τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 31. Mai 2018

Extraprotokoll vom 30. Mai 2018


Ich möchte auf eine Neuerscheinung aufmerksam machen, die zu unserem Seminar keinen direkten Sachbezug aufweist – aber es lässt sich einer herstellen.

Claudia Schmölders (Berlin) hat das Buch  Faust & Helena. Eine deutsch-griechische Faszinationsgeschichte (Berlin 2018) vorgelegt. Ein Werk der Kulturgeschichte und wie man ergänzen muss der „Kulturgeographie“. Eine Ergänzung, die man wohl bei den meisten derartigen Werken anbringen müsste – denn alle kulturellen Phänomene sind nicht nur in der Zeit sondern auch im Raum situiert. In diesem Fall reicht der Raum über ganz Europa – dem Deutschen wird da nur eine besondere, eine besonders problematische Rolle zugewiesen.

Das Thema ist der Philhellenismus – eine im 18. Jahrhundert in Westeuropa aufgekommene Begeisterung für das antike Griechenland, die altgriechische Kultur in ihren künstlerischen, literarischen, auch religiösen Ausprägungen idealisierten. Die ersten Anfänge dieser Bewegungen rührten sich in Frankreich und England im 17. Jahrhundert, Engländer betätigten sich als Reisende und Illustratoren.

Der Norddeutsche Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) exponierte sich als erster sehr persönlich und mit schriftstellerischem Engagement für die Entdeckung und Erforschung, für die Bewunderung und Hochschätzung der griechischen Kunst – allein deren Nachahmung könne fürderhin unnachahmliche Werke möglich machen.

Er hatte großen Erfolg auch bei prominenten Zeitgenossen wie Lessing, Goethe, Schiller, Hölderlin – und eröffnete damit eine Linie, die weit ins 20. Jahrhundert hineinreicht.

Schmölders Darstellung ist durch eine äußerst eigenwillige Deutung oder vielmehr Beurteilung dieser „deutschen“ Linie angeregt worden: Eliza Marian Butler: The Tyranny of Greece over Germany: a study of the influence exercised by Greek art and poetry over the great German writers of the 18., 19. and 20. centuries. (Cambridge 1935). Butler (1885-1959) sieht in den genannten Schriftstellern und weiterhin in Nietzsche und George Santayana gewiss geniale Dichter und Denker – sie hätten sich jedoch von der Idealisierung Griechenlands blenden ja verblenden lassen, auch wenn sie, wie etwa Goethe, diesen pathologischen Zug selber erkannt und sogar in ihren Werken reflektiert haben. Hölderlin und vielleicht Nietzsche seien jedoch daran gescheitert. Zur Realitätsschwäche der genannten Dichter und Denker gehört es, dass sie ihre Griechenbegeisterung durch sorgfältige Vermeidung jedweden direkten Kontaktes mit dem Griechenland schützten.

Butlers Diagnose bleibt jedoch nicht literaturimmanent. Sie hat ihr Buch 1935 geschrieben, als bereits sichtbar wurde, dass spezifisch deutsche Formen von Genialität das Land keineswegs vor katastrophalen politischen Entwicklungen bewahrten. Die nationalsozialistische Geschichtspolitik kannte ungefähr drei unterschiedliche Vergangenheitsideale: Germanenkult, Philhellenismus, Altdeutsches Nürnberg. Hitler persönlich setzte auf die zweite Variante.

Claudia Schmölders weitet die Diagnose aus, vor allem kann sie aus dem angelsächsichen Raum eine Reihe von philhellenischen Forschern, Denkern und Dichtern namhaft machen, die krassen Realitätsverlust nicht nur vermieden haben, sondern ihm entgegenarbeiteten.

Ich greife einen Namen heraus und behaupte, dass der Hinweis auf den spanisch-amerikanischen Philosophen George Santayana (1863-1959) zu den verdienstvollsten Stücken ihres Buches zählt. Dabei lasse ich einige Buchtitel für sich sprechen.

The Sense of Beauty: Being the Outlines of Aesthetic Theory (1896); Three Philosophical Poets: Lucretius, Dante, and Goethe (1910; Egotism in German Philosophy (1915); The Realms of Being (1927-1940); Scepticism and Animal Faith (1923).

Und unser Seminar? Auffällig ist, dass ein Name aus dem alten Griechenland in dieser Philhellenischen Bewegung gar keine Rolle spielt: Aristoteles. Offensichtlich hat er sich gegen jedwede romantische Idealisierung gesperrt – und wir als hartnäckige Leser der Metaphysik können dies nachvollziehen. Würde man in die Bücher von Santayana hinschauen, so würde man sehen, dass er sich mit gewissen materialistischen und zoologischen und vielleicht aristotelischen Themen beschäftigt hat: der animalische Glaube an das, was die Sinne lehren, vermag die Skepsis zu überwinden. (Siehe unsere Erwähnung von Friedrich Wolfram: Anthropologie der Gewissheit. Ein Versuch über den Glaubensbegriff bei Aristoteles (Wien 2016) im Sommer 2016).

Claudia Schmölders breitet eine große differenzierende Übersicht aus, die überraschende Perspektiven auftut. Ich verhehle nicht, dass ich mit gewissen Philhellenen sympathisiere. Etwa mit Friedrich Kittler, der durchaus als ein extremer Vertreter gelten kann – und noch dazu gibt es bei ihm auch philosophische Schlaglichter.

Wer Philosoph ist, ist ohnehin in gewisser Hinsicht  Philhellene – das ist den beiden Wörtern abzulesen. Immerhin ist die Philosophie von Griechen erfunden worden.

Vermutlich aber auch die Philologie. Ein Artikel in der FAZ vom 30. Mai 2018 mit dem Titel „Lassen wir die Sache. Athematisches Lesen: In der Literaturwissenschaft ergreifen jetzt die Liebhaber der Philologie wieder das Wort“ gibt Anlass zu einem Klarstellungsversuch. Neulich haben wir mit den Begriffen „Ding“ und „Sache“ den Sachbezug unserer Lektüre unterstreichen wollen; der ging zuletzt in Richtung „Lebewesen“ und „Mensch“. Einen anderen Pol bildet der Charakter des Textes selbst: dieses mühselige, zuletzt stark epistemologische oder reflexive Thematisieren von sinnlich, vernünftig, Zweifel, klar, unklar, erscheinen, Schwierigkeit ...


Walter Seitter


Nächste Sitzung am 6. Juni 2018



Mittwoch, 30. Mai 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1035 b 10 – 1037 b)

In der Metaphysik (Buch VII (Z) 1035b 10 – 1037 b) lesen wir diejenige Passage, wo die (auch schon früher angedeuteten) Begriffspaare wie Konkretes Allgemeines, Teil – Ganzes, Lebewesen – Seele, früher und später nicht nur von Aristoteles ins Spiel gebracht worden sind, sondern er versucht, diese Gegenbegriffe miteinander kollidieren zu lassen oder ggf. in Einklang zu bringen.

Im ersten Schritt legt Aristoteles nahe, dass die Seele des Beseelten – d. h. die des Lebewesens – ist dem Begriff nach früher als der Körper und seine Teile. Ich verstehe diese Stelle so, dass eine Entität zuallererst über die Begrifflichkeit verfügen soll, um ihre Was-es-ist-dies-zu-sein-Seinsmodalität beantworten zu können. Denn ein Keramiker kann nicht seinen Tonkrug aus dem Ton ausformen, solange er nicht weiß, wie ein Krug seiner Form nach aussehen soll. Mit der Form eines Kruges und seiner materiellen Beschaffenheit haben wir plötzlich mit dem Begriffspaar von Konkretes – Allgemeines zu tun. Denn das Allgemeine (oder auch Abstrakte) beinhaltet das Konkrete (oder das Spezifische) in sich, weil dies eindeutig die größere Menge sein mag als die Menge des Konkreten. Gerade in diesem Sinne liest sich der folgende Satz in der sog. „Wörterbuch der Philosophie” (V. Buch) aus: „Dem Begriffe nach ist das Allgemeine früher, der Sinneswahrnehmung nach das einzelne Dinge. Dem Begriffe nach ist das Akzidens früher als das Ganze.” (Met. 1018b 30-35) Um etwas zu konkretisieren, muss man zuerst einen Begriff (Form, Idee, eidos) zur Verfügung stehen. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Man nimmt nur Objekte mit seinen Sinnesorganen wahr, die ihm gegenüber stehen (wortwörtlich Gegen-stand), aber keine Begriffe. D.h., zwar könnte man einen Begriff über die Familie haben, man trifft dennoch nie zu seinen Lebzeiten mit einem verkörperten Ausdruck der Familie, vielmehr seinen Familienmitgliedern, wie Bruder, Schwester, Vater, Mutter, etc.

Während der Körper zerlegt werden kann, bleibt aber die ousia (das Wesen) einer Sache – namens die Seele, die den Körper durchdringt oder durchwest – ist dennoch unteilbar (a-tomos) oder eines; in diesem Sinne sind die Kategorien wie Wesen und Eines miteinander eng verbunden. Bei Aristoteles haben wir dennoch mit keinem allgemeingültigen Einheitsbegriff zu tun, weil er ursprünglich ein Pluralist war, im Gegensatz zu seinem Meister Platon, der für den Monismus plädierte. Das Zusammengefaßte besteht aus zwei Teilen: Aus Lebewesen und aus Seele. Die Einheit verkörpert sich in dem Zusammenfasstsein, aber hiermit versteht sich sie als eine spezifische Einheit: Wenn aber die Seele vom Lebewesen verschieden und nicht dasselbe ist, so muß man ebenfalls – wie bereits erörtert – die einen Teile als früher, die anderen als später annehmen.” (Met. 1036a 20-25) Diese spezifische Einheit würde ich als heteronome oder differenzierende Einheit nennen, denn diese Art von Einheit hebt die Unterschiede nicht auf, sondern sie bewahrt sie auf. Dementsprechend ist eine Synthese, welche aus der Einheit des Ausgesagten (p) und seiner Negation (nicht-p) besteht, nicht zu erdenken, wie bei Hegel dies der Fall war. Platon und Hegel kommen nicht dem Einen weg, weil sie wahrscheinlich mit einer homogenisierenden Einheitsbegriff operieren oder die Grundlage ihrer Philosophien das Eine oder ein wesentliches Element bildet und nicht mehrere (darin bin ich mir aber nicht sicher).

Der Mensch ist aus Fleisch, Knochen – oder wie die deutsche Redewendung sagt, aus Fleisch und Haut – und derartigen Teilen zusammengesetzt. Vergessen wir nicht sinngemäß die Seele, die ein inherent-integraler Bestandteil des Menschen ist, obwohl sie nicht sehbar ist. Diese Körperteile sind dennoch nicht Teile der Form oder des Begriffes, sondern des Stoffes. In dem Menschen manifestiert sich wohl diese differenzierende Einheit von Aristoteles: Diese Einheit ist aus verschiedenen Teilen zusammengestellt, bleibt aber der Mensch auf die Unteilbarkeit verwiesen. Denn eine Zerstückelung des Menschen wäre mit der Aufhebung seiner Einheit identisch. Der Mensch ist also kein Werk; der Mensch ist weder im begrifflichen noch im perzeptionellen Sinne ein automaton. Wäre der Mensch ein von sich selbst bewegendes Wesen, so könnte man es stets zerlegen und zusammenbasteln, wie man dies mit einem ideellen perpetuum mobile (im perzeptionellen Sinne) tun würde. Und er brächte dann auch keine Nahrung, keinen Sauerstoff; er würde dann nicht über das Gehirn und das Herzen verfügen, die bei ihm als Triebfedern fungieren. Aber das ist nicht der Fall. Könnte man den Menschen idealiter demontieren, d. h. seine Körperteile zerlegen, ohne sein Wesen verletzt oder eliminiert zu werden, so wäre der Mensch als Maschine im begrifflichen Sinne denkbar. Aber davon ist immer noch gar nicht die Rede. 

Bibliographie: Aristoteles: Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie. Übersetzt von Franz F. Schwarz. Stuttgart: Reclam 1970.

Ármin Tillmann
Sitzung vom 22. Mai 2018


Nächste Sitzung am 30. Mai 2018

Montag, 21. Mai 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1035b 34 – 1036a 14)


Zunächst kurze Erörterung der Unterscheidung zwischen Sache und Ding: Sache sei ein weiterer Begriff, der auch verallgemeinerbar sei; so ist nach WS ein Bild ein Ding, die Malerei aber könne als Sache bezeichnet werden. WK weist in diesem Zusammenhang auf die wichtige Unterscheidung zwischen Sache und Tatsache hin: Sache hat immer auch  einen Wert (ist ein „Gut“), während eine Tatsache eine „beweisbare“ Sache bzw. ein Sachverhalt sei.
So oder so geht es bei Aristoteles  im Buch VII immer um den Begriff „Wesen“: zunächst was es eigentlich ist, dann um die Frage der Entstehung und nun eben um die Abgrenzung zwischen Teil und Ganzem. Teile des Ganzen aber gibt es gemäß dem gelesenen Absatz sowohl von der Form als auch vom Stoff und vom Kompositum Form und Stoff. Das bedeutet zunächst einmal einfach, dass Teile wichtig sind, WS: „Körper sind vielteilige Wesen“, man kann sie als „gegliederte Ausdehnung“ sehen.
Dann aber geht es auch um die Frage der Möglichkeit, Teile definieren zu können. Nach Aristoteles ist dies beim Konkreten nicht möglich, dieses könne vielmehr nur „durch Denken oder Sinneswahrnehmung erkannt“ werden. Denn definieren kann man nur Allgemeines (WS: individuum = ineffabile). Kann man Teile der Form definieren? Ja, durch nähere Bestimmung von Art und Gattung (Genus und Spezies) oder auch Gattung + spezifischer Differenz. Den Stoff kann man allgemein nicht definieren, sondern nur  bestimmten Stoff (etwa Holz als „Festkörper die in bestimmten Pflanzen vorkommen“).

Abschließend Diskussion um „Was heißt Definition?“ am Beispiel „Wahrheit“: mögliche Definition als „Aussage, die übereinstimmt mit der Wirklichkeit“. Dies wäre die Korrespondenzdefinition. Andere Zugänge wären: Konsensdefinition:  Wahrheit wäre eine Aussage, die von mindestens  zwei  Menschen als richtig angesehen wird.  Letztlich die Kohärenzdefinition“ als übereinstimmende Aussagen einer Person. Im letzten Grunde sind und bleiben aber Definitionen immer „formulierte Konventionen“ (WS), die daher immer auch schon in Frage gestellt werden können. Solches In-Frage-Stellen wird bei manchen Menschen (durchaus auch Philosophen) zum Prinzip erhoben nach dem Motto „Hauptsache man widerspricht“ - das verspricht zumindest einmal (heutzutage wohl v.a.: mediale) Aufmerksamkeit.

Persönliche Anmerkung: Wenn Aristoteles sagt, dass es unklar sei, ob das Konkrete noch ist oder nicht ist „wenn es aus der Vollendung austritt‘“ (être in accomplissement, sagt Sichère), scheint mir dies ein Verweis auf die Zeitlichkeit jedes Körper-Seins zu sein, mit deutlicher Präferenz für die Gegenwart („Da bin ich mir sicher“).

Gerhard Weinberger

Sitzung vom 16. Mai 2018


Nächste Sitzung am 23. Mai 2018

Freitag, 11. Mai 2018

Weisheit und Wunder

»Die Wunderkraft ist eine selbständige Macht für sich und nicht die Macht der Weisheit, und ebenso umgekehrt ist die Macht der Weisheit nicht die Macht der Wunderkraft; denn die Macht der Weisheit ist die stille, geräuschlose Macht der Intelligenz, aber die Wundermacht eine Macht, die nur sinnlichen Effekt und Eklat macht. Beide widersprechen sich von Grund aus: Die Weisheit imponiert der Vernunft, aber das Wunder nur den Sinnen; die Weisheit gibt zu denken, aber das Wunder nur zu schauen; die Weisheit erleuchtet, das Wunder benebelt den Verstand; die Wirkung der Weisheit ist Erkenntnis, die Wirkung des Wunders verblüfftes Staunen; die Weisheit verwandelt wie Orpheus Steine in Menschen, aber das Wunder Menschen in Steine; die Weisheit macht frei, aber das Wunder macht Knechte der Furcht und des Schreckens« (Feuerbach, Über das Wunder, 1839).

Für Feuerbach ist der einfache Mensch »unvernünftig«, »wundersüchtig«; die Vernunft ist zu schlicht und zu einfach für ihn. Im Lehrgespräch des Sokrates mit Theaitetos hingegen bildet das Wunder keinen Gegensatz zur Vernunft. Dort ist gerade das Staunen über die eigenen Beschränktheit der Ausgangspunkt des Philosophierens. Die Erschütterung von Gewissheiten, der Schwindel durch den philosophischen Relationismus, wird zum eigentlichen Wunder, das auch keiner besonderen Weisheit bedarf, sondern nur einer Pädeutik, bei der der Lehrende selbst den Eklat der unbenebelten Verstandestätigkeit durchschritten hat. So ungefähr verstehe ich Weisheitsverzicht.



Wolfgang Koch, 10. Mai 2018

Donnerstag, 10. Mai 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1035b 19 – 26)


Im Anschluß an den letzten Diskussionspunkt versuchen wir den aristotelischen Begriff der „Wissenschaft“ zu klären – basierend auf dem einschlägigen Artikel in dem schon  öfter genannten Aristoteles-Lexikon von O. Höffe. Der Artikel stammt von Wolfgang Detel, dem Verfasser der ausgezeichneten Einführung Aristoteles (Leipzig 2005).

Wissenschaft ist Wissen von einer Sache mit der Kenntnis von Ursachen – wobei der Begriff „Ursache“ mißverständlich ist. Man könnte auch sagen: mit der Kenntnis der Bestandteile, der Teile, der Eigenschaften.

Wie kommt man zu so einer Kenntnis? Durch Wahrnehmung, Erinnerung, Erfahrung, Forschung,  Faktensammlung.

Soweit die betrachtenden Methoden. Übergang zu den beweisenden Vorgangsweisen, in denen nicht mehr die Sachen sondern Sätze im Vordergrund stehen (die aber immer noch auf Sachen bezogen sind), Definitionen, Hypothesen, Axiome, Beweisführungen, Widerlegungen.

Im Buch I der Metaphysik, in denen es um die „gesuchte Wissenschaft“ geht, wird folgende Stufung des Wissens vorgeführt: Wahrnehmung, Erinnerung, Erfahrung, Phantasie, Kunst – zunächst die ausübende, dann die leitende, das ist auch die lehrende. Die Kunstlehre ist die erste Stufe der Wissenschaft, da sie auch die Ursachen anzugeben weiß.

Die drei großen Richtungen der Wissenschaft sind die eben genannte

Poietische Wissenschaften. Wissenschaft von der und zu der menschlichen Herstellung erwünschter Dinge, nützlicher und schöner Dinge: Gesundheit, Häuser, Gedichte, Kleider.

Dann die praktischen Wissenschaften – nämlich diejenigen von und zu menschlichem Verhalten, richtigem Verhalten, richtigem und weniger richtigem Handeln. Ethik und Politik und Ökonomik.

In diesen Wissenschaften geht es auch um wahre Aussagen – aber sie zielen darüber hinaus auf etwas anderes: Herstellen und Handeln.

Schließlich die theoretischen Wissenschaften, die nur auf Wahrheit zielen:

a – Physik: Wissenschaft von den bewegten und gesonderten Sachen, d. h. von den Körpern. Von den Körpern mitsamt den Seelen – denn alle Körper sind qualifizierte Körper. Qualifiziert sind sie durch Seelen oder so etwas Ähnliches wie Seelen: Wesenheiten, Artbestimmungen. Auch die Menschen gehören dazu, sofern sie Wesen sind und Wesen haben.  Ihr kontingentes Herstellen und Handeln ist Sache der zuvor genannten Wissenschaften.

b – Mathematik: Wissenschaft von den unbewegten und ungesonderten Entitäten. An diesen Wissenschaften lässt sich der Übergang vom sinnlichen Sehen zu einem anderen Sehen feststellen. Das andere Sehen ist Einsicht, Betrachtung.

Soll man sagen: Denken - ?

Wolfgang Koch bringt eine Definition des Denkens von Ludwig Feuerbach: „nur erweitertes, auf Entferntes, Abwesendes ausgedehntes Empfinden; ein Empfinden dessen, was nicht wirklich, eigentlich empfunden wird; ein Sehen dessen, was nicht gesehen wird.“ (Nachgelassene Aphorismen, 1c)

Ich selber verbinde mit „Denken“ weniger so ein erweitertes Sehen, sondern eher eine innere Sprechtätigkeit, hin und her überlegen, herumsuchen, probehandeln.

c – Erste Philosophie. Die teilt sich in zwei Richtungen.

α Theologie: Wissenschaft von dem, was unbewegt und gesondert ist.

β Ontologie: Wissenschaft   von den allgemeinen Bestimmungen aller Entitäten.

Dieser Wissenschaftszweig β  wird in Buch IV ausführlich begründet. Und zwar gemäß der obigen Unterscheidung auf zwei Ebenen.

Ebene der Betrachtung: es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende als seiendes betrachtet: Abschnitt 1 und 2. Diese Ontologie-Begründung nenne ich die assertorische.

Ebene der Beweisführung bzw. der unmöglichen Beweisführung und daher widerlegenden Aufweisung des allgemeinsten Axioms, des sichersten Prinzips: elenktische Ontologie-Begründung. (Die Verweigerer dieses Prinzips werden zu „Pflanzen“ degradiert.)

Wolfgang Koch vermutet zurecht, dass auch die theoretischen Wissenschaften, auch c, also die höchste,  selber „poietischen“ Charakter haben müssen – denn sie existieren nur, wenn sie „gemacht“: gedacht, gesprochen, geschrieben werden.

Und so wie in Buch I von Gott als Inhaber und Gegenstand des höchsten Wissens die Rede ist, kann man den Eindruck nicht von der Hand weisen, dass in der aristotelischen Theologie die Grenze von der theoretischen Wissenschaft zur praktischen überschritten wird: denn der Gott ist das Gute. (Immanuel Kant hat die Theologie, die philosophische, entschieden aus der theoretischen Vernunft in die praktische umgesiedelt).

Im Buch I läuft das, was später Erste Philosophie genannt wird, zunächst unter „gesuchte Wissenschaft“ und dann wird es mit „Weisheit“ identifiziert – einem älteren griechischen Erbstück (das allerdings durch die Sophisten in Verruf gebracht worden ist). Beide Bezeichnungen werden fallengelassen. Im Buch II taucht „Wissenschaft von der Wahrheit“ als Leitbegriff auf.

Es zeigt sich, dass für Aristoteles der Begriff „Wissenschaft“ die gesamte Landschaft seiner Tätigkeit umreißt, markiert und gliedert.

Der Titel „Philosophie“ wird dann fallweise bestimmten Wissesnchaftstypen sozusagen ehrenhalber verliehen.

Wir fragen uns, wie „Wahrheit“ definiert werden kann – von uns.

Und wie „Weisheit“. Sophia Panteliadou macht einen Anfang mit: „ein bestimmtes menschliches Tun, Bemühen, das ...“.

Die Grenze zwischen theoretischem und praktischem Wissen wird von Aristoteles auch in der Nikomachischen Ethik überschritten: dort werden Kunst, Wissenschaft, Klugheit, Weisheit und Vernunft (nous) als „dianoetische Tugenden“ analysiert (Nik. Eth. 1138b ff.)


Walter Seitter

Sitzung vom 9. Mai 2018


Nächste Sitzung am 16. Mai 2018