τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 8. Juli 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH IX (Θ), 1051a 34 – 1052a 3)


Die im Laufe der Metaphysik entfaltete Ontologie spielt insgesamt weniger eine fundierende denn eine supplementäre Rolle. Und ihre innere Struktur hat additiven Charakter – Stück für Stück wird sie zusammengebaut. (Siehe die aristotelischen Beispiele: bauen, gebaut werden).

Der in der letzten Stunde gelesene Abschnitt 9 fügt dieser Ontologie nur dann eine neue, eine zusätzliche Version hinzu, wenn er nicht als Lehre vom Guten oder von den Gütern zu verstehen ist. Diese Lehre mag es zwar auch geben – und sogar geben müssen. Um einen Beitrag zur aristotelischen Ontologie handelt es sich aber nur, wenn er besagt, das Seiende als solches ist gut – oder schlecht (adjektivisch). Allerdings basiert dieser Abschnitt auf den Ausführungen über Vermögen und Verwirklichung und seine Aussage geht dahin, dass die Verwirklichungen, also Tätigkeiten, Verhalten, Leistungen erstens besser sind als die entsprechenden Vermögen (und schlechter als die schlechten Vermögen) und zweitens sind sie in sich gut, vortrefflich, exzellent – oder aber fehlerhaft, mangelhaft, schlecht. Mit den Verwirklichungen werden also bereits „Höhepunkte“ von „seiend“ aufgerufen und so mag auch verständlich werden, dass Aristoteles hier die Möglichkeit der Indifferenz kaum berücksichtigt. Verwirklichungen sind Emergenzen, Fulgurationen, die notwendigerweise Exzellenz beanspruchen – und wenn sie diese verfehlen, fallen sie ins Gegenteil.[1]

Als Beispiel für so eine erfolgreiche energeia führt Aristoteles über geometrisches Zeichnen die Denktätigkeit (noesis) vor. Die erweist sich als gut und tüchtig, weil sie etwas findet, das so ist, wie es ist. Und damit leitet er direkt zur nächsten Stufe der Ontologie über, welche „seiend“ als wahr – oder falsch - qualifiziert.

Dieser Abschnitt 10 deklariert sich selber mit größter Deutlichkeit als zusätzliche Etappe der Ontologie – nach der Kategorien-Analyse und nach der Potenz-Akt-Analyse. Unter dem Aspekt des Wahr-oder-falsch-seins werden die Sachen als zusammengefügt oder als getrennt bezeichnet, weil die wahrheitsfähigen Aussagen Zusammenfügungen oder Trennungen – von Subjekt und Prädikat – vollziehen. Die Aussagen aber sind nur wahr, wenn sie tatsächlich vorliegende Zusammenfügungen oder Trennungen feststellen. In Bezug auf das Wahre gibt es also einen formalen Primat der Aussagenebene und einen materialen Primat der Sachebene. So verhält es sich bei zusammengesetzten Sachverhalten wie etwa dem Zusammenhang zwischen dir und deiner weißen Hautfarbe – beispielsweise. Ist so eine Sache zusammengesetzt, so ist sie nur, wenn beide Teile vereint sind. Sind die Teile nicht vereint, so gibt es die zusammengesetzte Sache nicht – sondern eben die Teile in ihrer Pluralität.

Dann geht Aristoteles zu den nicht-zusammengesetzten Sachen über, die ganz einfach sind. Und von denen er die Zusammenfügungen „Diagonale“ und „inkommensurabel“ sowie „Holz“ und „weiß“ unterscheidet. Die erste von den beiden ist mir insofern bekannt, als sie in diesem Buch schon öfter genannt worden ist und ein Gesetz der Geometrie formuliert: die Diagonale eines Quadrates ist inkommensurabel zur Seitenlänge. Die zweite Zusammenfügung ist mir unbekannt – da dürfte es sich um einen empirischen Zusammenhang in der Naturkunde handeln, bei dem zwei Aspekte unterscheidbar sind.

In Bezug auf die einfachen Sachverhalte postuliert Aristoteles ein ganz bestimmtes Wissen, das mit Erfassen und Nennen (nicht mit Behaupten) verbunden ist, ein Wissen, bei dem keine Täuschung möglich ist, da es weder um Akzidenzien geht noch um Möglichkeit. Sondern um „das Seiende selbst“, das weder entsteht noch vergeht – das Wesen ist und Verwirklichung. (Dieses Seiende ist nicht mit dem mannigfaltigen „ontologischen“ Seienden identisch, es deckt nur dessen höhere Stufen ab).

Da gibt es nur Denken oder Nicht-Denken. Das Denken ist kompatibel mit dem Erforschen der Dinge – ob sie solche sind oder nicht. Das Nicht-Denken führt zu Nicht-Wissen – nicht aufgrund des Mangels an natürlichen Fähigkeiten – sondern zu Ignorieren, aufgrund eines Mangels an richtiger Einstellung, womit dem ersten Satz der Metaphysik zuwidergehandelt wird. So hebt Aristoteles den moralischen Zeigefinger in einem Abschnitt, der mindestens zehn Erkenntnistätigkeiten, -modalitäten und -zustände nennt und positioniert. Es handelt sich also um eine auffällige Verdichtung der erkenntnispolitischen Problematik.

Deren ethischen Aspekt berührt Aristoteles hier nur flüchtig und ohne Emphase. Im Unterschied zu seinem Wutanfall gegen die „dialektischen“ und „sophistischen“ Pseudophilosophen, die er im Moment der Gründung der Ontologie, also am Anfang von Buch IV, aufs Korn nimmt.[2]

Walter Seitter


Seminarsitzung vom 26. Juni 2019



[1] Wie in Abschnitt 6 mit den selbstzweckhaften Handlungen wird jetzt mit deren möglicher (aber nicht notwendiger!) Vortrefflichkeit von der Ontologie aus das Konzipieren praktischer Begriffe wie Tugend, Freundschaft, Kooperation eingeleitet. Dazu siehe Andrius Bielskis: Existence, Meaning, Excellence. Aristotelian Reflections on the Meaning of Life (London – New York 2017).
[2] Ethische Fehleinstellungen, die das Wissen beeinträchtigen (und zwar keineswegs nur bei Wissenschaftlern) hat neuerdings Pascal Engel zum Thema gemacht: Les vices du savoir. Essai d’éthique intellectuelle (Paris 2019).