Extraprotokoll vom 30. Mai 2018
Ich möchte auf eine Neuerscheinung aufmerksam machen, die
zu unserem Seminar keinen direkten Sachbezug aufweist – aber es lässt sich
einer herstellen.
Claudia Schmölders (Berlin) hat das Buch Faust
& Helena. Eine deutsch-griechische Faszinationsgeschichte (Berlin 2018)
vorgelegt. Ein Werk der Kulturgeschichte und wie man ergänzen muss der
„Kulturgeographie“. Eine Ergänzung, die man wohl bei den meisten derartigen
Werken anbringen müsste – denn alle kulturellen Phänomene sind nicht nur in der
Zeit sondern auch im Raum situiert. In diesem Fall reicht der Raum über ganz
Europa – dem Deutschen wird da nur eine besondere, eine besonders
problematische Rolle zugewiesen.
Das Thema ist der Philhellenismus – eine im 18. Jahrhundert
in Westeuropa aufgekommene Begeisterung für das antike Griechenland, die
altgriechische Kultur in ihren künstlerischen, literarischen, auch religiösen
Ausprägungen idealisierten. Die ersten Anfänge dieser Bewegungen rührten sich
in Frankreich und England im 17. Jahrhundert, Engländer betätigten sich als
Reisende und Illustratoren.
Der Norddeutsche Johann Joachim Winckelmann (1717-1768)
exponierte sich als erster sehr persönlich und mit schriftstellerischem
Engagement für die Entdeckung und Erforschung, für die Bewunderung und
Hochschätzung der griechischen Kunst – allein deren Nachahmung könne fürderhin
unnachahmliche Werke möglich machen.
Er hatte großen Erfolg auch bei prominenten Zeitgenossen
wie Lessing, Goethe, Schiller, Hölderlin – und eröffnete damit eine Linie, die
weit ins 20. Jahrhundert hineinreicht.
Schmölders Darstellung ist durch eine äußerst eigenwillige
Deutung oder vielmehr Beurteilung dieser „deutschen“ Linie angeregt
worden: Eliza Marian Butler: The Tyranny of Greece over Germany: a
study of the influence exercised by Greek art and poetry over the great German
writers of the 18., 19. and 20. centuries. (Cambridge 1935). Butler
(1885-1959) sieht in den genannten Schriftstellern und weiterhin in Nietzsche
und George Santayana gewiss geniale Dichter und Denker – sie hätten sich jedoch
von der Idealisierung Griechenlands blenden ja verblenden lassen, auch wenn
sie, wie etwa Goethe, diesen pathologischen Zug selber erkannt und sogar in
ihren Werken reflektiert haben. Hölderlin und vielleicht Nietzsche seien jedoch
daran gescheitert. Zur Realitätsschwäche der genannten Dichter und Denker
gehört es, dass sie ihre Griechenbegeisterung durch sorgfältige Vermeidung
jedweden direkten Kontaktes mit dem Griechenland schützten.
Butlers Diagnose bleibt jedoch nicht literaturimmanent.
Sie hat ihr Buch 1935 geschrieben, als bereits sichtbar wurde, dass spezifisch
deutsche Formen von Genialität das Land keineswegs vor katastrophalen
politischen Entwicklungen bewahrten. Die nationalsozialistische Geschichtspolitik
kannte ungefähr drei unterschiedliche Vergangenheitsideale: Germanenkult,
Philhellenismus, Altdeutsches Nürnberg. Hitler persönlich setzte auf die zweite
Variante.
Claudia Schmölders weitet die Diagnose aus, vor allem kann
sie aus dem angelsächsichen Raum eine Reihe von philhellenischen Forschern,
Denkern und Dichtern namhaft machen, die krassen Realitätsverlust nicht nur
vermieden haben, sondern ihm entgegenarbeiteten.
Ich greife einen Namen heraus und behaupte, dass der
Hinweis auf den spanisch-amerikanischen Philosophen George Santayana
(1863-1959) zu den verdienstvollsten Stücken ihres Buches zählt. Dabei lasse
ich einige Buchtitel für sich sprechen.
The Sense of Beauty: Being the Outlines of Aesthetic
Theory (1896); Three Philosophical Poets: Lucretius, Dante, and
Goethe (1910; Egotism in German Philosophy (1915); The
Realms of Being (1927-1940); Scepticism and Animal Faith (1923).
Und unser Seminar? Auffällig ist, dass ein Name aus
dem alten Griechenland in dieser Philhellenischen Bewegung gar keine Rolle
spielt: Aristoteles. Offensichtlich hat er sich gegen jedwede romantische
Idealisierung gesperrt – und wir als hartnäckige Leser der Metaphysik
können dies nachvollziehen. Würde man in die Bücher von Santayana hinschauen,
so würde man sehen, dass er sich mit gewissen materialistischen und
zoologischen und vielleicht aristotelischen Themen beschäftigt hat: der
animalische Glaube an das, was die Sinne lehren, vermag die Skepsis zu
überwinden. (Siehe unsere Erwähnung von Friedrich Wolfram: Anthropologie
der Gewissheit. Ein Versuch über den Glaubensbegriff bei Aristoteles (Wien
2016) im Sommer 2016).
Claudia Schmölders breitet eine große differenzierende
Übersicht aus, die überraschende Perspektiven auftut. Ich verhehle nicht, dass
ich mit gewissen Philhellenen sympathisiere. Etwa mit Friedrich Kittler, der
durchaus als ein extremer Vertreter gelten kann – und noch dazu gibt es bei ihm
auch philosophische Schlaglichter.
Wer Philosoph ist, ist ohnehin in gewisser Hinsicht
Philhellene – das ist den beiden Wörtern abzulesen. Immerhin ist die
Philosophie von Griechen erfunden worden.
Vermutlich aber auch die Philologie. Ein Artikel in der
FAZ vom 30. Mai 2018 mit dem Titel „Lassen wir die Sache. Athematisches Lesen:
In der Literaturwissenschaft ergreifen jetzt die Liebhaber der Philologie
wieder das Wort“ gibt Anlass zu einem Klarstellungsversuch. Neulich haben wir
mit den Begriffen „Ding“ und „Sache“ den Sachbezug unserer Lektüre
unterstreichen wollen; der ging zuletzt in Richtung „Lebewesen“ und „Mensch“.
Einen anderen Pol bildet der Charakter des Textes selbst: dieses mühselige,
zuletzt stark epistemologische oder reflexive Thematisieren von sinnlich,
vernünftig, Zweifel, klar, unklar, erscheinen, Schwierigkeit ...
Walter Seitter
Nächste Sitzung am 6. Juni 2018