τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Freitag, 9. Dezember 2011

Veranstaltungshinweise: Animismus und Medien

Nächste Woche gibt es zwei Tagungen, die auch für Hermesgruppenleute interessant sein könnten: 

13. und 14. Dezember 2011, 18-21 Uhr

Das Symposium Exchanging Perspectives versammelt sechs Vortragende, deren Beiträge sich dem Potential des Begriffs des Animismus widmen, neue Perspektiven für die Analyse der Gegenwart und Möglichkeiten der Geschichtsschreibung zu eröffnen. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln geht es dabei um eine Positionsbestimmung: Wenn der Animismus – als Gegenbild zur dualistischen Rationalität – entscheidende Frontlinien der Moderne markierte, wie haben sich diese im Verlauf des 20. Jahrhunderts verschoben, wo werden sie heute produktiv?

(2) Touché! Die magische und technische Evidenz der Medien

15. und 16. Dezember 2011

Wenn Medienforschung hingegen auf ältere europäische und auf außereuropäische Medienformationen und Medienerfindungen zugreifen, stößt sie auf Verfahren und Praktiken religiöser Evidenz, sei es der von Bildern, von Buchreligionen oder in religiös-magisch verstandenen mündlichen Kulturen. Das Resultat sind teils explizite, teils implizite Modernisierungstheorien und Säkularisierungsgeschichten, sobald es um Medien geht: vom Kultbild zum Kunstbild zum massenhaft reproduzierten profanen Bild; der Buchdruck als religiöse und dann säkulare Macht; von einer rituellen Gesellschaft zu einer kommunikativen; oder insgesamt: von einer magischreligiösen zu einer technisch-wissenschaftlichen Evidenz der Medien. Auf dieser Tagung sollen diese Säkularisierungsformeln überprüft werden, und zwar durch eine historische und epistemologische Diskussion der verschiedenen hier angesprochenen Größen: Magie, Technik und Religion der Medien; die religiöse und die technische Evidenz der Medien; die Geschichte des Medienbegriffs in der Longue durée, im 20. Jahrhundert und darüber hinaus.

IG

Donnerstag, 8. Dezember 2011

In der Metaphysik lesen (...)


In der letzten Stunden sind wir auf zwei Redensarten gestoßen, die dem Wiener Dialekt entstammen und bei aller gegenläufigen Bedeutung doch auf eines hinauslaufen: „ned amoi ignorieren“ und „eh scho wissen“. Dasjenige, worauf sie hinauslaufen, entspricht dem, was Lacan die Leidenschaft des Ignorierens nennt, oder dem, daß man etwas für ganz unwichtig hält.

„Wichtig“ (mit der Gegenseite „unwichtig“) ist einer der „wichtigsten“ Begriffe der Umgangssprache, nicht nur weil er häufig verwendet wird, sondern weil er dazu dient, unser Verhalten zu ordnen, und zwar auch auf unterschiedlichen Metaebenen: man kann nicht nur, man muß sogar jedes Vorkommen oder Verhalten für wichtig (oder unwichtig) halten. In den Wissenschaften kommt der Begriff jedoch kaum vor. In den Siebzigerjahren tauchte er in der Popularisierung der Kritischen Theorie auf und zwar als „gesellschaftlich relevant“.

Wie kann man den Begriff definieren? Zunächst, indem man ihn umschreibt. Definition von „umschreiben“ mit Betonung auf der zweiten Silbe: etwas mit anderen Worten sagen. Vorschlag: wichtig ist, was einem auf dem Herzen liegt. Eine sehr gute Umschreibung, die das Emotionale betont und vor allem den dativus ethicus, der bei „wichtig“ immer impliziert wird, wenn auch nicht immer ausgesprochen. Diese oder jene Zutat ist wichtig für die Zubereitung dieses Gerichts: mit der Präposition „für“ wird hier der sachliche Zusammenhang betont, aber die Personenbezogenheit wird vorausgesetzt, denn das Gericht soll irgendeinem Esser schmecken. Was wichtig ist, ist immer jemandem (auch für jemanden) wichtig. Gesellschaftlich relevant heißt: für die Gesellschaft wichtig. Einfachere Umschreibungen setzen ein Wort ein, das sich zumeist bedeutungsmäßig mit dem Gemeinten nur berührt. So: „wertvoll“, „notwendig“. „Wertvoll“ kann man mit „gut“ gleichsetzen – „wichtig“ berührt sich damit, ist aber „neutraler“ – obwohl auch es eine Wertung impliziert. Etwas für wichtig erachten heißt ihm eine „Priorität“ einräumen. Priorität als „apriorische“ Bedingung dafür, daß etwas „vorkommt“ (anstatt hintanzustehen und unterzugehen). Wie „wichtig“ zwischen „gut“ und „notwendig“ liegt, so „gut“ zwischen „wichtig“ und „richtig“.

Das deutsche Wort „Bedeutung“ hat zwei Bedeutungen: erstens die semantische Bedeutung, die eben eingesetzt worden ist, und zweitens die pertinente Bedeutung: Pertinenz, Importanz, Gewichtigkeit, Wichtigkeit, impact; das hat mit Rang, Macht, sogar Ursächlichkeit zu tun. Ursache des Begehrens im Persönlichen und Ursache in weniger persönlichen Zusammenhängen: die Bedeutung der Brieftaube für die österreichisch-ungarische Armee im Ersten Weltkrieg (hier die Armee als Interessent).

Ivo Gurschler weist darauf hin, daß die Wichtigkeit neuerdings doch in die Wissenschaftssprache eingedrungen ist: in die Kommunikationswissenschaften, wo es um Selektion, Annehmen, Verwerfen u. ä. geht, nämlich in der „Agenda-Setting-Theorie“ oder etwa wenn von „Gatekeepern“ die Rede ist.

Da Aristoteles’ „gesuchte Wissenschaft“ eine theoretische sein soll, wie Physik und Mathematik, sich also auf Sachverhalte beziehen soll, die so sind, wie sie sind, nämlich unabhängig von menschlichem Einschätzen, Entscheiden usw., möchte man meinen, daß das „Wichtige“ für sie keine Rolle spielt. Dem ist aber nicht so. Das Wichtige und verwandte Qualitäten werden in unterschiedlichen Positionen erwähnt oder eingeführt. Im ersten Satz (980a 21) wird das Wissen als wichtig eingeführt und zwar für alle Menschen. Damit wird seine Wichtigkeit postuliert – während man die physikalischen und die mathematischen Sachverhalte nicht „postulieren“ muß, die gibt es wohl einfach. Hier geht es ja um eine Wissenschaft, die man erst „sucht“. Obwohl sie theoretischer Natur sein soll, scheint das, was Kant „praktische Vernunft“ nennt, also irgendwie vorausgesetzt zu sein. Etwa gar Primat der praktischen Vernunft?

Auf der anderen Seite hat die Wichtigkeit des Wassers für Thales einen ganz anderen Charakter als die Wichtigkeit des Wassers für einen Durstigen: bei Thales ist es eine Wichtigkeit nur in der Theorie, die eine Ursachentheorie ist: also Ursächlichkeit des Wassers. Anders wiederum die Wichtigkeit des Öls für einen Ölspekulanten wie Thales gegenüber der Wichtigkeit des Öls für die Küche oder für die Heizung (da als technische Ursache für andere Wunscherfüllungen).


Aristoteles benennt die gesuchte Wissenschaft zunächst mit dem altehrwürdigen Wort „Weisheit“; setzt aber dann doch den immerhin schon existierenden Ausdruck „Philosophie“ ein: Liebe zur Weisheit. Diese Theorie erfordert nicht nur irgendwelche praktischen Leistungen (daher pragmateia) sondern praxis-Qualitäten im ethischen (auch im kantischen) Sinn.

Walter Seitter

Donnerstag, 1. Dezember 2011

In der Metaphysik lesen (987b 25 – 988a 7)


Wir kommen auf das Wort pragmateia zurück, das Aristoteles zweimal für „Theorie“ gebraucht hat, und zwar in einem mehr historischen Sinn: die bestimmte Theorie, die ein bestimmter Philosoph geschaffen hat, also sein „Werk“ bzw. seine Ansicht. Pragmateia leitet sich indirekt von dem Wort prattein ab = tun, handeln, ist also mit praxis verwandt – und die gilt ja landläufig eher als das „Gegenteil“ von Theorie. Aufgrund dieses etymologischen Zusammenhanges kann man Aristoteles hier einen „paradoxen“ Sprachgebrauch unterstellen. Der liegt dann vor, wenn man sich die erste Bedeutung des Wortes hält: Geschäft, Arbeit, Anstrengung. Eine zweite Bedeutung hat sich allerdings schon im Altgriechischen ausgebildet: schriftliches Werk. Im Neugriechischen hat sich dann diese Bedeutungslinie durchgesetzt, z. B. „Dissertation“. Das gleichlautende Wort mit anderem Akzent hat allerdings heute nur die ökonomische Bedeutung „Ware“.

Aristoteles führt näher aus, wie Plato zwei ganz unterschiedliche Denkweisen – die pythagoräische, welche elementar-mathematische Prinzipien für alles ansetzt, und die sokratische, welche mittels Diskussion und Definition Qualitäten begrifflich umreißen will – zusammenführt, was nicht ganz ohne Reibung möglich zu sein scheint. Platon verquicke die beiden pythagoräischen Elemente mit der Stoff-Form-Dualität – wobei seine Zuordnung eher verkehrt sei: dem Stoff ordne er das Viele zu, der Form aber das Eine. Tatsächlich verhalte es sich anders. Und das exemplifiziert Aristoteles am Beispiel der Verfertigung von Tischen aus Materie und Form wie am Beispiel der Menschenzeugung durch Mann und Weib. Wir haben den Eindruck, daß Aristoteles in beiden Beispielen den Gegensatz übertreibt. Das heißt er wird seinerseits zum Opfer einer fragwürdigen Pythagoras-Sokrates-Verquickung. In der Sache der menschlichen Geschlechter scheint er denselben Fehler zu machen wie in der Poetik mit den Geschlechtern der Wörter, wo er fälschlicherweise den weiblichen Wörtern ausschließlich rein „weibliche“ Endungen zusprach, nämlich vokalische.

Ivo Gurschler erhebt gegen die aristotelische Vorgehensweise den Einwand oder den Verdacht, Aristoteles suggeriere in seiner Beschreibung und Beurteilung der früheren Philosophen ständig seine eigene Ursachenlehre oder jedenfalls das Thema der Ursächlichkeit, so als wäre diese Perspektive die einzig mögliche oder zutreffende. Dagegen wird eingewandt, Aristoteles mache das nicht unterschwellig sondern ziemlich explizit von Anfang des Buches an. Aber wenn man schon diese Kritik formuliert, sollte man auch sagen können, welche anderen Perspektiven denn noch möglich seien. Eine andere Perspektive ist bei Sokrates wie auch bei den sogenannten Sophisten zu beobachten, da geht es nämlich nicht um Ursachen, sondern darum was ist wichtig. „Wichtig“ im Sinn von „existenziell“ oder „menschlich“ wichtig.

Ist diese Perspektive in unserem Buch auch schon aufgetaucht? Vermutlich ja und zwar in mehrfacher Weise. Wenn wir hier nicht nur lesen wollen sondern auch philosophieren, sollten wir uns fragen, was bedeutet eigentlich das Wort „wichtig“? Zweierlei ist dazu schon gesagt worden: erstens es sei ganz „abstrakt“ – was keine triftige Aussage ist; zweitens es hänge mit Wertung zusammen, was zutrifft. 

Walter Seitter

Donnerstag, 24. November 2011

In der Metaphysik lesen (987a 30 – 987b 27)


„Nach den besprochenen Philosophien entstand dazu, kam dazu ...“ Zum ersten Mal (?) in dieser später „Metaphysik“ genannten Schrift die Präposition meta im Sinne von „nach“, nach den in den Plural gesetzten „Philosophien“. Diese Pluralsetzung ist die typische Geste der Philosophiegeschichte und sie wird von manchem Philosophen als eher unphilosophisch oder antiphilosophisch empfunden, als Relativierung, Vergleichgültigung. Was kam dann dazu? Die Philosophie Platons? Ja, gewiß. Aber jetzt setzt Aristoteles statt „Philosophie“ – wieder – das Wort ein, das uns schon oben ziemlich unphilosophisch vorgekommen ist: pragmateia – was ja eigentlich Aktivität, Unternehmung bedeutet.

Aristoteles behält also seinen eher distanzierten Ton bei, obwohl sein historischer Bericht jetzt eigentlich eine andere „Positionalität“ einnimmt: denn während er von den „vorplatonischen“ Philosphien wohl eher aufgrund von „Hören-Sagen“, vielleicht aufgrund der Lektüre von Texten berichten konnte, kennt er die Lehre Platons aus eigenem und zwar jahrelangem Zuhören bei Platon persönlich, gewiß auch von vielen Diskussionen, die er selber mit ihm geführt hat, also von direktem Hören und Sprechen, vom „Sprechen-Hören“ (oder wie man das nennen soll). Allerdings merkt man dadurch – jedenfalls zunächst – keine Veränderung in seinem Ton, nur daß der Bericht ausführlicher, detaillierter wird. Aristoteles erwähnt die sehr verschiedenen Lehrer Platons und betont, daß er ihnen allen in gewissen Punkten folgte: wie ein Fortsetzer und Zusammenführer unterschiedlicher Traditionen. Seine pragmateia hatte aber auch viele eigene Züge gegenüber der „Philosophie der Italiker“. Den Lehrmeinungen des Heraklit (hier eine sehr andere Bezeichnung für dessen Philosophie) folgte er insofern, als auch er daran festhielt, daß die wahrnehmbaren und ständig fließenden Dinge wissenschaftlich nicht erfaßt werden können, also nicht definiert werden können: dies sei nur für die „Ideen“ möglich, die neben jenen existieren und für die auch der Ausdruck eidos gebraucht wird. Wörtlichste Übersetzungen für idea und eidos: die „Sicht“ und das „Gesicht“ (Aussehen, Gestalt). Mit diesen Wörtern unterstellt Platon, daß die Ideen „eigentlich“ sehr wohl sichtbar sind – allerdings nicht für unsere irdisch-körperlichen Augen. Sichtbar sind sie für ein „Mehrsehen“ oder ein „Fernsehen“, das wir vor der Geburt hatten (ob auch nach dem Tod, sei dahingestellt).

Sozusagen zwischen den Sinnesdingen und den Ideen gibt es noch die mathematika: sie sind ewig (wie die Ideen) aber pluraler als diese: während es als Idee nur „das Gerechte“  oder „den Tisch“ gibt, gibt es das ideale „Dreieck“ in mehreren Versionen (wie wir neulich zufällig bemerkt haben) – nicht aber den Eßtisch, den Schreibtisch, den Operationstisch: diese Untertypen haben selbst für Platon nicht „platonischen“, sondern erfundenen, zufälligen Charakter.

Und dann fügt Aristoteles dieser bekannten platonischen Lehre noch eine weitere Ebene, ein zusätzliches Geschoß hinzu: die Ideen beruhen auf „Elementen“, die sich in die „stofflichen“ und die „wesenhaften“ (= ideenhaften) gliedern: „das Große und das Kleine“ (oder die „Zweiheit“) sowie „das Eine“. Also eine sehr abstrakte zusätzliche Ebene von Prinzipien, die übrigens vor einigen Jahrzehnten als Platons „ungeschriebene“ oder gar „Geheimlehre“ ein gewisses Aufsehen erregte. Wie Aristoteles bemerkt, nähert sich Platon damit der pythagoräischen Lehre an. Auffällig scheint mir, daß auf dieser tieferen (oder höheren) Ursachenebene so etwas wie „Gott“ nicht aufzutauchen scheint, ebensowenig wie auf der Ebene der Ideen. Insofern bei Platon eine „gottlose“ Prinzipienlehre?

PS.: Zur Erinnerung an unsere seinerzeitige Lektüre der aristotelischen Wörterkunde in der Poetik weise ich auf ein Buch hin, das sich einen Teilbereich einer solchen Wörterkunde – und zwar für die deutsche Sprache – vorgenommen hat.

Sein Kernsatz: „Fremdwörter sind Wörter der deutschen Sprache.“ Neben historischen Darlegungen bringt das Buch auch Ausführungen zur Grammatik, zur „Form“ und zum „grammatischen Verhalten“ der Fremdwörter; ein Punkt, den wir für die griechische Sprache mit den Suffixen sis und ma öfter berühren.

Da für die philosophische Erkenntnis die Erkenntnisrichtung „Reflexion“ eine wichtige Rolle spielt, gehört auch die linguistische Reflexion dazu. Und vor allem kann diese eine Schule für eine wichtige philosophische Tugend sein: die Genauigkeit.


Walter Seitter

Montag, 21. November 2011

"Der Meister des Realen"


In Frankreich erscheint seit einigen Jahren das Philosophie Magazine und trägt mit Erfolg zum Öffentlichwerden der Philosophie bei. Nun gibt es auch eine deutsche Ausgabe: Philosophie Magazin.

Das umfangreichste Dossier der ersten Nummer (November 2011) ist Aristoteles gewidmet. Bemerkenswert der Titel, unter dem es im Inhaltsverzeichnis angekündigt wird: "Aristoteles - Der Meister des Realen". Der Titel scheint direkt aus dem Französischen übernommen zu sein - jedenfalls klingt er total lacanianisch. Denn maître ist bei Jacques Lacan das Wort für den hegelschen "Herrn" und daher auch der Inhaber des "Diskurses des Herrn". Und das "Reale" erinnert sehr, obwohl das Wort gar nicht so ungewöhnlich ist, an den Spezialbegriff bei Lacan, der eine Zuspitzung, eine Extremisierung des Wirklichen meint. 

Kann der Titel "Aristoteles - Der Meister des Realen" selber als lacanianisch gelten? Vermutlich ja, obwohl die Formulierung in sich einen "Widerspruch" enthält, denn das "Reale" kann gerade nicht "gemeistert" werden. Doch Lacan unterstellt dieses Unmögliche dem Aristoles - weshalb er sich von ihm distanziert, so im Seminar XX; in einer anderen Hinsicht auch im Seminar VII. Und dennoch läßt Lacan den Aristoteles als Meister, als Lehrer auch für sich gelten, setzt er ihn quasi ununterbrochen als Begleiter, als Stichwortgeber für seine eigene Lehre ein. Ganz bestimmt würde er ein Ignorieren des Aristoteles nicht als Fortschritt zu einem höheren Standpunkt betrachten wollen.

WS

Donnerstag, 17. November 2011

In der Metaphysik lesen (986a 29 – 987a 29)


Wir fragen uns noch, wie wir uns die pythagoräische Vorstellung von dem Einen denken können, das selber keine Zahl sein soll, wohl aber die „Ursache“ der Zahl(en). Sofern die Zahlen mit dem Zählen auftauchen, beginnen sie erst mit der Zwei: das Eine liegt „davor“ – wird nicht gezählt sondern schlicht gesetzt oder gesehen.
Und das Eine, das sowohl gerade (teilbar) wie auch ungerade (unteilbar) sein soll? In Weimar gibt es heute noch den Ginkgo-Baum, den Goethe gepflanzt haben soll, weil ihm das Ginkgo-Blatt mit seinem tiefen Einschnitt in der Mitte als Urbild der Einheit von Einheit und Zweiheit galt: 

Goethes Ginkgo-Blatt

Den Chinesen gilt die geteilte Blattform als Symbol für ihre Yin- und Yang-Naturphilosophie. Der Ginkgo-Baum ist die älteste noch lebende Pflanzenart. Seine Usprünge reichen 280 Millionen Jahre zurück; in Europa gab es ihn bereits vor der Eiszeit. Danach brachten ihn um 1700 holländische Seefahrer aus Japan wieder nach Europa.
Auch in Wien gibt es so einen Baum, und zwar im Burggarten, in der Nähe des Eingangs beim Palmenhaus.
Nach dem Gesagten können wir das Ginkgo-Blatt – neben der Tetraktys – als ein einfacheres pythagoräisches Emblem betrachten: nämlich für den Doppel-Charakter des Einen.
Die Lehre von den Gegensätzen als Ursachen ist auch von anderen frühen Philosophen vertreten worden; die Pythagoräer sind dabei genauer vorgegangen, doch Aristoteles zufolge haben sie nicht klargestellt, welche von den – aristotelischen Ursachenarten – sie dabei im Auge hatten; Aristoteles selber meint: die Stoffursachen.
Aristoteles geht dann zu den Denkern über,  welche die Natur als ein Eines betrachtet haben: Melissos, Xenophanes, Parmenides. Der „extremste“ Denker unter ihnen war Parmenides, für den das Seiende existiert, das Nichtseiende nicht; daneben läßt er aber auch die Ebene der Erscheinungen und der Sinneswahrnehmung gelten und da gebe es nicht nur das Eine sondern das Mehrere und als Ursachen sowohl das Warme und das Kalte: das Warme für das Seiende, das Kalte für das Nichtseiende. Auf diese Weise nimmt auch er eine Polarität an – aber mit verschärfter Asymmetrie (im Vergleich zu den zehn Gegensätzen, erst recht gegenüber Yin-Yang).

Die reinen Pythagoräer fassen ihre Ursachen rein mathematisch und versuchen außerdem, sie nach ihrem „Was“ zu definieren. Aristoteles sagt nicht nur „das Was“, sondern „das was ist“, umschreibt es also mit einer Art Frage-(oder Relativ-)satz, womit er seine eigene Terminologie den Pythagoräern überstülpt.
Figuratives Emblem versus logische Terminologie.

Walter Seitter

Donnerstag, 10. November 2011

In der Metaphysik lesen (986a 12 – 28)


Am 15. Dezember 1971 sagte Lacan in seinem Seminar ein paar Sätze zur Metaphysik des Aristoteles, die ich jetzt zitiere, ohne auf ihren Kontext – bei ihm, in seinem Seminar vom 15. Dezember 1971 – einzugehen.

„... ich möchte Ihnen sagen, lesen Sie die Metaphysik von Aristoteles, ich hoffe, daß Sie ebenso wie ich spüren werden: das ist ziemlich verrückt, beinahe saublöd ... Es geht nicht um die Metaphysik des Aristoteles in ihrem Wesen, in ihrem Signifikat .... Dieses Büchl, denn es ist ja bloß ein Büchl, ist etwas ganz anderes als die Metaphysik. Ich sprach eben von einem Buch, das geschrieben worden ist. Man hat ihm einen Sinn gegeben, den man die Metaphysik nennt, man muß jedoch das Buch vom Sinn unterscheiden. Seitdem man dem Buch diesen Sinn gegeben hat, ist das Buch nicht mehr leicht aufzufinden ...“[1]

Lacan steigert den herabsetzenden Ton noch, indem er in Bezug auf das Buch Blödheit und Echtheit zusammenfallen läßt, womit er aber nicht das Buch lächerlich machen will, sondern im Gegenteil diejenigen, die von „der Metaphysik“, also von so einer Disziplin oder von einer derartigen Realität so reden, als wüßten sie, was das ist.

Nun, diese merkwürdigen Sätze, die vor genau 40 Jahren ausgesprochen worden sind, und nicht etwa von einem Klassischen Philologen oder von einem professionellen Philosophen, sind mir gerade jetzt unter die Augen gefallen, das Seminar XIX ist ja erst in diesem Jahr publiziert worden. Ich zitiere sie, weil ich den Eindruck habe, daß unsere bisherige Lektüre dieses Buches ungefähr auf der Linie liegt, die von Lacans überragender Intelligenz hier angedeutet wird.

Unsere Lektüre ignoriert allerdings keineswegs das, was Lacan das „Signifikat“ nennt: wir stoßen jeweils auf die Signifikate, die in den einzelnen Sätzen, Absätzen, Kapiteln vorgeführt werden: Suche nach einer irgendwie bestimmten Wissenschaft, erkenntnistheoretische Überlegungen, wissenschaftshistorische Ausführungen mitsamt Beurteilung bestimmter „Vorgänger“.

Aristoteles wiederholt die Feststellung, daß für die Pythagoräer die Zahl eine Ursache sei: „sowohl als Stoff für Dinge wie auch als Erleidungen und Verhaltensweisen, die Elemente der Zahl aber sind das Gerade und das Ungerade, wovon dieses das Begrenzte, jenes das Unbegrenzte ist.“

Wir können uns diese Zuordnung veranschaulichen, indem wir drei Steine nebeneinander legen und sie in zwei Hälften teilen wollen: es geht nicht, weil wir in der „Mitte“ auf einen Stein stoßen, der sich widersetzt: da ist eine Grenze, eine Barriere. Aber der Satz davor ist noch nicht geklärt: Zahl als Stoff als Ursache – das paßt einigermaßen ins Schema; aber Zahl als Erleidungen und Verhaltensweisen als Ursache weniger: pathe und hexeis sind ja Akzidenzien; sollten etwa die dann genannten polaren Eigenschaften „gerade“ und „ungerade“, die als „Elemente“ bezeichnet werden, sowie die folgenden Gegensatzpaare damit gemeint sein? Eigenschaften (Plural) als Ursache (Singular)?

Ein weiteres Rätsel – für uns – vielleicht nicht für die Pythagoras-Kenner: das Eine weder gerade noch ungerade sondern Ursache der Zahl – analog zum Himmel als dem Ganzen (der Wirkung). Das Eine wäre somit eine allererste Ursache.

Es folgen dann noch mehrere Gegensatzpaare, insgesamt sind es zehn. Man bemerkt, daß die beiden „Seiten“ Übereinstimmungen mit den beiden altchinesischen Prinzipien Yin und Yang aufweisen, die auch die Polarität zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen enthalten – nicht aber die zwischen schlecht und gut.
Bei den Pythagoräern steht das Weibliche aufseiten der geraden Zahlen, das Männliche aufseiten der ungeraden. Diese Zuordnung können wir nach dem Beispiel der Teilbarkeit bzw. Unteilbarkeit der zwei bzw. der drei Steine verstehen: das weibliche Geschlechtsorgan erscheint als Spaltung, das männliche als eine Ausstülpung in der Mitte.

Übrigens stammt die Benennung des gleichschenkeligen Dreiecks (im Deutschen) offensichtlich von den geöffneten Oberschenkeln.

Walter Seitter

Mittwoch, 2. November 2011

In der Metaphysik lesen (985b 22 – 986a 11)


Die Ursachen-Annahmen oder -Theorien der Pythagoräer werden von Aristoteles relativ klar resümiert: die Pythagoräer behaupten, sie sehen Ähnlichkeiten zwischen den Zahlen und ihren Harmonien einerseits und den empirischen Phänomenen der Welt andererseits: solchen Phänomenen wie Gerechtigkeit, Seele, Augenblick, Himmelskörper – also sehr unterschiedlichen Phänomenen (Aristoteles spricht vom Seienden und Entstehenden). Dieser – man könnte sagen induktive oder empirische - Erkenntnisweg führt von den Wirkungen zu den Ursachen (die allerdings als Sachen schon bekannt sein müssen). Sehen und Vergleichen, Ähnlichkeiten sehen: nach Aristoteles muß auf das Sehen das Resümieren und Korrelieren folgen. Man kann bzw. soll da auch eine materialistische Ebene einziehen: zum Sehen muß das Sagen kommen: das Formulieren, sei es das diskussive oder das notative.

Es geht auch hier darum, was das ist: Wissenschaft machen. Und ich ergänze das, was Aristoteles dazu sagt, ein bißchen materialistisch, aristotelisch gesprochen: physikalisch. Physik der Wissenschaft: welche „Teile“, Bestandteile, gehören dazu, auch welche Tätigkeiten. Wissenschaft ist ein Komplex oder ein Feld von Tätigkeiten – und dann womöglich ein Komplex von Ergebnissen, die ihrerseits in Aussagen bestehen (welche überwiegend sprachlicher Art sind).

Den Tätigkeitscharakter der Wissenschaft bringt Aristoteles zum Ausdruck, indem er von den Pythagoräern sagt: „Und wenn etwas fehlte, fügten sie etwas hinzu, damit ihre ganze Theorie geschlossen sei.“ (986a -7) Das Tätigkeitsmoment „hinzufügen“ impliziert, daß Wissenschaft nicht unbedingt (vielleicht gar nicht) in einem Augenblick, mit einem Schlag gemacht wird: weder als totale Vision noch als einmalige Schöpfung – ein für alle Mal. Sondern eine Tätigkeit, die bestimmte Ziele anpeilt, verbunden mit Reflexion und Kontrolle über das Erreichen oder Nicht-Erreichen der Ziele und dementsprechend mit Fortsetzung oder Modifizierung der Tätigkeit.

Allerdings steht im Griechischen hier gar nicht das Wort „Theorie“ – sondern beinahe das Gegenteil davon: pragmateia. Und das heißt: Beschäftigung, Unternehmung, Arbeit, Studium. Mit pragmateia bringt Aristoteles den Tätigkeitscharakter der Wissenschaft geradezu schlagartig-metaphorisch zur Darstellung: er setzt einfach das Wort „Tätigkeit“ oder „Pragmatik“ für Wissenschaft, Theorie, Forschung. Er ersetzt durch diese Benennung „Wissenschaft“ durch – „Machenschaft“. „Machenschaft“ war das schon ziemlich polemische Prädikat, das Heidegger der Wissenschaft zugesagt hat. Die Pragmatisten und Heidegger – beides haben wir in diesem aristotelischen Satz mit dem Wort pragmateia – das auf die Pythagoräer gemünzt ist.

Und zwar spricht er nun von dem zweiten Erkenntnisweg, der von den Ursachen ausgeht, um über die Wirkungen etwas zu sagen. Man könnte sagen: der deduktive oder „theoretische“ (im engeren Sinn) Erkenntnisweg. Die angenommene Ursache ist die Vollkommenheit und zahlentheoretische Wesentlichkeit der Zahl Zehn. Die Vollkommenheit weist darauf hin, daß die oben schon genannte „Harmonie“ bei den Pythagoräern doch nicht rein deskriptiv so etwas wie „Proportion“ heißt, sondern daß etwas Optativ-Normatives damit verbunden ist. Und die Wesentlichkeit der Zahl Zehn haben die Pythagoräer in der Figur der Tetraktys dargestellt, welche den Anfang der Zahlenreihe als  gleichseitiges Dreieck zeichnet.

Aber das Beispiel der Schlußfolgerung von der Zahl Zehn (Ursache) auf die Zahl der Planeten (Wirkung), das Aristoteles referiert, zeigt, daß die Pythagoräer es mit ihrem Sagen und mit ihrem Machen sozusagen übertreiben: sie „machen“ einen zehnten Himmelskörper. Der Aktionismus der Theorie versteigt sich zu einem Konstruktivismus, den man nun irrig oder mutig nennen kann ...

Interessant, daß Aristoteles bzw. die Pythagoräer den erfundenen zehnten Himmelskörper antichthon nennen: daß sie ihn also nicht in weitester Ferne etwa als Meta-Saturn ansetzen, sondern sehr „geozentrisch“ von der Erde aus benennen. Aber auch nicht als antigaia. Das Element Erde wird mit dem ganz und gar irdischen Wort für Erde benannt: chthon.

Die heutige Wissenschaftliche Physik ist genauso spekulations- und konstruktionsfreudig wie die pythagoräische seinerzeit: sie redet von „Antimaterie“, „Dunkle Materie“, „Dunkle Energie“ ...

Walter Seitter

Freitag, 28. Oktober 2011

PS Lykeion


Am 13. Jänner 2010 berichtete ich von meinem Besuch beim Lykeion in Athen vom 25. September 2009: jenem Gymnasion, in dem Aristoteles seine „Schule“ untergebracht hat, wo also die Vorlesungen stattfanden, aus denen seine heute erhaltenen Texte hervorgegangen sind.


Heute gibt es in der Zeitung TO BHMA wieder einen Artikel über die Ausgrabungsstätte mitsamt obigem Foto, das zeigt, daß die seinerzeitige große Wiese nun abgetragen ist. Das Erdreich liegt zutage und man sieht ziemlich viele Mauerreste. Diese werden von den Archäologen als Sportplatz, Palaistra, Arena, Raum zum Einölen, Bäder, Säulenhalle, Leseraum identifiziert. Welche Ausgrabungen direkt der Aristotelischen Schule zugeordnet werden können, geht aus dem Artikel nicht hervor. Anscheinend war die Sportstätte die übergeordnete, die gastgebende Institution und vielleicht rekrutierte sich der Schülerkreis um Aristoteles auch aus den jungen Leuten, die das Gymnasion bevölkerten. Die Wissenschaft hat an diesem Ort noch nicht die institutionelle Autarkie gehabt – wie um dieselbe Zeit in Alexandria, später in Bagdad, noch später in Bologna, Paris, Oxford ...

Walter Seitter

Donnerstag, 27. Oktober 2011

In der Metaphysik lesen (985b 5 – 986a 5)


Zuletzt zwei wenn schon nicht absichtliche so doch faktische Bezugnahmen auf die Poetik, die darauf hinzeigen, daß die sog. Metaphysik ein „Metabuch“ gegenüber allen „normalen“ Büchern des Aristoteles ist. Die Kritik des Deus ex machina in der Poetik und die Kritik an der Theorie des Anaxagoras mithilfe der Deus ex machina-Metapher richten sich beide gegen den Mangel an Kohärenz, Schlüssigkeit. Aristoteles erwartet Kohärenz sowohl von der Dichtung wie von der Theorie – insofern schiebt er diese beiden Gattungen doch näher zusammen, als er in seinen Erklärungen kundtut. Wenn er den Einbruch des „Religiösen“ sowohl in die Dichtung wie in die Theorie kritisiert, heißt das, daß er das Religiöse grundsätzlich ablehnt? Oder kann man ihm unterstellen, daß er von der Religion eine – derartige – Kohärenz gerade nicht erwartet? Oder daß auch in der Religion eine gewisse Kohärenz am Werk sein könnte – vielleicht eine andere? Sieht man im Tempel eine auf Dauer gestellte Theatermaschine, die einem Gott auf Dauer Aufenthalt zuweist, so könnte man sagen, diese Gottes-Maschine sei sehr wohl kohärent, konsistent, in ihrer Existenz „notwendig-wahrscheinlich“, d. h. kontinuierlich,  permanent, stabil, zuverlässig (dazu muß sie aber baulich und liturgisch „erhalten“ und „betrieben“ werden).

Nun zu zwei anderen Theorie-Vorgängern oder „Vorsokratikern“: Leukipp und Demokrit. Sie nehmen zwei andere Elemente an: einerseits das Volle, andererseits das Leere, die sie als das Seiende und das Nicht-Seiende bezeichnen – wobei letzteres genauso „seiend“ ist wie das erste. Das Volle wird auch das Feste und der Körper genannt. Aus diesen beiden Elementen konstituiert sich die Mannigfaltigkeit der Dinge und Erscheinungen durch dreierlei Differenzierungen, nämlich nach Schema, Anordnung und Position, bzw. durch Rhythmus, Zusammenhalt oder Wendung, wofür die Unterschiede zwischen den Buchstabenbildern A – N, AN – NA, Z – N stehen. Diese „Atomisten“ scheinen sich für die Ebene der Geometrie oder Topologie zu interessieren. Allerdings hält Aristoteles ihnen vor, daß auch sie die Bewegung, wodurch die jeweiligen Zustände zustandekommen, nicht erklären können: sie unterschlagen die Bewegursachen.

Aristoteles geht zu einer anderen Theoretiker-Schule über. Zu den Pythagoräern, die sich erfolgreich mit der Mathematik beschäftigten, wodurch sie allerdings zur Annahme verführt worden sind, daß die Prinzipien der Mathematik die Prinzipien von allem und jedem seien. Damit deutet Aristoteles eine Kritik an, die auf der Ebene der Erkenntnispsychologie liegt: eine Kritik an Betriebsblindheit, in diesem Fall an Zahlenzentrismus oder Zahlenfetischismus. Er deutet diese Kritik in einem Satz an, der auf den ersten Blick total harmlos, geradezu langweilig, eben typisch „aristotelisch“ daherkommt.

Ein Pythagoräer, nämlich Hippasos von Metapont, war bereits in 983a 15ff. indirekt erwähnt worden, als es um Verwunderung und Weiterforschen ging, also auch um Erkenntnispsychologie (die in der Passage über Gezwungenwerden durch Wahrheit oder Sache selbst noch eine andere Wendung erfahren hat (984a 18ff.)). Wir können also sagen, daß Aristoteles Wissenschaftsforschung auf mehreren Ebenen betreibt.

Immerhin unterstellt Aristoteles den Pythagoräern auch ein sachliches Motiv für ihren sagen war Mathematismus, nämlich Ähnlichlichkeiten zwischen dem Seienden und Entstehenden einerseits und den Zahlen und deren Harmonien andererseits. Lassen sich solche Ähnlichkeiten feststellen?

Walter Seitter

Donnerstag, 20. Oktober 2011

In der Metaphysik lesen (985a 10 – 985b 4)


Wir lesen gerade in der aristotelischen Theorie-Genealogie zu seiner eigenen „gesuchten Wissenschaft“. Er resümiert einige seiner Vorgänger, beurteilt ihr Vorgehen, verteilt Noten, die nicht sehr gut ausfallen. Er kommt noch einmal auf Anaxagoras und Empedokles zu sprechen. Anaxagoras habe den nous als Ursache für die „Weltherstellung“ angeführt – aber mehr aus Verlegenheit und ohne hinreichende Erklärung. Dieses Vorgehen benennt Aristoteles metaphorisch mit mechane – womit die Theatermaschine gemeint ist, mit der ein Gott, ein göttliches Eingreifen, herbeigezaubert bzw. maschinell vorgespielt wird: deus ex machina (985a 18). Mit diesem Vergleich wird eine bestimmte Vorgehensweise – hier eine theoretische – charakterisiert und gleichzeitig qualifiziert. Da der Vergleich aus dem Theaterwesen genommen ist, braucht es uns nicht wundern, daß diese Theatertechnik in der Schrift über die Dramendichtung, also in der Poetik, ebenfalls genannt wird: 1454a 3. Und dort wird diese Technik gar nicht gelobt: sie kommt zum Einsatz, wenn der plot der Tragödie die „richtige“ Verknüpfung zwischen den Geschehnissen nicht zustandebringt: wenn sich eine Episode nicht direkt aus der vorhergehenden Episode, die Geschehnisse nicht aus den Geschehnissen ergeben – und zwar verständlich, schlüssig („notwendig oder wahrscheinlich“). In so einem Fall muß das Drama einen außerordentlichen und übermächtigen Eingriff einbauen, der nur mit einer übermächtigen materiellen Technik, etwa einem Kran oder sonst einer special effect-Maschine bewältigt werden kann. Aristoteles kann darin nur eine Notlösung sehen, eigentlich eine dramaturgische Schwäche. In der Theorie ist ein solches Vorgehen, ein damit vergleichbares Vorgehen, noch unqualifizierter: denn da sind die Erfordernisse von Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit, von Einsichtigkeit und Schlüssigkeit, noch strenger.

Der Vergleich mit der Theatermaschine bedeutet für Anaxagoras, für seine Einführung der Weltursache „Geist“ ein vernichtendes Urteil. Sind damit alle Theorien, die so eine Ursache einführen, schon disqualifiziert? Nicht unbedingt: Aristoteles hat oben die Einführung des nous unter bestimmten Voraussetzungen anders beurteilt.

Mit seiner weitgehenden Ablehnung der Theatermaschine distanziert sich Aristoteles einigermaßen vom griechischen Theaterbetrieb, der mit solchen Techniken sowohl der Götterverehrung wie der Schaulust entgegenkommen wollte (im Griechischen sind die Wörter für „Schau“ und „Göttin“ buchstäblich gleich).

Damit rühren wir auch an die Frage, wie Aristoteles sich überhaupt zur Götterverehrung seiner Zivilisation gestellt hat. Deren offizielle Hauptorte waren ja die Tempel – und die kann man in ihrer imposanten Größe und ihrem reichen Bilderschmuck durchaus mit dem Aufwand und der Leistung der Theatermaschine vergleichen. Der Tempel ist eine auf Dauer gestellte Theatermaschine, die den Gott auf Dauer aufstellt: ein stabiles und mächtiges Dauertheater, nachhaltige Gottesbühne. Mit seiner Höhe von fünfzehn oder zwanzig Meter übertrifft er wohl die Höhe der Gotteserscheinung auf dem Theater. Wenn da ein Gott fünf oder zehn Meter hoch erscheinen soll, wird der Kran etwas höher sein müssen: wie das Dach höher ist als die Säulen oder der Fries über den Säulen. Ein Tempel ist ein außerordentlich aufwendiges Gestell, das notwendig erscheint, damit ein Gott einigermaßen angemessen, nämlich außerordentlich erscheinen, existieren kann.

So wird ein Gott „künstlich“ und „gewaltsam“ in die Welt eingeführt. Heißt das, daß so etwas wie Religion nur derart, mit diesen Mitteln möglich ist? Selbst wenn das der Fall wäre, wäre ein so eingeführter, zur Existenz gebrachter Gott, als „theoretische“ Größe, als „Ursache“ in einem kognitiven Zusammenhang keineswegs akzeptabel – eher wäre das Gegenteil der Fall.

Dann geht Aristoteles auf Empedokles ein und kommt da noch einmal auf Streit und Liebe als Ursachen zurück: diesmal als Ursachen für physische Bewegungsrichtungen nämlich Verbindung und Trennung (985a 25ff.) – was uns vorkommt wie anthropomorphe Ursachen für Wirkungen, die anderer Art sein können. Derartige Wirkungen kennen wir in der Physik als Gravitation (Anziehung) und Expansion (des Universums) – allerdings scheinen diese beiden Phänomene unterschiedlichen Formaten anzugehören. Des weiteren geht er noch einmal auf die Elementenlehre des Empedokles ein, die auf eine Vermehrung der Ursachen hinausläuft; allerdings habe er die vier Elemente doch als eine Zweiteilung aufgefaßt: einerseits Feuer, andererseits Erde, Luft und Wasser zusammen. Dies ergebe sich bei genauer Betrachtung seines Textes (985b 3). Schwarz übersetzt mit „Verse“; im griechischen steht da epe – d. h. Wörter, Verse, epischer Hexameter. Damit formuliert Aristoteles das Grundprinzip der Hermeneutik: genau hinschaun.

Außerdem verweist die Stelle auf Poetik 1447b 15ff., wo Aristoteles die übliche Vorstellung abwehrt, wer Verse macht, sei deswegen auch schon Dichter. Er nennt da Homer und Empedokles, die beide Hexameter geschrieben haben: doch nur der eine sei als Dichter zu bezeichnen, denn er habe Handlungen dargestellt, der andere hingegen sei ein „Physiologe“, also Naturkundler oder Naturforscher. Wer etwas Medizinisches oder etwas Physisches in Versen abhandle, sei Mediziner oder Physiker, keineswegs Dichter. Damit wird übrigens Empedokles – wohl entsprechend seinem Selbstverständnis – in die Disziplin der Physiologie oder Physik eingerückt. In unserem Buch hingegen wird er als Vorläufer einer anderen, der „gesuchten“ Wissenschaft, behandelt – die dann später, aber nicht von Aristoteles, „Metaphysik“ genannt worden ist. Wir müssen also zur Kenntnis nehmen, daß der Status der gesuchten Wissenschaft noch äußerst unsicher ist: sogar ihre Abgrenzung gegenüber der sehr traditionellen Naturkunde ist ungewiß.

Eine ganz andere aber eng zusammenhängende Frage ist damit auch berührt: die Textsorten in der Philosophie, worüber Otfried Höffe in der FAZ vom 1. Oktober 2011 geschrieben hat: Lehrgedicht (Empedokles), Dialog (Platon), Abhandlung (Aristoteles), Essay (Montaigne), Aphorimus (Pascal) ...

Walter Seitter

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Friedrich Kittler (1943-2011)


Gestern ist Friedrich Kittler gestorben, dessen theoretisches Arbeiten sich von der Germanistik in die  Medientheorie gedreht hat, die er zu einer hintergründig politischen Kulturwissenschaft ausgebaut hat, mit der er – nach Michel Foucault und anderen – eine ganze Archäologie des Abendlandes in Angriff genommen hat, von der nur die Bände zur griechischen Antike erschienen sind; doch die weiteren Folgen hat er mit seinen materialreichen Analysen zum 19. und 20. Jahrhundert nach Christus schon durchblicken lassen: Analysen zu seiner unmittelbaren Herkunft – denn er stammt direkt aus dem Zweiten Weltkrieg.

WS

Dienstag, 18. Oktober 2011

Zu Gott und Geld (Interview, FAZ, 11. 10. 2011,)

Letzten Mittwoch haben wir Metaphysik versuchsweise als Wichtigkeits-wissenschaft definiert und über mögliche Statthalter für das Wichtigste gesprochen. Mit dabei waren natürliche die beiden klassischen Kanditaten "Gott" und "Geld". Die Verhandlung von Relevanz ist auch Sache der Kulturwissenschaften: in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gab es ein Interview mit Joseph Vogl, worin der Zusammenhang zwischen Ökonomie und Theologie ein bisschen elaboriert worden ist, hier der Link zum Beitrag:
Vogl im Gespräch. Bemerkenswert, dass der Interviewer eingangs behauptet, Metaphysik habe etwas mit "spirituellen, göttlichen Maximen" zu tun 
(und der Interviewte das scheinbar auch so sieht).

IG

Donnerstag, 13. Oktober 2011

In der Metaphysik lesen (984b 25 - 985a 10)


Wir versuchen, über den Abstand des Sommers hinweg, zusammenzufassen, was wir im ersten Halbjahr 2011 in der Metaphysik gelesen haben. Es waren ja nur rund ein Dutzend Seiten, aber gewisse Eigentümlichkeiten dieses Buches konnten wir schon feststellen – vor allem im Vergleich zur vorher gelesenen Poetik. Dort heißt es gleich im ersten Satz, daß von der Dichtkunst gehandelt werden soll, womit ein Gegenstand genannt ist und außerdem bereits ein Titel für das Buch selbst formuliert ist. Die sogenannte Metaphysik hingegen beginnt mit einer weittragenden Behauptung über das Wissenwollen der Menschen und fährt dann fort mit der Unterscheidung zwischen verschiedenen menschlichen Erkenntnisformen, kommt dann zum Begriff der Wissenschaft, wobei Wissenschaft mit Ursachenforschung gleichgesetzt wird.

Aber welche Wissenschaft nun hier gemacht werden soll, das wird noch immer nicht klar, jedenfalls nicht über eine Angabe des Gegenstandes der „gesuchten Wissenschaft“. Deren Bestimmung wird eigentlich durch eine „typisch griechische“ Attitüde vorangetrieben: die Ehrsucht, das Streben nach Bestheit, die Suche nach dem Superlativischen. Dieses sei, so Ivo Gurschler, nach Gregory Bateson ein Kennzeichen der abendländischen Zivilisation. Ein berühmter Text, in dem es zum Ausdruck kommt, ist das Höhlengleichnis von Platon, wo einer die gewohnte Lebenswelt durchbricht, einen bisher unbekannten höchsten Gegenstand aufsucht, nämlich die Sonne ... Noch entschiedener, nämlich apriorischer wird der höchste Gegenstand in der monotheistischen Religion vorausgesetzt, angenommen, verkündet. Die jüdisch-biblische und die griechisch-philosophische Superlativambition haben, indem sie miteinander verknüpft worden sind, die abendländische Superlativsucht hervorgebracht.

In den ersten Abschnitten der Metaphysik geht die Suche nach dem Superlativ langsamer vor: zunächst geht es „nur“ um die Suche nach der wichtigsten Wissenschaft und über die kommt auch die Suche nach dem höchsten Gegenstand in Gang.

Daß Wissenschaft Ursachenforschung ist, sieht man in der aristotelischen Physik. Deren Gegenstände sind die Körper (Plural!) und jeder Körper hat vier Ursachen – die sich wiederum auf zwei Verursachungsweisen aufteilen: Natur oder Kunst (außerdem evt. noch automaton oder tyche).

In der gesuchten Wissenschaft, die zunächst „Weisheit“ genannt wird, geht es um die Ursachen von „allem“, vom „Ganzen“, man kann auch sagen vom „Kosmos“. Gleichzeitig wird angenommen oder postuliert, daß diese Ursachen eher wenige sein sollen, womöglich eine letzte Ursache oder wie man damals lieber gesagt hat: eine bzw. die erste Ursache. So sieht es zum Beispiel bei Thales aus: das Wasser als die eine Ursache von allem. Dieser und andere Vorschläge werden von Aristoteles kritisiert und zwar mittels der physikalischen Ursachenlehre, wonach es mehrere Ursachenarten gibt: da genügt die Ursachenform, zu der das Wasser gehört, nicht.

Er argumentiert also mit seiner „pluralistischen“ Ursachenlehre, außerdem hält er auch an der „pluralistischen“ Realitätsauffassung fest, die seine Physik kennzeichnet. Also was seine Gegenstandsbestimmung betrifft, so will er nicht „mit einem Sprung“ zum Einen.

Es scheint, daß Aristoles der Ursachenforschung den Vorzug vor der Wesensbestimmung gibt. Diese beiden Suchrichtungen kann man ja in der Philosophie unterscheiden. Doch Aristoteles entzieht sich gewissermaßen dieser Unterscheidung, da bei ihm das Wesen eine der vier „Ursachen“ ist: die Formursache. Sein Ursachen-Begriff ist flexibel oder „analog“; schon die deutsche Übersetzung „Ursache“ erschwert das Verständnis dafür.

Walter Seitter

Mittwoch, 6. Juli 2011

Aristotle's Nicomachean Ethics

Anbei ein Link zu einer sehr guten Rezension über eine Neuübersetzung der Nikomachischen Ethik aus der letzten Sunday Book Review (NYT); nebenbei erfährt man auch etwas über Athen und Jerusalem als Denkvoraussetzung "des besten politischen Philosophen des 20. Jahrhunderts", Leo Strauss.  

Zur Rezension

IG

Freitag, 1. Juli 2011

In der Metaphysik lesen (985a 11 – 985a 18)


Bei Reclam ist jetzt Aristoteles’ Über die Seele erschienen, zweisprachig (wie die Poetik) – man kann also jetzt ein weiteres normales Buch von ihm bequem (in der U-Bahn, am Strand usw.) lesen.  Und wenn man das tut, kann man dazu beitragen, das eigene Patient-Sein zu vermeiden, zumindest zu reduzieren – und damit die Wichtigkeit, die den Klinikern aus dem Patiententum der Patienten erwächst. Wer Aristoteles liest, ist insoweit ein „Agent“, ein Aktant, ein Akteur. Also ein Unternehmer. Wer es mit anderen tut, gründet eine Kooperative. Wer Leute dafür interessiert, die zuviel an materiellen Gütern haben und davon abgeben können, kann so zu seinem Lebensunterhalt beitragen. Lösung klinischer und ökonomischer Probleme; Versuch, dies oder das besser zu machen.

Die Ansicht, daß es in der Welt mehr schlechte als gute und mehr häßliche als schöne Dinge gebe, ist so formuliert, daß sie dem Aristoteles selber unterstellt werden kann. Sie hindert ihn indessen nicht an der Annahme, daß sich die Dinge zum Besseren wenden können, wie wir ja in der Poetik lesen konnten, dass die Menschen das Nachahmen lieben, weil sie gern lernen, oder dass die Tragödiendichtung mittels seiner Tragödientheorie besser werden könne.

In bezug auf die Theoriegeschichte vertritt Aristoteles ganz unverblümt die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit des „Fortschritts“, wenn er sich kritisch zum Vorgehen seiner „vorsokratischen“ Vorläufer äußert. Die hätten zwei von den vier (oben genannten) Ursachenarten zur Anwendung gebracht: erstens die Materialursache und zweitens die Bewegursache. Aber das taten sie undeutlich und unklar: wie ungeübte Soldaten, die in der Schlacht hie und da einen guten Schlag vollbringen, aber mehr aufs Geratewohl denn aufgrund von professionellem Wissen. So scheinen auch die früheren Theoretiker nicht genau gewußt zu haben, welche Ursachenformen es gibt und warum sie welche einsetzen.

Aristoteles macht sich anheischig, diesen Mangel zu beheben, und wir können unsererseits seinen Ordnungsvorschlag auf seinen Bericht von den Vorsokratikern anwenden und sagen, welche der bisher genannten Ursachen zu welcher Ursachenform gehören. Wir gehen zurück zu 983b 21, wo das Wasser als erste Ursache genannt worden ist. Und zwar von Thales, der als Gründer derartiger Philosophie bezeichnet wird, womit auch ihm eine Ursach-Rolle zugeschrieben wird – zweifellos auf einer ganz anderen Ebene und auf dieser anderen Ebene des Forschungsprozesses bekommt er eine Ursach-Rolle, die wohl der zweiten Ursach-Form angehört. Es sind also von Anfang an mindestens zwei Ursach-Formen im Spiel, wobei die zweite jetzt gar nicht theoretisch thematisiert wird: sie wird im Theorie-Geschehen selber supponiert. Nach dem Wasser werden Luft, Wasser, Feuer genannt. Allesamt Material-Ursachen, von denen aber die letzte in die Funktion der anderen Ursach-Form eintreten kann: Bewegursache.

Höhere Bewegursachen müssen – laut Aristoteles – eingeführt werden, wenn es um die Verursachung einer Statue oder eines Bettes geht (984a 25), denn weder macht die Bronze selber eine Statue noch das Holz ein Bett. An dieser Stelle benennt Aristoteles – wieder – die zweite Ursachenform, nämlich Bewegursache, ohne diese – zweite notwendige - Ursache für Statue oder Bett anzugeben; wir können sie uns aber denken. Eine weitere Realitätsart, welche derartige Ursachen erfordert, ist das Gut- oder Schön-sein oder –werden von irgendwas. Hat diese Realitätsart mit Statue oder Bett etwas gemeinsam? Ich glaube: ja – denn diese poietischen Produkte werden erzeugt, wenn in einer bestimmten Situation das Vorhandensein eines Bettes besser, d. h. erwünschter ist als das Dasein eines Baumstammes. Nicht nur die Materialursachen erweisen sich da als unzureichend sondern mehr noch die beiden „unnormalen“ Ursachen-Bereiche – neben Natur und Kunst: automaton und tyche (984b 14).

Welche höhere Beweg-Ursache setzen die früheren Philosophen nun tatsächlich ein: den nous, den man als Vernunft übersetzen kann und den Anaxagoras „als Ursache des Kosmos und der gesamten Ordnung“ in der Natur platziert – „wie in den Lebewesen“. Die Tiere werden als mikrokosmische Beispiele für „Vernunft in der Natur“ erwähnt und sie eignen sich wirklich dafür, die Verursachung von „schön“ und „gut“ und „besser“ verständlich zu machen: denn für sie gibt es die Tatsache, daß etwas gut, besser und dergleichen ist, ja sein können muß.

Das wird ganz deutlich, wenn Aristoteles als weiteren Autor früher Ursachenforschung Hesiod angibt, der Liebe und Begehren in den Seienden als Ursache angibt. Lebewesen sind Seiende mit Begehren (auch die Menschen sind solche). Auf dieser Ebene werden dann noch der Streit genannt, d. h. bei den höheren Bewegursachen kann es – wie bei den Materialursachen – mehrere kooperierende oder polare Ursachen geben. Liebe als Ursache des Guten, Streit als Ursache des Schlechten – diese dem Empedokles zugeschriebene These übersetzt Aristoteles in eine andere Formel: nämlich das Gute und das Schlechte als die beiden Ursachen und das Gute selbst als Ursache aller Güter. Diese platonisierende Formel war bereits in 982b 7 gebraucht worden. Aber ist sie wirklich eine korrekte Übersetzung bzw. Fortsetzung der Ursachen-Reihe Begehren, Liebe ...? Irgendwie vielleicht schon. Kann das Gute als Beweg-Ursache gedacht werden? Ja, das Gute bewegt, indem es anzieht, motiviert. Es bewegt das Begehren als dessen Korrelat – steht ihm gegenüber. Sodaß man es eher der vierten Ursach-Form zurechnen muß: Zweck, Ziel.

Ein „objektives“ Korrelat macht Aristoteles auch in der ganz anderen Dimension des Forschungsprozesses namhaft, wo er zunächst Thales als „Verursacher“ der Forschung genannt hat. Nämlich ein „etwas“, das die Philosophen antreibt, weitertreibt: „die Sache selbst“ (984a 18), „die Wahrheit selbst“ (984b 10). Was für Ursachen?

Wenn wir die aristotelischen Ausführungen, mit denen er die „unordentlichen“ Versuche seiner Vorgänger rekapituliert, kritisiert, ordnet, genau betrachten, so stellen wir fest, daß mit seinen Klärungen gleichwohl die Ursachen-Dimensionen sich vermehren. Es steigert sich die Komplexität, in gewissem Sinn wächst das Chaos. Aber nicht aus Liebe zur Ungenauigkeit, oder gar zur Unsachlichkeit. Die Komplexitätssteigerung ergibt sich aus dem Willen zur Sachlichkeit.

Ist die „Metaphysik“ in diesem Sinn eine Fortsetzung von Physik, Poetik, De anima - ?

Walter Seitter

Donnerstag, 23. Juni 2011

DIEFENBACH 2 - SAMMLUNG SCHMUTZ

Aufgrund eines Artikels im Falter ergab sich eine Gelegenheit noch mehr von dem momentan in der Hermesvilla ausgestellten Maler und Propheten Karl Wilhelm Diefenbach zu besichtigen: der Privatsammler Herr Schmutz hat aufgrund von Divergenzen mit den Ausstellungverantwortlichen seine Bilder dort nicht aufhängen lassen, lud aber im Zuge der im Falter veröffentlichten Klarstellung Interessierte ein, sich die Gemälde in seiner privaten Wohnung (in der Nähe der Sternwarte, 1180) anzuschauen - eine Einladung die wir gerne annahmen.

Bereits im Eingangsbereich hängen einige kleinformatige, aber zwischen den Bildern anderer Künstler deutlich hervorstechende Werke Diefenbachs: das etwa einen halben mal einen Meter große Porträt der schön traurig dreinblickenden Tochter des Meisters ist besonders in Erinnerung geblieben. Den klimatisierten Hauptraum der im Dachgeschoß befindlichen Privatausstellung dominieren drei prächtige Großgemälde: eines davon zeigt zwei riesenhafte Statuen mit ägyptischer Kopfbedeckung, die sich stoisch auf steinernen Stühlen sitzend vom Wüstenwind umwehen lassen und teilweise hinterm Sand verschwindend geisterhaft erscheinen; eine phantastische Durchmischung von Elementen wie Farben, die natürlich nur vor Ort wirklich zur Geltung kommen kann. 


"Die Memnonskolosse im Sandsturm", Öl auf Leinwand, 100 x 152 cm, um 1896

War Diefenbach noch vor einem Jahrzehnt völlig unbekannt, drängt er sich nun mehr und mehr dem öffentlichen Kunstbewußtsein auf. Die pazifistische Attitüde, der Vegetarismus und die kommunalen Versuche in freier Liebe lassen ihn heute als einen Hippie-Avantgardisten erscheinen, dessen künstlerisches Potential gerade wieder entdeckt und besser eingeschätzt wird. Wir erfahren, dass zum Beispiel das Frankfurter Museum sein Interesse am oben beschriebenen Bild mit einem durchaus stattlichem Preis bekundete, nachdem dessen Mittel nach einer für den Sammler sehr günstig verlaufenen Auktion, aufgestockt worden sind.  

Zwischen den großformatigen hängen viele kleinere Bilder, deren Motive bereits vertraut sind: eine nackte Frau mit einer Schlange in der Hand, ein aus dem Nichts auftauchendes Gottesantlitz als Diefenbach-Lookalike und wieder viel Natur. Im Bildervergleich sieht man auch, dass der diffamierte "Meister des Nichtstuns und Trotzdem Lebens" mitunter tatsächlich gerne für sich arbeiten ließ: während die Statue des Jünglings im Vordergrund sich relativ selbstgleich bleibt, zeigt der Hintergrund nur oberflächlich betrachtet zwar dieselbe Gegend, welche aber, schaut man genauer hin, mit einer jeweils offenbar ganz anderen Maltechnik und höchstwahrscheinlich überhaupt von jemand anderem gemalt worden ist, was uns an barocke Werkstattgebräuche denken lässt. Wir erfahren, dass Diefenbachs rechter Arm infolge einer Typhuserkrankung dauerhaft verkrüppelt und beinahe lahm war; der junge Fidus wird also kaum der einzige gewesen sein, der bei der Verfertigung von Bildern mitgeholfen hat.  

Ausserdem bekommen wir viele Kataloge zu Gesicht, die meisten in deutscher, manche in italienischer Sprache und alle natürlich mit noch mehr Bildern; darunter ist zum Beispiel ein sehr schönes mit handgemachten Zierleisten versehenes und in die Länge aufklappbares Buch mit einer Abbildung des i. O. 68m langen Wandvries, welches aktuell zum großen Teil in der Hermesvilla, ansonsten aber in Hadamar, dem Gebursort Karl Wilhelm Diefenbachs - "einem der bedeutendsten Silhouettenkünstlers des 20. Jahrhunderts" (vgl. http://www.hadamar.de/) - zu bewundern ist oder eine relativ neue Publikation von Stefan Kobel: "Karl Wilhelm Diefenbach - Der Maler als Gesamtkunstwerk".

Einige Bilder sowie die Einladung weitere vor Ort zu sehen gibt es hier auf der Diefenbach-Seite der Sammlung Schmutz.

IG

In der Metaphysik lesen (984b 32 – 985a 11)


Vorläufige Vermutung, daß in der zuletzt gelesenen Passage, obwohl eigentlich nur ein paar Theorie-Vorläufer referiert werden, schon eine ganz wesentliche Aussage der hier „gesuchten Wissenschaft“ formuliert wird: der Sprung von rein materiellen Ursachen zu „höheren“ Ursachen, die zunächst mit dem Wort nous sehr hoch angesetzt werden, aber dann mit dem Vergleich „wie in den Lebewesen“ doch wieder einigermaßen „geerdet“ werden. Als würden nur „anorganische“ Ursachen durch „organische“ Ursachen ersetzt oder vielmehr ergänzt werden. Mit der Einführung dieser Ursachen werden wir einfach nur in die „Zoologie“ geführt, die als die Mitte des aristotelischen Weltbildes gilt. Auch die Art und Weise, in der das Verursachte benannt wird, welches die höheren Ursachen erfordert, ist nicht vorsokratisch-poetisch sondern aristotelisch-banal: das Gut-oder-schön-sein oder –werden der Dinge. Auf der Seite des Verursachten der Übergang vom Indikativischen zum Optativischen, auf der Seite der Ursachen der Übergang vom Anorganischen zum Organischen.

Kann das ein entscheidender Sprung in der bzw. zu der „Metaphysik“ sein? Erinnerung daran, daß in 982b 7f. „das Gute oder das Beste“ als Ursache in der „anfänglichsten Wissenschaft“ genannt worden ist. Eine ganz andere Stellung des Guten und auch eine andere Wortform: nicht das Adverb sondern das substantivierte Neutrum des Adjektivs – eine typisch platonische Form.

Jetzt aber fügt Aristoteles – immer noch die Ansichten der Vorsokratiker referierend – etwas hinzu, was man ihm gar nicht ohneweiteres zugetraut hätte bzw. was dem ihm unterstellten „Optimismus“ zu widersprechen scheint. Nämlich die Feststellung, daß es in der Natur nicht nur gute Dinge gibt, nicht nur Ordnung und Schönes sondern auch Unordnung und Häßliches, ja daß sogar die schlechten Dinge quantitativ über die guten, die häßlichen Dinge über die schönen überwiegen. Daß  mit „Ordnung“ und „Unordnung“ hier neue Wörter eingeführt werden, entspricht sehr wohl dem griechischen Denken. Wenn wir aber bedenken, daß die Griechen das Ganze nicht nur mit physis=Wachstum, Natur sondern auch mit kosmos=Schmuck, Welt benannten, dann mag es uns erstaunen, daß es in diesem Ganzen mehr Unordnung als Ordnung geben soll. Gibt es bei Aristoteles Äußerungen, die in diese Richtungen gehen? Denken wir an die Poetik, so erinnern wir uns daran, daß er nur solche literarischen Gattungen behandelt, die insgesamt mehr „Schlechtes“ enthalten: Tragödie, Komödie, Epik. Die überwiegend „positiven“ literarischen Gattungen (Hymnik, eventuell Lyrik) hat er nicht thematisiert.

Gesche Heumann erinnert uns daran, daß Aristoteles in 983a 1 einen Dichter mit der seinerzeit geläufigen Ansicht zitiert hat, daß „das Göttliche neidet“, sobald es Menschen allzu gut geht. Damals hat Aristoteles zwar diese Ansicht, mit der die gesuchte und vornehme Wissenschaft als menschenunmöglich dargetan werden sollte, abgewiesen. Diese Wissenschaft soll also nun doch möglich sein, aber sie muß sich, wir wir jetzt lesen, mit einem quantitativen Übergewicht des Schlechten über das Gute abfinden bzw. diesem gerecht werden. Dieses Übergewicht ergibt sich aus der zitierten Ansicht insofern, als es den Menschen entweder ziemlich schlecht geht, dann sind die Götter „zufrieden“, oder es geht ihnen ziemlich gut, dann stehen sie schon unter der Drohung göttlichen Neides. Das heißt: es kann ihnen auf Dauer gar nicht besonders gut gehen. Das wäre dann der griechische theologisch begründete „Pessimismus“.

Wir haben für das Vorkommen des Schlechten keine zusätzliche Ursache angenommen, weil wir die Ursache etwas neutraler als Liebe und Begehren gefaßt haben und die haben sozusagen automatisch immer auch die Kehrseiten Haß oder Abscheu. Aristoteles benennt aber die Ursache des Guten und Schönen nun mit „Freundschaft“, die Ursache des Schlechten mit „Streit“ oder abstrakter mit „dem Guten“ und „dem Schlechten“. Das heißt er kommt auf die „platonische“ Formulierung 982b 7f. zurück – verdoppelt sie aber dualistisch. Zwei entgegengesetzte Prinzipien, die formal an die altchinesische Polarität von Yin und Yang erinnern mögen, welche aber gerade nicht die Opposition gut-schlecht enthält. Eher könnte man an die beiden entgegengesetzten Gottheiten des Manichäismus oder der Gnosis denken: eine religiöse Konzeption der Spätantike, in die tatsächlich auch Platonismus eingeflossen ist.

Jedenfalls hat sich der Text mit dieser Formulierung von zwei höchsten Ursachen von der schlichten „zoologischen“ Ursachenlehre entfernt. Ivo Gurschler kritisiert an der gesamten Gegenüberstellung von Gut und Schlecht eine Eindeutigkeit, die gar nicht möglich sei; Einstimmigkeit sei über diese Unterscheidung ohnehin nicht zu erzielen.

Walter Seitter