17.
November 2021
Zum
Vorschlag von Rainer Marten, die Philosophie als Tätigkeit von der Wissenschaft
auf die Kunst umzupolen, das heißt sie eher als eine Kunst - zusätzlich zu den
anderen Künsten – denn als eine Wissenschaft (und sei es als die höchste der
Wissenschaften) aufzufassen und zu praktizieren, ist Wolfgang Koch zufolge im
wesentlichen von Heidegger, der Denken und Dichten zusammenrückt, inspiriert
und sie bedeute kaum einen umwälzenden Bruch für die Philosophie. Denn es könne
ohnehin jeder Philosophierende seinen Stil suchen und finden. In Martens Buch
über den Tod sei keine signifikante Wendung zu einem eher der Kunst
nahestehenden Modus des Philosophierens wahrzunehmen. Wolfgang Koch meint,
Martens Vorschlag würde paradoxerweise letztlich darauf hinauslaufen, die Kunst
der Philosophie unterzuordnen.
Natürlich
kann man in dieser Problematik auch an Nietzsche denken, der allerdings mit den
Artisten eher niedrige und spielerische Könnerschaften auf den Schild gehoben
hat. Marten bezieht aber auch „praktische“ (im Sinne von Aristoteles und Kant)
Bedingungen und Elemente der Philosophie in seine Betrachtung ein: so den
„Anti-Nihilismus“, der wie jeder Ismus eine Option bezeichnet, eine fundamental-ethische
und -politische Option für das Erkennen von etwas, also eine
„erkenntnispolitische“ Option. Man muß sie aber nicht mit dem Vokabular der
Nietzsche-Aufgeregtheit benennen. Aristoteles-Leser sprechen seit Jahrtausenden
mit neo-aristotelischen Begriffen, wie „Metaphysik“, „Ontologie“ – und hier
könnte man das Wort „Ontophilie“ einsetzen und damit der zentralen Tugend der
Freundschaft einen weiteren Horizont zuweisen: den Horizont der „onta“, die in
der heute zu lesenden Passage gleich auftreten werden.
Mir
ist das Wort „Ontophilie“ zugefallen, aber ob ich als allererster oder gar
einziger es hingeschrieben habe, dem mögen Historiker nachforschen (denn dazu
sind sie da). Die Sache selbst ist natürlich auch von anderen längst gesehen
und gesagt worden, etwa mit dem Ausdruck „Wissenschaftler-Ethos“ oder von
Michel Foucault mit dem feststellenden Bekenntnis zu einem „glücklichen
Positivismus“.
Ganz
anders und viel weitläufiger ist die Sache von Aristoteles thematisiert worden
– und zwar in der Nikomachischen Ethik unter dem Stichwort
„Dianoetische Tugenden“. Diese ergänzen die besser bekannten „Ethischen
Tugenden“, indem sie die kognitiven Kräfte aktivieren helfen und darüber hinaus
den Weg zur höchsten Lebensform, zur vita contemplativa, bereiten.
Sie gehen also über die hier gemeinte ethische Bedingung des Wissens weit
hinaus.
Um
das Wort „Ontophilie“ zu einem Begriff zu machen, könnte man es in
unterschiedlichen Dimensionen differenzieren – etwa Auto- und Hetero- und
Allophilie . . .
Tatsache
ist, daß Aristoteles im letzten Abschnitt von Buch XII (1075b 8 – 19) die
Aussagen bzw. das Aussagen anderer Philosophen innerhalb weniger Zeilen fünfmal
als „poiein“ also „machen“ bezeichnet, womit er selber mit größter
Deutlichkeit die Korrektur vollzieht, die ich seit längerem für angemessen
halte, nämlich das Theoretische dem Poietischen anzunähern.
Sodann
formuliert Aristoteles in dichter Reihenfolge mindestens sieben nach seiner
Ansicht in die Irre gehende kosmologische, mathematische, ontologische
Ansichten, die von „allen Theologen und Physikern“ vertreten werden und die
sich daraus ergeben, daß jene die richtige Lehre, die von dem einen und
einzigen Prinzip, das oben als „Gott“ bezeichnet worden ist, wohlgemerkt
einem einzigen Prinzip auf der Ebene der Erstheit (welche einer Vielzahl von
Ebenen mit vielen Prinzipien und Ursachen zugrundeliegt). So eine pauschale
Kritik, beinahe Feinderklärung vonseiten Aristoteles‘ darf uns natürlich
wundern und ich vermute, sie hat mit der erwähnten „praktischen“ Dimension der
Philosophie zu tun.
Wir
berühren diese Dimension, indem wir anscheinend bloß eine Übersetzungsfrage
erörtern, ob nämlich, wie Wolfgang Koch meint, das Erste Prinzip, das
Aristoteles nach langem Ontologisieren im Buch XII endlich zu finden behauptet
und begrifflich ziemlich reichlich charakterisiert, im Deutschen am besten mit
dem Wort „das Absolute“ wiederzugeben ist - wie das Adolf Lasson (1832- 1917)
in seiner Übersetzung der Metaphysik getan hat. Ich halte
dieses Wort für eine schlechte Lösung der Übersetzungsfrage, weil es die etwas
chaotische Vielbegrifflichkeit, mit der Aristoteles jenes Prinzip, obwohl es
strikt nur eines sein soll, umkleidet und verunklärt, mit einem Schlag
aufzuheben beansprucht. Das Wort mag die Sache „auf den Punkt“ bringen – und
genau damit deckt es sie - jetzt sage auch ich - mit „absoluter“ Leere zu.
Wolfgang Koch hat das schwache semantische Profil dieses Wortes erfaßt, wenn er
sagt, es suggeriere eine Koinzidenz von Seiendem und Nichts und erfülle damit das
aristotelische Postulat eines „Letzten“, dem kein Gegenteil gegenübersteht.
Tatsächlich steht dem Ersten Prinzip, Unbewegten Bewegenden, Höchsten Gut usw.
kein gleichrangiges Gegenteil gegenüber, auf seiner Ebene steht ihm nichts
gegenüber, aber nicht das sogenannte Nichts, und noch dazu so ein raffiniertes,
daß es mit dem Seienden irgendwie - man weiß nicht wie – eins ist, sondern nur
nichts. Ob die sogenannte Unentscheidbarkeit zwischen Seiendem und Nichts mit
Berufung auf Hegel oder auf Asien begründet werden kann, das ist egal (es würde
nur zeigen, daß bestimmte Behauptungen überall auftreten können, und sie treten
nur auf, wenn sie gemacht werden).
Der
Schlußsatz ist ein Doppelsatz:
Die
Dinge aber wollen nicht schlecht beherrscht werden.
„Vielherrschaft
ist nicht gut; einer sei Herrscher.“
Schon
die erste Hälfte des ersten Satzes läßt das Herz eines Aristoteles-Lesenden
höher schlagen, aber nur wenn es das Herz (nach Aristoteles der somatische
Grund hinter den Wahrnehmungsorganen) eines Sehend-Lesenden ist (was wohl
voraussetzt, daß es das Sehen hier und jetzt gibt und nicht bloß in einem
„Paradies“, das weit zurückliegt oder vielleicht bevorsteht).
„Die
Dinge aber wollen nicht ..“
Mein
Grazer Übersetzer macht nicht den Fehler der vorliegenden deutschen
Übersetzungen, daß er den Plural „die Dinge“ durch irgendeinen Singular
ersetzt. Meine langjährige Übersetzer-Tätigkeit hat mich gelehrt, daß ein
Erbfehler der deutschen Sprache die Singularitis ist. Ein Singular, der nicht
schlecht beherrscht werden will? So etwas kann es nur in Berlin geben. Auch das
Absolute, das deutsche Absolute, ist eine Berliner Erfindung. Es sind Dinge,
alle möglichen Dinge, in diesem Fall wohl die Leute, die wollen das nicht.
Beinahe ein Anflug von Animismus steckt in diesem Satz. Eine Vielheit von
Wollenden bzw. von Nicht-Wollenden. Was wollen sie nicht? Schlecht regiert
werden? Da hat auch mein Übersetzer die aristotelische Wortwahl, die
aristotelische Begriffspolitik (eine Unterabteilung der Erkenntnispolitik) zu
wenig beachtet. Denn Aristoteles wählt den Begriff der postaristokratischen
Politik, nämlich der staatsbürgerlichen. Staatsbürgerliche Vereinbarung,
Regelung, Ordnung. Die kann bekanntlich auch oder zumeist einen
verantwortlichen Entscheidungsträger brauchen und herbeirufen.
Und
dann das Homer-Zitat, das hier als erste, nämlich früheste Autorität angeführt
wird. Früheste Autorisisierung aus aristokratischen Zeiten, die eine
vorpolitische Bezeichnung für Herrscher einsetzt, die Franz F. Schwarz
ebenfalls nicht genau getroffen hat. Denn sie leitet sich von „kyr(i)os“ ab –
also von Kraft, Macht, Ansehen. [1]
Ich
entnehme mein Übersetzungswissen dem aus dem Jahr 1855 und aus Innsbruck
stammenden Schulwörterbuch, mit dem auch Peter Handke arbeitet. Der ist zwar
Dichter, aber wenn er übersetzt und nicht nur dann, ist er auf Wissenschaft
angewiesen. Und Wissenschaft gibt es nur, wenn sie nicht von einem
sogenannten Absoluten überherrscht, überblendet, geblendet wird.
Wolfgang
Koch versucht, nachzuweisen, daß „das Absolute“ nicht erst im frühen 19.
Jahrhundert von einigen Absolventen des Tübinger Stifts als philosophischer
Terminus für ein Erstes Prinzip kreiert worden ist, sondern daß es auf eine
lange und ehrwürdige Tradition zurückgehe. Etwa bei Spinoza. Bei Spinoza, der
übrigebns für das, was ich „Ontophilie“ nenne, den „amor fati“ empfohlen hat,
ist das erste Prinzip gerade nichts Abgetrenntes, sondern ganz im Gegenteil
nennt er es „Deus sive natura“. Doch die christliche Theologie, die Rolle des
Papstes und das Regierungsverständnis des Absolutismus waren starke
Schubkräfte, die dann sogar in der Philosophie, die von Haus aus eher nicht auf
einer absolutistischen Linie liegt, „dem Absoluten“ zu einigen Durchbrüchen
verholfen haben – aber nur bei einigen „größten“ Philosophen und keineswegs bei
vielen gewöhnlichen Philosophen wie Bernard Bolzano, John Stuart Mill, Robert
Zimmermann, Franz Brentano, Edmund Husserl, Helmuth Plessner, Nicolai Hartmann.
Und
Aristoteles? Gewiß gibt es bei ihm den Begriff, der als direkter Vorläufer von
„absolut“ gelten kann: „abgetrennt“. Auch das „unbewegte Bewegende“ ist ein
abgetrenntes Wesen – so wie jedwedes Wesen, wie zum Beispiel ich und du und so
weiter.
Was
es bei Aristoteles nicht gibt, ist „das Abgetrennte“. Und dies, obwohl auch
Aristoteles dem Begriffstrick folgt, der die Philosophie mitkonstituiert hat:
die Substantivierung des dritten Geschlechts. Da man auch in der Philosophie
genießen darf und sogar soll, sollte man sich diese Sexualakrobatik auf der
Zunge zergehen lassen (Gott sei Dank darf man das auch in Zeiten wie diesen):
Substantivierung des dritten Geschlechts. Parmenides, Platon haben das
vorgemacht, wie man statt „der Schönen“ und „dem Stärksten“ nun den Leuten „das
Schöne“ und „das Gute“ vorredet und damit „Philosophie“ macht. Aber so eine
vielleicht notwendige formalistische Distinktionsbezeichnung wie „abgetrennt“
zu etwas philosophisch Grandiosem aufblasen – das hat man erst im 19.
Jahrhundert mit dem lateinischen Wort gemacht.
Wobei
ich nicht verschweigen will, daß Aristoteles, indem er „das Seiend(e)“ zum
Grundwort der Ontologie gemacht hat, auch der genannten Sexualakrobatik
ziemlich freien Lauf gelassen hat. Aber das Seiende als solches ist bei ihm
nichts Überragendes, kein Prinzip, keine Ursache oder so. Da ich kein
Aristoteliker bin sondern nur ein Aristoteles-Leser (und auch das erst seit dem
Jahr 2007), muß ich dieses „Seiende“ überhaupt nicht großartig oder dergleichen
finden, ich nehme es zur Kenntnis und versuche zu verstehen, wieso Aristoteles
so ein Wort (das allerdings im Griechischen stärker beheimatet ist als im
Deutschen) dermaßen – auswalzt ist nicht das richtige Wort, aber als
unverzichtbare Münze immer wieder neu prägt und in Umlauf hält.
Immerhin:
„das Abgetrennte“ gibt es bei Aristoteles nicht. Davor bewahrt ihn – wie
Spinoza vor „dem Absoluten“ – sein Geschmack in Sachen Begriffsästhetik.
Walter
Seitter
[1] Der amerikanische Übersetzer Joe Sachs macht zu
dem Homer-Zitat die Anmerkung: „Odysseus macht aus dem Haufen der achäischen
Krieger ein geordnetes Heer. Ähnlich der göttliche Intellekt, der nicht der
Schöpfer der Dinge oder der Welt ist, sondern sie in ihre Dinglichkeit oder
Welthaftigkeit bringt.“ (252)