τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Dienstag, 27. März 2018




In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1034b 20 – 1035a 22



Die Zeugung eines Maulesels durch ein Pferd ist der bekannteste Fall einer Abweichung von der Regel der Gleichnamigkeit und Gleichartigkeit zwischen den Generationen. Nach Aristoteles geschieht sie „wider die Natur“ (1033b 33) – weil sich das Vatertier mit seiner Form nicht so durchsetzt, dass das Gezeugte derselben Spezies angehört (außerdem ist dieses Gezeugte dann seinerseits zeugungsunfähig - siehe 1034b 3)). Hier wäre also von einer eklatanten Vaterschwäche zu reden.

Wir dürfen aber dazusagen, wie es dazu kommt. Maulesel (und Maultiere) sind Kreuzungsprodukte aus  Esel und Pferd, also Produkte menschlicher Züchtungskunst. Menschliche Züchtungskunst, die ohnehin die gesamte Landwirtschaft bestimmt, hat da stark eingegriffen und das natürliche Zeugungsgeschehen innerhalb der Familie bzw. Gattung „Pferd“ (für Aristoteles heißt nur die Art „Pferd“) manipuliert. Eine Manipulation, die von der Natur ausnahmsweise akzeptiert wird – aber mit der erwähnten Abschwächung (die von Aristoteles indirekt als „Verletzung“ oder „Verstümmelung“ bezeichnet wird – 1034b 4).[1]

Die Kombination aus biologischer Zeugung und künstlicher Einwirkung habe ich für den Bereich menschlicher Fortpflanzung vermutungsweise bereits namhaft gemacht, obwohl ich bei Aristoteles dazu keine Anhaltspunkte finde. Eher neigt ja Platon dazu, die menschliche bzw. staatsbürgerliche Fortpflanzung künstlich und politisch in Regie zu nehmen.
   
Die reguläre Gleichnamigkeit und Gleichartigkeit, die sowohl die aufeinander folgenden Generationen wie auch die beiden sexuellen Geschlechter umfasst – also die „Geschlechter“ in beiden Wortbedeutungen (siehe dazu den Abschnitt 28 in Buch V), stellt einen Sachverhalt dar, der die aristotelische Substanz-Auffassung sozusagen der Natur selber zuschreibt. Die Natur ist eine „Speziesistin“ – sie funktioniert bei den uns bekannten Lebewesen (zu denen wir selber gehören – Lacan zufolge ist es ein grober Fehler, sich selber auszulassen)[2] nach dem Schema Gattung-Spezies-Individuum, in dem die Spezies für die Zweite Substanz (im Sinne der Kategorien) oder die Primäre Substanz (im Sinne der Metaphysik) steht.

Gleichnamigkeit und Gleichartigkeit – Thomas Buchheim spricht griechischer von Homonymie und Homoeidetik[3] - vertreten die beiden Ebenen, die Aristoteles  ständig, wenn auch mit wechselnder Dominanz, im Auge hat und  die sich gegenseitig stützen und verstärken: die Sprachebene und die Sachebene.

Abschnitt 10 setzt mit „Definition“ und „Begriff“ wieder  (und noch stärker als Abschnitt 5) ganz stark auf die Sprachebene – und hebt diese gerade dadurch hervor, dass auch der ziemlich abstrakte Begriff „Sache“ (pragma) gleich zweimal genannt wird – welcher Begriff eher selten vorgeführt wird. Die Sachebene wird zumeist mit konkreteren Sachbegriffen wie Vater, Samen, Kreis, Segment, Substanz, Akzidens, präsentiert. Mit Silbe und Buchstaben, also mit  physikalischer Sprach- bzw. Schriftanalyse, werden Sachebene und Sprachebene gleichzeitig aufgerufen.

Wieso aber die Sprachebene? Sie ist das sichtbarste Symptom dafür, dass Wissenschaft etwas Materielles produziert, etwas Künstliches, das zur „Theorie“ hinzukommt, sie geradezu herbeiführt und sie außerdem ausführt, also gestaltet und ihr ein Gepräge gibt, eine Stoßrichtung verleiht, ein physisches Profil, aus dem sich vielleicht eine  elementarpolitische Richtung ablesen lässt, eine erkenntnispolitische. Denn es ist nicht egal, mit welchen Namen, Begriffen, Definitionen ein Sachverhalt, auch ein natürlicher, benannt, bezeichnet, festgeschrieben wird. Ob es mit Zoologie, Psychologie, Physik oder mit Erster Philosophie geschieht, wie etwa bei Aristoteles. Es beginnt immer mit bestimmten Buchstaben, Silben, Wörtern aus Wachs oder aus Luft. Also geschriebenen oder gesprochenen, durchaus artifiziellen Formeln und Formulierungen.

Aristoteles führt die Parallelaktion aus Sprachebene und Sachebene dann so durch, dass er die Frage aufwirft, ob der Primat jeweils dem Teil oder dem Ganzen zuzusprechen ist, wobei wiederum Form und Stoff unterschieden werden.

Ist der Begriff des Teils im Begriff des Ganzen enthalten? Das trifft für das Segment, das ein Teil des Kreises ist, nicht zu, wohl aber für den Buchstaben als Teil der Silbe. Das Segment ist nur irgendein Stück des Kreises, ohne mit seinem Wesen etwas zu tun zu haben – vielleicht würde Aristoteles die Frage in Bezug auf den Sektor anders beantworten, denn dieser reicht vom Mittelpunkt bis zum Umfang und wird von zwei Radien begrenzt. Ähnlich das Verhältnis zwischen spitzem Winkel und rechtem Winkel sowie zwischen Finger und Lebewesen.

Die Buchstaben auf der Wachstafel oder die in der Luft, also die geschriebenen und die gesprochenen mit den jeweils zuständigen Materialien sind im Begriff der Silbe nicht enthalten – wohl aber in der geschriebenen oder gesprochenen Silbe.

Zerlegt man eine Linie in zwei Hälften oder einen Menschen in seine Knochen und Sehnen und Fleisch(stück)e so gelangt man keineswegs zu den Teilen von deren Wesen – denn man zerteilt nur den Stoff und nicht die Form, auf welche der Begriff zielt. Daß der Mensch dabei vernichtet wird, d.h. stirbt, wird auch erwähnt – das heißt: dieses „nur den Stoff“ ist keineswegs unwichtig. Die Form hingegen geht nicht zugrunde – aber hier vermeidet es Aristoteles, allzu bestimmt eine Ewigkeit der Form in Aussicht zu stellen: Das Stofflose, „dessen Begriffe nur auf die Form zielen, das geht nicht zugrunde, entweder gar nicht oder nicht auf diese Weise.“ (1035a 29).

Walter Seitter

Sitzung vom 21. März 2018


Nächste Sitzung am 11. April 2018




[1] Ein eher normales Züchtungsprodukt innerhalb der Familie der Pferde, nämlich in der Spezies der Esel, ist mir dieser Tage zu Gesicht gekommen: in Annaberg (Land Salzburg) ritt am Palmsonntag  Lucas Oberauer auf der Eselin namens Csila in die Kirche ein; diese Eselin gehört zur seltenen Rasse der Österreichisch-Ungarischen Weißen Barockesel, die vor allem im 17. Und 18. Jahrhundert gezüchtet wurde und für die das cremefarbene Fell und die hellblauen Augen typisch sind. Eine Züchtung, für die der Ausdruck „Kunst“ nicht zu hoch gegriffen ist. (Siehe Salzburger Nachrichten, 25. März 2018).

[2] Siehe Jacques Lacan: Seminar II (1954/55): Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse (Olten-Freiburg 1980): 106ff.


[3] Siehe Thomas Buchheim: loc. cit: 121ff.

Sonntag, 18. März 2018

                                       
In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1034a 19 – 1034b 19


Was in einem bestimmten Moment entsteht, fängt erst in diesem Moment an zu existieren. Hinsichtlich seiner Existenz und als Individuum ist es also neu. Es entsteht aber nicht aus nichts, sondern aus Form und Stoff.  Hinsichtlich seiner Form oder seines Wesens ist es nicht neu, denn diese Form muß es schon irgendwie gegeben haben – entweder in seinem natürlichen Erzeuger (Vater, Samen) oder im Denken seines künstlichen Herstellers (Künstlers). Sowohl die Formen wie auch die Stoffe hat es schon vorher gegeben.

Etwas entsteht aus einem Gleichartigen (oder Gleichnamigen). Das sind die normalen, die substanziellen oder essenziellen Entstehungen, in denen eine gleiche Wesensform weitergegeben wird. Entstehungen durch Übernahme einer Wesensform: Apfelkern – Apfelbaum, Menschensamen – Menschenkind -  .....

Die zuletzt genannte Reihe gilt für jede menschliche Reproduktion. Aber unterhalb der Wesensgleichheit zwischen den Menschen, die von Aristoteles fest behauptet wird, gibt es Differenzierungen, von denen mindestens eine direkt mit der Zeugung verbunden ist: diejenige zwischen männlichen und weiblichen Kindern. Da die Zeugung als Formübertragung laut Aristoteles nur vom Vater ausgeht, wird bei der Zeugung eines weiblichen Kindes die Gleichartigkeit (und Gleichnamigkeit) unterbrochen: vom Mann wird eine Frau gezeugt. Da wird für die Sexualität, die eine subspezifische (subessenzielle) Qualität ist, die Form nicht vom Vater geliefert. In dieser Hinsicht geht die Zeugungsbewegung von der – mütterlichen - Materie  aus und die Entstehung ist eine „von selber“, eine „automatische“ oder „akzidenzielle“. Auf dieser Ebene setzt sich die Mutter (die ja nicht bloß Materie sondern ebenfalls Körper, geformter und beseelter, ist) mit ihrer Formgebung durch. „Akzidens“ als Störung oder Ausnahme oder Privileg?

Die katholischen Lehren von der Empfängnis Mariens (ungefähr im Jahre -17) und von der Empfängnis Jesu (ungefähr im Jahre 0) beziehen sich auf solche Ausnahmen „nach oben“ oder „von oben“. Ausnahmen aufgrund von tyche?

Wie die Wesensformen sind auch die anderen kategorialen Formen und auch der Stoff nicht entstanden sondern vorgegeben – und sei es auch rein potenziell. In einer Hinsicht unterscheidet sich jedoch das Wesen von den übrigen Voraussetzungen: damit ein substanzielles Ding, also ein Körper, entstehen kann, muß ein anderer und mehr oder weniger ähnlicher Körper als Vorbild und Wirkursache schon wirklich, d.h. vollendet existiert haben.  

Die Menschenzeugung wird von Aristoteles entweder unilinear (Mensch aus Mensch) oder plurilinear (Mensch aus Vater und Mutter, Mensch aus Mensch und Sonne und Ekliptik) hergeleitet. Da bereits der einfache Mensch ein komposites Wesen ist (Stoff und Form), entsteht der „neue“ Mensch immer aus Zusammensetzungen und damit eröffnet sich ein Kontingenzraum: welche Komponente setzt sich beim neuen Menschen, der ebenfalls ein zusammengesetztes Wesen ist, stärker durch? Akzidenz, Kontingenz ?

Daß auch in der künstlichen oder künstlerischen Entstehung die unilineare Homonymie durch kontingente Abweichungen modifiziert werden kann bzw. muss, lässt sich annehmen. Auch bei Voraussetzung eines bestimmten „Wesens“ (Haus, Tragödie (in der Poetik hat Aristoteles die Tragödie als ein Ding besprochen, dessen „Seele“ im plot liegt)) werden die Werke unterschiedlich ausfallen und überdies unterschiedlich beurteilt werden: Gemeinsamkeiten und Nuancen innerhalb einer Kultur.

Natürlich gezeugte Menschenindividuen werden durch Erziehung und überhaupt durch Kultivierung (Fremd- und Selbstkultivierung) gewissermaßen auch zu „Werken“.

Und wenn ein Tanzkünstler seine Aufführungen selber choreographiert, dann entstehen Werke, in denen Natur und Kunst ohne große Umwege zusammenkommen (es können dennoch große Umwege eingebaut sein, wenn sich eine Choreographie etwa an Aischylos orientieren würde). (Lucie Strecker erinnert an die willkürliche Selbstbewegung des menschlichen Körpers in der Art des Tanzens, die Aristoteles in 1034a 16 erwähnt hat).


Walter Seitter

Sitzung vom 14. März 2018



Nächste Sitzung am 21. März 2018

Freitag, 9. März 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1034a 9 - 18


Das Allgemeine, das einen Bestandteil der aristotelischen Substanz bildet und unabhängig von Aristoteles bei Sokrates, Platon, Kant, Edmund Husserl („Wesensschau“), Max Weber („Idealtypus“) eine Rolle spielt,  ist ein Gesehenes und ein Gesprochenes. So wie die platonische „Idee“ ist es keine Idee im modernen Sinn, also keine menschengemachte oder "angefertigte" Vorstellung, nicht ein Vorschlag oder ein Plan. Sondern eine Artbestimmung oder Gattungsbestimmung, die in vielen Einzelwesen vorkommt.

Bei uns geht es jetzt um die Entstehung und dabei nicht nur um die Entstehung von Substanzen. Gesundheit ist ja keine Substanz sondern eine Qualität bestimmter Substanzen – nämlich von Lebewesen. Das Haus hingegen dürfte für Aristoteles als Substanz gegolten haben.

Der Unterschied zwischen der Entstehung der Gesundheit und derjenigen eines Hauses wird hier so formuliert, dass jene aufgrund von Kunst oder auch „von selber“ geschieht. Mit der Kunst ist in diesem Fall das Wirken eines Arztes, also Heilkünstlers, gemeint. Und mit dem „von selber“ könnte zur Not eine natürliche Spontanheilung gemeint sein, oder eine unordentliche Selbstverarztung – aber damit hätten wir doch wieder Natur und Kunst eingeführt. Oder aber ein eigenständiges „von selber“ – wofür mir einfällt: ein Wunder, eine göttliche Einwirkung. So etwas hat Aristoteles innerhalb der Tragödie kaum akzeptieren wollen. Allerdings würde das viele eher als tyche gelten: ein von außen kommender Zufall.[1]

Fällt jemandem noch ein anderes mögliches „von selber“ für die Entstehung von Gesundheit ein? Die von Armin Tillmann genannte Prävention klingt sehr sympathisch, doch ist fraglich, ob man da von Entstehung sprechen kann. Eher von Erhaltung, Bewahrung, Fortsetzung – womit Entstehung überflüssig gemacht wird. Es gelingt uns also kaum, eine „spontane“ Entstehung von Gesundheit präzise zu bestimmen.

Wohl aber liefert Aristoteles eine Erklärung dafür, dass bei manchen Entstehungen nicht die Kunst oder nicht nur die Kunst ausschlaggebend ist: nämlich dort, wo der Stoff eine Eigenmächtigkeit entfaltet. Da die Steine, die den Stoff zum Haus bilden, von sich aus nicht die Bewegungen vollziehen können, welche zum Aufbau einer Mauer und zur Zusammenfügung mehrerer Mauern führen würde, kann ein Haus nur mit Kunst entstehen: mit Planung und Durchführung von künstlichen Steinsetzungen.  


Walter Seitter



[1] Die Eliminierung göttlicher Akteure und die Zurückdrängung der menschlichen, der sogenannten Helden, aus der Tragödie war dasjenige, was in der hiesigen Poetik-Lektüre, die von 2007 bis 2010 gedauert hat, hauptsächlich gesehen worden ist – nachzulesen in Walter Seitter: Poetik lesen (Berlin 2010): 97. So hat Aristoteles im plot der Tragödie, einer exzentrischen Sonderzone, seine substanzialistische Ontologie zugunsten eines Akzidenzialismus suspendiert – was wiederum meine Neugier in Richtung Ontologie gesteigert hat und die hiesige Metaphysik-Lektüre  ins Leben gerufen hat.



Sitzung vom 7. März 2018


Nächste Sitzung am 14. März 2018


Montag, 5. März 2018

5. März 2018


Im letzten Protokoll habe ich versucht, die „Zweideutigkeit“ des aristotelischen Substanz-Begriffs unter der Etikettierung der Kategorienschrift anzuschreiben. Diese Zweideutigkeit besteht darin, dass das Individuelle und das Allgemeine in den einen Begriff der ousia zusammengerückt werden – dass sie aber begrifflich doch unterscheidbar bleiben. Im Buch VII der Metaphysik heißen die beiden Versionen der ousia nicht mehr Erste Substanz und Zweite Substanz sondern „Das-da“ und „Was-ist“ – Aristoteles entschließt sich also zu einer viel umgangssprachlicheren Terminologie. Und zeigt damit auch, dass Terminologien einerseits notwendig sind, andererseits aber austauschbar und eventuell verbesserbar.

Am letzten Samstag hat der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz in der Wiener Zeitung ein Gespräch geführt, in dem er die Thesen seines letzten Buches Die Gesellschaft der Singularitäten (Berlin 2018) erläutert – und zwar unter dem Titel „Es gibt eine Krise des Allgemeinen“.

Mit „Singularitäten“ will er sagen, dass in der gegenwärtigen Gesellschaft die Individualisierung bzw. die Forderung nach ihr sich steigern – sei es auf der Ebene der persönlichen Leistungen oder auf derjenigen der Produktqualitäten in den unterschiedlichsten Lebensbereichen. Man begnügt sich nicht mehr mit der Einordnung in herkömmliche Klassifikationen oder mit dem Einhalten gängiger Standards – sondern strebt nach „Einzigartigkeit“.

Das Allgemeine gerät unter den ästhetischen Verdacht des Gewöhnlichen und Langweiligen oder aber unter den politischen Verdacht von Anpassung und Gleichschaltung, Ausmerzung der Differenzen. Man meint ein Recht auf Besonderheit zu haben und durchsetzen zu müssen. Auf der anderen Seite kippt das Verlangen nach Einzigartigkeit leicht in Überforderung oder es schlägt in Personenkult um, wo sachliche Zugehörigkeiten keine Rolle mehr spielen. Tatsächlich geht es dann nur noch um superlativische Steigerungen von bestimmten Qualitäten, die als solche kaum noch interessieren.

Reckwitz bezieht sich damit auf den Bereich menschlicher Leistungen oder Erfolge, in dem nur noch Superlative zu zählen scheinen.

Es  gibt eine spezielle Wortart, besser gesagt eine Subspezies der Wortart „Substantiv“, sie heißt „Singularetantum“ – und diese Wörter sind nur im Singular gebräuchlich. Meine lange Erfahrung hat mich gelehrt, dass die deutsche Sprache eine besondere Neigung hat, wichtigen Wörtern den Plural zu verbieten. So dem Wort „Glück“. Vor kurzem haben zwei französische Autoren dafür plädiert, das Glück, aber auch das Andere und das Ganz-Andere  in den Plural setzen zu können: Marc Augé und François Jullien. Damit werden solche Wörter Allgemeinbegriffe.

François Jullien hat die Problematik des Allgemeinen in bezug auf die Kulturen ausführlich erörtert und er konstelliert diesen Begriff mit dem Einförmigen, mit dem Abstrakten, mit dem Ähnlichen, mit dem Gemeinsamen. Ebenso zahlreich sind die Gegenbegriffe: das Einzelne, das Besondere, das Singuläre, das Identische. Seine diesbezüglichen Bücher: Das Universelle, das Einförmige, das Gemeinsame und der Dialog zwischen den Kulturen (Berlin 2009); „Es gibt keine kulturelle Identität“. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur (Berlin 2017)

Mit Bezug auf einen anderen Realitätsbereich hat Bruno Latour in eine ähnliche Debatte eingegriffen. „Speziezismus“ nennt man die Diskriminierung bzw. Andersbehandlung  bestimmter Arten von Lebewesen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit. Latour behauptet nun in Le Monde vom 5. März 2018, dass eine Kritik daran sich ins Absurde verirrt, wenn sie bestimmte Arteigenschaften, etwa die Verspeisung von Gazellen durch Löwen, leugnet oder abschaffen will. Gegen einen derartigen „Antispeziezismus“ setzt er einen „Multispeziezismus“ – womit Überlegungen innerhalb der menschlichen Spezies über ihre Nahrungsbeschaffung nicht präjudiziert sind; denn Überlegen ist eine menschliche Fähigkeit. (Yves Bonnardel, Thomas Lepeltier, Pierre Sigler: La révolution antispéciste (Paris 2018))

Ordnet man die Phänomene mit Begriffen nach einem Schema von Gattung, Art, Individuum, so heißt das nicht – sie vergewaltigen. Allerdings sind die taxonomischen Schemata nicht unveränderlich.

Walter Seitter


Sonntag, 4. März 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1033b 20 – 1034a 8

  
Thema ist nach wie vor die Entstehung  -  die Entstehung von Sachen, die es nicht schon immer gegeben hat, von Dingen, die selbständig existieren, von Dingen, die aus Stoff und Form zusammengesetzt sind. Wolfgang Koch erinnert an 1029a 7, wo gesagt wird, dass die Form „früher und mehr seiend“ ist als der Stoff und die Verbindung aus beiden.

Nun ist aber das aus beiden Verbundene die selbständig existierende Substanz, laut Kategorienschrift die Erste Substanz. Welchen Status hat die Form, die früher und seiender genannt wird? In der Diktion jener Schrift heißt sie Zweite Substanz und im zuletzt gelesenen Abschnitt wird von ihr gesagt, dass sie „eidos oder ousia“ genannt wird und dass sie „nicht entsteht“.



Erste Substanz                                                  Zweite Substanz


entstanden                                                           unentstanden und früher


zusammengesetzt aus                
Stoff und Form                                                      unteilbare Form

                                                                                seiender     
                        

selbständig existierend                                      unselbständig                           


„Substanz“                                                              „Essenz“


„beseelter Körper“                                                   „Seele“ 



Die Version von ousia, für die die linke Kolonne steht, ist unserer Erfahrung näher. Die andere Version erscheint eher unklar, sie ist ein Bestandteil der ersten, gleichzeitig wird ihr ein höherer Rang zugesprochen. Ich würde sagen, sie ist ein „Rest“ der platonischen Idee, von der sich Aristoteles distanzieren will, die er aber auch nicht ganz los wird.

Im Absatz 1033b 20ff. schlägt sich Aristoteles mit der Frage herum, ob die damit gemeinten „Formen“ für die Entstehungen der Wesen einen Nutzen bringen, und er verneint die Frage. Andererseits bleibt er bei seiner Ansicht, dass bei der Zeugung eines Tieres eine identische Artform zwischen den Generationen entscheidend ist, in Ausnahmefällen sogar eine Gattungsform wie zwischen Pferd und Maulesel (Kreuzung aus Pferd und Esel). Die Bezeichnung für die Gattungsform, die Aristoteles nicht kennt, lautet heute „Equidae“.

Schließlich wählt Aristoteles eine Formulierung, die meines Erachtens explizit gegen Platon gerichtet ist, der meine, eine Form als ein Urbild (Vorbild) anfertigen zu müssen. Mit diesem Anfertigen unterstellt er ein Konstruieren oder Aufbauen, das von Haus aus fehlgeht, weil der Theoretiker damit über die reine Theorie hinausgehe. (Dass der Theoretiker notwendigerweise zum sprachlichen „Bauen“ übergehen muss, scheint Aristoteles hier zu übersehen.)

Was die Formursache betrifft, so ist sie zwar notwendig für die Entstehung, aber sie ist in der Wirkursache (Künstler, Vater) enthalten und man muss sie nicht „extra“ ansetzen. Das Entstandene, also das Ganze, heißt beispielsweise Kallias oder Sokrates, und besteht aus einer Artform sowie aus diesem Fleisch und diesen Knochen. Diese sind teilbar, die Form aber unteilbar.

Walter Seitter

                                 
Sitzung vom 28. Februar 2018


Nächste Sitzung am 7. März 2018