wie er selber sagt, etwas altmodische Postulierung, indem er
sich ausdrücklich zur mittelalterlichen Tradition der „artes liberales“
bekennt.[3]
Es ist sehr ungewiß, ob
sich die echten Lacanianer, die Psychoanalytiker sind, um diese Empfehlungen
kümmern. Wohl aber wissen wir, daß wir vier Jahre lang die Poetik
gelesen haben.
Doch damit nicht genug. Am
15. Dezember 1971 empfiehlt Lacan in seinem Seminar die Lektüre der Metaphysik
des Aristoteles und er würzt seine Empfehlung mit dem Versprechen, die
Leser würden das Buch – ebenso wie er – „kuhblöd“ finden; die Blödheit des
Textes sei geradezu frappant.[4]
Und zwar unter einer
Bedingung, die selber geradezu tautologisch klingt: man müsse bei der Lektüre
der Metaphysik von ihrem Wesen, vom Signifikat, von allen Erklärungen
darüber absehen, von allem, was die Metaphysik für das Abendland
zustandegebracht hat. Denn alles sei daraus, aus der Metaphysik entstanden, die
man ihrerseits aus der Metaphysik – dem Buch – herausgelesen habe.
Neuerlich spreche man sogar vom Ende der Metaphysik. Das alles sei nur möglich,
aufgrund dieses „Büchels”.
Es sei ja nur ein Büchel
(scil. W. S.: meine gelbe Reclam-Ausgabe mißt knapp 15 x 10 x 2 cm) und das sei
etwas ganz anderes als die Metaphysik. Man hat ihm einen Sinn gegeben – und den
nennt man „Metaphysik“ (nicht kursiv geschrieben). Man müsse jedoch den Sinn
und das Büchel unterscheiden. Mehr noch: man müsse das Büchel unter dem ganzen
Sinn überhaupt wieder auffinden und hervorholen – und das sei gar nicht leicht.
Wenn das gelinge, würde man das sehen, was die Vertreter der
historisch-kritisch-exegetischen Methode im 19. Jahrhundert auch schon gesehen
hätten, indem sie sich vom Sinn in gewisser Weise abgesperrt hätten.
Und zwar wären ihnen
Zweifel über das Buch gekommen, wie auch schon einigen in der Spätantike. Das
sogenannte Buch sei wohl nur eine Aneinanderfügung von Notizen, es sei
vielleicht von einem Schüler zusammengeschrieben worden. Lacan aber behauptet,
ein Buch von Karl Ludwig Michelet (1801–1893) (nicht identisch mit dem
französischen Dichter-Historiker Jules Michelet (1798-1874)) gelesen zu haben,
und ebenso wie dieser nicht an die historisch-kritische Dekonstruktion der Metaphysik
des Aristoteles zu glauben.[5]
Fortsetzung folgt.
[1] Jacques Lacan: Schriften
1 (Frankfurt 1975): 126ff.
[2] Jacques Lacan: op.
cit.: 130.
[3] Jacques Lacan: op.
cit.: 131.
[4] Jacques Lacan: Séminaire
XIX: ... ou pire. 1971-1972 (Paris 2011): 28.
[5] Siehe Jacques Lacan:
op. cit.: 28f.
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