τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Sonntag, 28. Mai 2017

In der Metaphysik lesen: Platons Ideenlehre und François Jullien

Platon hat die Ideen seiner „Ideenlehre“ eigentlich für sichtbar gehalten – idea heißt gerade „Sicht“; ja für Höhepunkte der Sichtbarkeit, wie überhaupt für Höhepunkte. Um eine anschauliche Vorstellung davon zu geben, bezeichne ich sie als diamantene Statuen – also stehen im Ideenhimmel eine Menschenstatue aus Diamant, eine Pferdestatue aus Diamant und so weiter. Die Frage, ob Platon auch für das Gehen eine Idee ins Auge oder zumindest in die Sprache gefasst hat, muß wohl negativ beantwortet werden.

Die Annahme von real existierenden und nicht menschengemachten Ideen für deskriptive Entitäten scheint mir überhaupt kaum nachvollziehbar zu sein. Natürlich ist sie auch für solche Qualitäten wie das Wahre, Schöne, Gute nicht leicht zu plausibilisieren, denn diese „Ideen“ sind in der Kulturgeschichte vielfach anzutreffen. Näherhin in der Philosophiegeschichte, die Trias der Begriffe dürfte im 18. Jahrhundert so formuliert worden sein, ob nun in Deutschland oder anderswo. Als menschliche Produkte, Erfindungen, Vorschläge, Programme sind sie sicher einzuordnen. Als unabhängig existierende Normen lassen sie sich nur schwer auf eine bestimmte Seinsweise festlegen und eine anschauliche Vorstellung von ihnen fällt mir gar nicht ein.

Also hat auch so eine „spezielle Ideenlehre“ für mich eher etwas Unwahrscheinliches, wenngleich Verlockendes und ich würde sagen: etwas politisch Nützliches, beinahe Notwendiges.

Umso erstaunlicher, dass François Jullien in seinem keineswegs platonisch orientierten Buch Vivre en existant. Une nouvelle Éthique (Paris 2016) dem platonischen Wahren und Schönen doch eine Funktion zugesteht – und zwar als Momente oder Impulse, die zur Veränderung dieser Welt antreiben können (siehe 201ff.).
Eine gar nicht platonische Erklärung würde die „Idee“ des Guten auf die primäre, gar auf die pränatale Mutter-Kind-Beziehung zurückführen, in der so etwas Urvertrauen erfahren und gelebt, geschenkt und angenommen wird. Und sie kann sogar „platonisch“ interpretiert werden: wenn das Gute, das vom Embryo erlebt wird, auf einen ihm übergeordneten, ihm nicht zur Gänze bekannten Akteur zurückgeführt wird. Allerdings geht diese Deutung schon eher in die Richtung des Religiösen.

Jullien geht vom Begriff „leben“ aus (ich übernehme die französische Kleinschreibung, um das Substantiv „Leben“ fernzuhalten) und reformuliert ihn als Widerstand gegen den Tod (Bichat). Und er greift auf den von Erwin Schrödinger (und Léon Brillouin) entwickelten Begriff der „Negentropie“ zurück: jene Umkehrung der Entropie, deren Ergebnisse unwahrscheinliche Ordnungen wie auch die biologischen sind).[1] Leben erweist sich als ein Prozeß, den man nicht als durchgehendes homogenes Sein beschreiben kann, sondern als Hin und Her von Anspannung und Entspannung, Hinausgehen über bloßes Sein, ständige bzw. unständige Veränderung, Versuch und Irrtum, Kampf gegen ein Negatives, das eigentlich ein Positives ist: ein „Negaktives“. Und dafür setzt er dann das seit langem bekannte Wort „existieren“ – dessen Präfix ex er in Richtung Aufbruch, Ekstase, Abenteuer deutet. Damit skizziert er eine Ontologie, die gerade nicht als „Ontologie“ bezeichnet wird – denn mit der „Existenz“ soll das „Sein“ verabschiedet werden, das für volles Sein, totale Präsenz steht – in Wirklichkeit jedoch nur so ein niedriges Sein wie das Stein-Sein abbildet.

Der traditionelle Seinsbegriff stehe für ein vom Wesen geprägtes Sein und verfehle gerade damit die doch relativ hohe Seinsweise des Lebewesens - so Jullien. Philosophiehistorisch hat sich das Existieren schon vor Sören Kierkegaard (der als Begründer der „Existenzphilosophie“ gilt) neben das Sein gestellt und die Kontingenz zu seinem Hauptmerkmal gemacht. Rémi Brague hat diese Geschichte bereits im Zusammenhang mit der Leibniz-Frage thematisiert und er greift historisch noch viel weiter zurück: der persische Philosoph Avicenna hat im 11. Jahrhundert Essenz und Existenz unterschieden und letztere als etwas Hinzukommendes betrachtet, was der arabische Philosoph Averroës im 12. Jahrhundert mit dem aristotelischen Begriff „Akzidens“ übersetzt hat.[2]

Und damit würde sich dieses Existieren vom aristotelischen Sein, das sich am Wesen als erster Kategorie orientiert, ziemlich weit entfernt haben. Vor dieser seit dem Mittelalter wirksamen Übersetzungs- und Deutungstendenz liegen jedoch die Bücher V und VI der Metaphysik, die auf unterschiedliche Weise bei Aristoteles selber den Sinn von Sein zum Akzidenziellen hin verschieben: Buch V mit seiner minimalen Berücksichtigung des Wesens (eigentlich nur im Abschnitt 8) und seinen vielen Ausführungen zu akzidenziellen Bestimmungen (und mit der Erhebung von „verstümmelt“ zu einem hochrangigen Begriff). Buch VI mit seiner ausführlichen Eingehen auf die Akzidenzien (entgegen deren sehr niedriger wissenschaftstheoretischer Einstufung).

Die faktische Akzidenzialisierung des Seienden in V und VI verfolgt keine bestimmte inhaltliche Richtung, es sei denn man würde die Alltäglichkeit als eine solche bezeichnen. Immerhin kann das Beispiel der Verstümmelung auf die Resistenz gegen die Vernichtung bezogen werden, die in diesem Fall gerade noch vermieden worden ist.

Jullien erwähnt, dass die Phänome des Lebens nur beschrieben werden können, wenn man das von Aristoteles aufgestellte Erste Prinzip, den Satz vom ausgeschlossenen Selbstwiderspruch, nicht befolgt. Und Bernd Schmeikal zitiert dazu den Schlusssatz von Platons Dialog Parmenides: „das Eine ... ist es selbst und das Andere, wie es sich zeigt, sowohl im Verhältnis zu sich selbst wie zueinander ... und ist es auch wieder nicht, und erscheint als alles dies und erscheint auch wieder nicht so.“ (166c 5).

Jullien selber formuliert nicht so grobmaschig; es geht ihm nicht darum, dem Denkgebot einfach zu widersprechen. Zwar beruft er sich auf Levinas’ Motto, das den Verzicht auf Kategorien nahelegt, wenn die Begegnung mit dem anderen nicht verfehlt werden soll. Aber er bemüht sich, das „widersprüchliche“ Phänomen Leben differenzierend, mit neuen Kategorien, mit durchaus harten oder aber mit geschmeidigen, notfalls auch mit Wortschöpfungen wie „negaktiv“ zu beschreiben. Er findet, daß die Sprache der Literatur, der französischen Roman-Literatur des 19. Jahrhunderts, die geeignetste sei, solchen Phänomenen wie Begegnung, Gegnerschaft, Landschaft nahezukommen. Haben nicht auch wir gemeint, wo die Akzidenzien überwiegen, sei die Stunde der Dichtung gekommen?



---------------------
[1] Siehe Erwin Schrödinger: Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen eines Physikers betrachtet (Bern 1946): 107ff. Ich entnehme Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), dass lange vor Schrödinger der negative Zusammenhang zwischen Organismus und Entropie mit dem sehr passenden Begriff der „Ektropie“ gefasst worden ist; siehe Georg Hirth: Die Ektropie der Keimsysteme (München 1900); Felix Auerbach: Ektropismus oder die physikalische Theorie des Lebens (Leipzig 1910).

[2] Siehe Rémi Brague: op. cit.: 45. 


Walter Seitter

Sitzung vom 24. Mai 2017

Donnerstag, 25. Mai 2017

Wer oder was ist das Selbst anderes als jener vage verbindende Eindruck...?


Nach einem freundlichen Gespräch in einem Wiener Café hatte er mir seine letzten beiden Protokolle ans Herz gelegt. Sie gehörten zu einem seiner schönen wöchentlich stattfindenden Seminare. Die Protokollantin, eine vorbildliche Philosophin, war wohl außer Dienst. Er gab damit einen Impuls für ein Gespräch von uns dreien über das Wahre, Gute und Schöne und alle jene besonderen Qualitäten, die sich dem Denken entziehen und in Ruhe und Besonnenheit eher eröffnen, als in Analysen. Er erwähnte Platon, der den Menschen eine gemeinsame Form zugeschrieben habe und diese verbindliche Form nannte er eine Idee und sprach ihr einen hohen Rang zu. Ein anderer, mittlerweile gut bekannter archaischer Denker, der sich von all dem und seinen alten Lehrern mit viel Mühe abzugrenzen versucht hatte, habe dafür die ironische Bezeichnung „das Selbstmensch“ erfunden.

Wer sind wir? Wer oder was ist das Selbst anderes als jener vage verbindende Eindruck, den uns das Bündel von Erinnerungen und Vorstellungen hinterlässt, das uns vor sich her durchs Leben schiebt? Das Ich ist seine eigene Konstruktion, unser Selbst jene Melodie, die sich zwischen den Tönen und Untertönen der Gedanken auftut und ins Ewige zu klingen vorgibt. Da ist kein Ich, kein stabiles retinoides Gesicht. Da ist kein Selbstmensch. Es ist ohne Bedeutung, zu sagen, ich hätte dies und jenes gesagt oder verstanden, er habe entgegnet, ein anderer habe gesagt, das Wahre und Schöne sei an das Verklingen der Gedanken gebunden. Es ist gesagt. Der Sager ist in Wahrheit entwurzelt.

Man wies darauf hin, die Wahrnehmung von Schönem und Wahrheit sei keine Eigenschaft, sondern die Relation, eine ungestörte, totale Verbindung zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenom­menem. Auch das sei schon gesagt worden, und der es sagte habe seine Zuhörer einerseits in den Mutterleib zurückbeordert und andererseits nach draußen in die Ewigkeit befördert. Den meisten von uns sind diese Gedankenwelten der ‚besonders geformten‘ Menschen ein Gräuel. Wir fürchten uns vor dieser Wahrheit. Denn sie ist kein Objekt, sondern eine ‚für uns alle überhaupt‘ verbindliche Beziehung. Er beleuchtete die verschiedensten Seiten des ‚Platonisierens‘ und wir glaubten dessen politische Bedeutung anklingen zu hören.

Einer von uns war Diplomat, sehr gelehrt und Botschafter zwischen mehreren Kontinenten. Er verstand Chinesisch in Schrift und Sprache, stellte aber klar, nicht Sinologe zu sein.  Er hatte sich mit einem von uns soeben in einer Erörterung der altgriechischen Bedeutung von ‚Sicht‘ und ‚Gesicht‘ befunden, als ihm dazu das Werk eines lebenden französischen Philosophen und Sinologen einfiel. Er wolle dessen Schrift gerne übersetzen.  Jener hatte an einer der besten Hochschulen Europas studiert und im Fach Ostasiatische Studien promoviert. Danach sei er Präsident einer  internationalen offenen Akademie geworden, jener ENS Ulm, wie man sie kurz nannte. Sie war von Jacques Derrida und anderen Zelebritäten der Philosophie gegründet worden. Wir kamen auf die Schrift eines Physikers über das Leben zu sprechen, auf Negentropie und ‚Ektropie‘. -  So schwierig unser Seminar auch gewesen sein mochte, es entbehrte nicht einer gewissen Toleranz und Herzlichkeit. Die drei hatten über Offenheit nicht nur gesprochen, sondern sie praktiziert.

Wir verabschiedeten uns,- nicht ohne den Tod Christi erwähnt zu haben. Der eine blieb zu Hause, einer ging zum Aufzug, der Dritte lief die Treppen hinunter. Mit einem Mal waren Offenheit und Familiarität verschwunden. Ewigkeit und Selbstlosigkeit hatten sich in Luft aufgelöst. Jeder ging wieder seinen eigenen Dingen nach. Philosophie als Parmenideische Praxis erwies sich als soziologisch gefährlich und nicht umsetzbar. Warum eigentlich? Im Aufzug fuhr die philosophische Atempause ins angeblich Gewisse einer gefährlichen, nicht philosophischen, zur Entkörperung neigenden Welt.


Bernd Anton Schmeikal  

   

Donnerstag, 18. Mai 2017

In der Metaphysik lesen (Buch VI (E), 1027b 17 – 1028a 5)

Wir lesen den letzten Abschnitt des Buches VI, der thematisch eine andere Richtung einschlägt: wahr und falsch sind Eigenschaften von Begriffszusammensetzungen, also von Aussagen. Sie liegen nicht in den Sachen und folglich gibt es kein „wahres Seiendes“ im Sinne einer eigenen Gattung von Seienden – etwa „das Gute, das wahr“, „das Schlechte, das falsch“ wäre. Hier spielt Aristoteles auf das an, was man die platonische Ideenlehre nennt; jedenfalls auf eine Klischeevorstellung davon, der gemäß alles, was sich auf der Welt abspielt, zum Beispiel wahre bzw. falsche Aussagen, irgendwo anders ein Pendant hat, das aus Sachen besteht.

Aristoteles hat die platonische Ideenlehre im Ersten Buch ausführlich dargestellt und kritisiert: Platon würde den konkreten Menschen (wie er selber einer war oder eben irgendeiner namens Kallias) eine allgemeine, eine gemeinsame Form zuschreiben – und zwar zurecht. Doch würde er dieser Form, die er „Idee“ nennt, eine gesonderte Existenz zusprechen und einen höheren Rang; Aristoteles erfindet dafür die ironische Bezeichnung „das Selbstmensch“ – das sei laut Platon das Urbild, von dem die hiesigen Menschen nur Abbilder und zwar schwächere Abbilder seien. Und wenn ein Bildhauer eine Porträtbüste von Kallias anfertige, dann sei diese Büste des Kallias – laut Platon – ein noch schwächerer Mensch (eben nur aus Holz). Das Verhältnis Urbild-Abbild setze sich in der Kunst fort – und dagegen formuliert Aristoteles die Behauptung, die im 20. Jahrhundert nach Christus vom belgischen Maler René Magritte mit dem Schrift-Bild Dies ist keine Pfeife wiederholt worden ist: das Porträt ist zwar ein Abbild, aber kein Mensch und kein schwächerer Mensch. Sondern ein Bildwerk – und vielleicht ein sehr gutes.

Für solche Dinge wie Menschen, Pflanzen, vielleicht auch Häuser, brauche es keine entsprechenden Urbilder, die in einem Ideenhimmel existieren. Diese platonische Ideenlehre sei irreführend und überflüssig.

Und jetzt komme ich auf das Buch II, in der griechischen Zählung Buch klein alpha, zurück, zu dem mich die eben gelesene Abweisung eines „wahren Guten“ oder eines „falschen Schlechten“ führt:

Das Buch beginnt mit der „Betrachtung der Wahrheit“ und statuiert dann, „es sei richtig, die Philosophie Wissenschaft (von) der Wahrheit zu nennen“ (993b 20). Die Wahrheit als mögliche Eigenschaft jeder Aussage sowie als Ziel der theoretischen Wissenschaften wird jetzt auch als Gegenstand der höchsten theoretischen Wissenschaft gesetzt: als solcher Gegenstand hat sie eine eigene Drehung durchgemacht und sie verleiht dieser Wissenschaft eine Richtung oder Kurvierung und präzisiert das Profil, das ihr Aristoteles bereits zugesprochen hat.

Die Art und Weise, in der Aristoteles hier die „Wahrheit“ einführt, nämlich als existenzielle Schwierigkeit sowie Chance und als „Ursache“ für die vielen Wahrheiten in den Wissenschaften und anderswo, hat einen platonischen Duktus und verleitet mich zur Annahme, man könne die bekannten Gegensätze zwischen Platon und Aristoteles an dieser Stelle relativieren und den platonischen Ideen des Guten und des Schönen diese aristotelische Positionierung der Wahrheit an die Seite stellen – und so die im 18. Jahrhundert formulierte Trias des „Wahren, Schönen, Guten“ philosophisch zu plausibilisieren versuchen.[1]

Es handelt sich nicht um Urbilder für irdische Wesen, sondern um Qualitäten, die normativen, imperativen Charakter haben, Qualitäten, die Maßstäbe sein können für menschliche Verhaltensweisen und Leistungen (sogar für nicht-menschliche Eigenschaften und Verhalten). Und die intelligibel sind – also beschreibbar, analysierbar, diskutierbar, also wissenschaftsfähig. Viel eher diskutierbar und nachvollziehbar als irgendwelche Annahmen von Gottheiten, auch philosophische Gottesvorstellungen.

Obwohl ich den platonischen Begriff „Idee“ nicht für sehr brauchbar halte („Ideal“ wäre schon besser), sondern eher Bezeichnungen wie „normative Eigenschaften“, „imperative Qualitäten“ vorziehe, könnte man vielleicht zur philosophiehistorischen Einordnung zwischen „allgemeiner und spezieller Ideenlehre“ unterscheiden: nur die spezielle, welche die genannten Qualitäten heraushebt, halte ich für vertretbar – und sogar für wichtig im Sinne der Orientierung menschlicher Einstellungen. Die Religionen leisten dafür viel zu wenig (wenn überhaupt).

Partieller Platonismus – bei Aristoteles?


---------------------

[1] Siehe Gerhard Kurz: Das Wahre, Schöne, Gute. Aufstieg, Fall und Fortbestehen einer Trias (München 2015). Wesentlich für den Charakter dieser Qualitäten: ihren jeweiligen Negationen (unwahr, hässlich, böse) kommt keine vergleichbare Stellung zu; dazu Hannah Arendt: Sokrates. Apologie der Pluralität (Berlin 2016): 105.



Walter Seitter

Sitzung vom 17. Mai 2017

Donnerstag, 11. Mai 2017

In der Metaphysik lesen: Gedanken über die Aristoteles-Rezeption

Im letzten Protokoll habe ich zum einen geschrieben, das Sterben sei das Akzidens par excellence, und zum andern, Aristoteles habe sich dazu kaum geäußert. Wolfgang Koch sagt nun, Aristoteles habe in den naturwissenschaftlichen Schriften das Sterben der Tiere behandelt, wo die Lebensprozesse durch Nahrung und Atmung, Wärmung und Kühlung bestimmt seien und da sei der Tod eher als ein Verlöschen beschrieben worden. Nun würde ich sagen, dass die naturwissenschaftlichen Ausführungen des Aristoteles auf einer anderen Ebene liegen als seine ontologischen Bestimmungen: bei diesen geht es um Seinsmodalitäten, die allen Seienden zukommen, während jene sich jeweils auf einen Realitätsbereich mit seiner Eigengesetzlichkeit beziehen (im speziellen Fall auf die Organismen). Die Seinsmodalitäten Entstehen und Vergehen haben eine allgemeinere Tragweite und für den Menschen definieren sie seine individuelle und soziale und geschichtliche Existenz, auch für das Kunstwerk könnte man die Kategorien zwischen Ding und Ereignis in Anschlag bringen. Die Verstümmelung wird von Aristoteles sowohl für den Becher wie für den Menschen als mögliches Schicksal in Erwägung gezogen – obwohl die beiden natürlich unterschiedlichen Realitätsbereichen angehören. Ontologie einerseits und Physik, Zoologie, Poetik oder Ethik andererseits liegen auf unterschiedlichen Ebenen. Diese Regionaldisziplinen haben sich bis in die moderne Wissenschaftskultur durchgehalten, die Ontologie hingegen bildet eine aristotelische Spezialität, und es ist die Frage, ob wir sie überhaupt für sinnvoll halten. Ich würde sagen: sinnvoll ja – aber nicht als Fundament sondern als Supplement.

Da die Kleinen naturwissenschaftlichen Schriften (Parva naturalia) des Aristoteles von dem Wiener Professor Eugen Dönt herausgegeben worden sind (Stuttgart 1997), kommen wir darauf zu sprechen, wie sich die Aristoteles-Tradition an der Wiener Universität darstellt. Seit ihrer Gründung im Jahre 1365 war da die Aristoteles-Lektüre vorgeschrieben – was nicht heißt, dass sie zu schöpferischem Philosophieren angeregt hat. Darüber berichte ich in dem Aufsatz „The Mathematical-Poetic Renaissance in Austria (Johannes von Gmunden, Georg von Peuerbach, Regiomontanus, Conrad Celtis)“, in: Czech and Slovak Journal of Humanities. Philosophica 1/2016. Und das hat sich bis ins frühe 19. Jahrhundert auch gehalten – so sehr, dass ein Student wie der spätere Dichter Franz Grillparzer zu persönlicher Aristoteles-Lektüre animiert war.

Allerdings ist die Philosophie als eigenes Studienfach erst im Jahre 1848 eingeführt worden, im Zuge einer Studienreform, die indirekt von einem der allerersten österreichischen Philosophen, dem Böhmen Bernard Bolzano (1781-1848) inspiriert war (der allerdings zu Lebzeiten regierungsamtlich nur unterdrückt gewesen war). Im Zuge dieser Reform ist Hermann Bonitz (1814-1888) aus Berlin berufen worden, ein Aristoteles-Forscher, dessen Übersetzungen bis heute in Gebrauch sind. Aus dem Bolzano-Milieu und aus Böhmen stammte Robert Zimmermann (1824-1898), 1861 als Philosoph nach Wien berufen. Aus Deutschland wurde 1873 Franz Brentano (1838-1917) berufen, ein philosophischer Aristoteles-Spezialist, der als Lehrer große Wirkung hatte, die bis an den Wiener Kreis heranführt, aber auch Sigmund Freud und Edmund Husserl und Thomas Masaryk geprägt hat sowie den polnischen Logiker Alfred Tarski. Brentanos Dissertation Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (Freiburg 1862) hat den jungen Heidegger auf die Aristoteles-Spur geführt.

Im 20. Jahrhundert ist für Wien Fridolin Wiplinger (1932-1974) zu nennen und sein großes Buch Physis u. Logos. Zum Körperphänomen in seiner Bedeutung für den Ursprung der Metaphysik bei Aristoteles (Freiburg /München/Wien 1971). Eugen Dönt sagte mir im Vorjahr, Wiplingers Buch sei interessant aber unlesbar. Für Sagen und Sehen (Wien 2017) schrieb er einen Aufsatz, der das Unlesbare ein bisschen aufschließt.


Und im selben Band hat der Platon-Forscher Wilhelm Schwabe unter dem Titel Platon, Aristoteles einige Mails aus dem Kontext dieses mittwöchigen Aristoteles-Seminars abgedruckt, die zwischen ihm und mir ausgetauscht worden sind.


Walter Seitter

Sitzung vom 10. Mai 2017

Samstag, 6. Mai 2017

In der Metaphysik lesen: Geschichte(n) über Philosophen, Akzidenzien und das Sterben

Sophia Panteliadou berichtet von einem Kunstprojekt, das sich mit dem Gehen beschäftigt, und wir stellen die Frage, ob diesem Thema auch Philosophen nahegetreten sind. Aristoteles kann hier indirekt genannt werden, insofern seine Athener Schule unter dem Namen „Peripatetiker“ gelaufen ist: Hin- und Hergeher. Wie Gerhard Weinberger vermerkt, ist diese Bezeichnung dann in der weiblichen Form „péripateciennes“ für die (weiblichen) Prostituierten üblich geworden. Womit die Prostituierten gewissermaßen zu Aristotelikerinnen ernannt worden sind – meines Erachtens kein Sakrileg. Andererseits ist Aristoteles im späten Mittelalter in die Rolle eines Reittiers für die schöne Hofdame Phyllis hineinfabuliert worden – womit dem Philosophen eine zusätzliche Bewegungstechnik, vor allem aber eine leidenschaftliche Verirrung nachgesagt worden ist.

Wolfgang Koch stellt zwei sehr kurze Erzählungen (Parabeln) aus dem 20. Jahrhundert vor – von Marcel Béalu und von Daniil Charms. Beide handeln lakonisch von merkwürdigen Begebenheiten, in denen „Substanzen“ (Menschen, eventuell Statuetten) und „Akzidenzien“ (Anfertigung der Statuetten, Vorbeikommen der Leute, eventuell Wegwerfen der Statuetten, Serie von unfreiwilligen Fensterstürzen) aufeinander prallen – womit ich eigentlich jetzt den Akzidenzien den Vorrang eingeräumt habe. Das tut auch Wittgenstein, wenn er sagt „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Tatsächlich besteht die Welt aus Substanzen und Akzidenzien und die Rolle der letzteren unterstreicht der Maler Siegward Sprotte mit der Inschrift: „Wenn der Zufall abnimmt, nimmt der Abfall zu." Es gehört zu einer gewissen Qualität des Lebens, dass nicht alles reglementiert, geplant abläuft; das heißt, dass nicht einige Substanzen oder gar nur eine allmachtsartig alles festlegt. Und natürlich wird die Lebensqualität dadurch bestimmt, wie die Akzidenzien „ausfallen“. 

Dagmar Travner komponiert aus den aristotelischen Akzidenzienerwähnungen in V, 30 und VI, 1, 2, 3 eine kleine Geschichte aus Wetterkapriolen, Menschen, Eigenschaften, Heilungen, Tod durch Gewalt, glücklichen und unglücklichen Zufällen.

Und die Akzidenzien beschränken sich nicht auf die seltenen Ereignisse, wie das Aristoteles in VI, 2 definitorisch festlegt. Sie sind sehr wohl auch mit Notwendigkeit versehen. Disjunktiv in der Form, dass man in der konkreten Situtation entweder stirbt oder nicht (1027b 6), schlechterdings in dem Sinn, dass ein Lebewesen irgendwann sterben muß (1027b 9). Daher definierten die vorphilosophischen Griechen die Menschen als die „Sterblichen“ (und nicht etwa als die „Vernünftigen“).

Denn das Sterben ist ein Akzidens – ja das Akzidens par excellence. Es tritt gewissermaßen niemals ein – das ist für mich meine Erfahrung seit über 75 Jahren (allerdings habe ich im Alter von zehn Jahren das Sterben in einem Traum tatsächlich erlebt). Aber irgendwann dürfte oder müsste es eintreten – doch bitte nicht heute oder morgen oder überhaupt ....

Unter welches der neun „offiziellen“ Akzidenzien wird man das Sterben subsumieren können? Vielleicht unter paschein – also leiden, erleiden, affiziert werden. Aber Aristoteles scheint sich nicht dafür zu interessieren, das Sterben „theoretisch“ einzuordnen. Vielleicht kommt er ihm dort am nächsten, wo er der Verstümmelung einen prominenten Platz innerhalb der theoretischen Begriffe zuweist und sie von der tödlichen Privation genau unterscheidet. Auch der Begriff der phthora (Vernichtung) könnte hier genannt werden.

Im selben Abschnitt 27 von Buch V erklärt Aristoteles sogar, dass das Akzidens „Lage“ gewissen Dingen „nach ihrem Wesen“ zukommt (1024a 19). So wie ich behaupte, daß das Akzidens Farbe allen Körpern notwendig zukommt.

Aristoteles hat betont, dass es keine Wissenschaft vom Akzidens gibt und es wird wohl so sein, dass es jetzt keine Wissenschaft gibt, die mein Sterben im Detail voraussehen, ableiten, analysieren kann. Aber dass das Wissen vom Sterben wissenschaftlich vorangetrieben werden kann, möchte ich nicht ausschließen – nicht nur medizinisch, sondern philosophisch vielleicht in einer praktischen Wissenschaft, die zu mehr Weisheit führt. Es sei denn, dass so eine Wissenschaft vor Jahrtausenden oder Jahrhunderten bereits versucht worden ist.

Wie schon erwähnt hat Aristoteles in der Poetik den Akzidenzien viel mehr Gewicht zugemessen als in seinen anderen Schriften – da geht es eben um Geschichten: literarische, die ihrerseits existenzielle nachbilden. Selbst für die Geschichte der Philosophie lässt sich ein geradezu unfallartiger Zufall sozusagen prominent anführen. Als erster Philosoph gilt nämlich Thales von Milet. Doch die Episode, die ihn zu einem Philosophen gemacht hat, setzt voraus, dass er vorher schon Mathematiker und Naturforscher war. Eines Nachts so vor sich hin gehend, den Blick zu den Sternen erhoben, fiel er in einen Brunnen. Und eine witzige reizende Magd verspottete ihn: „Er strenge sich an, die Dinge im Himmel zu erkennen, von dem aber, was ihm vor Augen und vor den Füßen liege, habe er keine Ahnung.“ Dieser peinliche Vorfall und Kommentar könnte Thales über die Wissenschaft aufgeklärt und ihn zum Philosophen gemacht haben. Unfall und Begegnung sind die beiden extremen Bedeutungspole von „Akzidens“.

Aristoteles schwankt stark in seinen theoretischen Einschätzungen der Akzidenzien. Zwar unterscheidet er sich von seinen theoretischen Vorgängern dadurch, dass er ihnen überhaupt einen ontologischen Status zugewiesen hat – anstatt sie als „eigentlich unwirklich“ abzutun. Doch kann er sich nur schwerlich darauf verständigen, ihren Platz in seiner Wissenschaft, in seinen Wissenschaften kohärent zu bestimmen. Sie werden eine Achillesferse künftiger Aristotelismen bilden.



Walter Seitter

Sitzung vom 3. Mai 2017