Nach einem freundlichen Gespräch in einem Wiener Café hatte er mir seine
letzten beiden Protokolle ans Herz gelegt. Sie gehörten zu einem seiner schönen
wöchentlich stattfindenden Seminare. Die Protokollantin, eine vorbildliche
Philosophin, war wohl außer Dienst. Er gab damit einen Impuls für ein Gespräch
von uns dreien über das Wahre, Gute und Schöne und alle jene besonderen
Qualitäten, die sich dem Denken entziehen und in Ruhe und Besonnenheit eher
eröffnen, als in Analysen. Er erwähnte Platon, der den Menschen eine gemeinsame
Form zugeschrieben habe und diese verbindliche Form nannte er eine Idee und
sprach ihr einen hohen Rang zu. Ein anderer, mittlerweile gut bekannter
archaischer Denker, der sich von all dem und seinen alten Lehrern mit viel Mühe
abzugrenzen versucht hatte, habe dafür die ironische Bezeichnung „das
Selbstmensch“ erfunden.
Wer sind wir? Wer oder was ist das Selbst anderes als jener vage
verbindende Eindruck, den uns das Bündel von Erinnerungen und Vorstellungen
hinterlässt, das uns vor sich her durchs Leben schiebt? Das Ich ist seine
eigene Konstruktion, unser Selbst jene Melodie, die sich zwischen den Tönen und
Untertönen der Gedanken auftut und ins Ewige zu klingen vorgibt. Da ist kein
Ich, kein stabiles retinoides Gesicht. Da ist kein Selbstmensch. Es ist ohne
Bedeutung, zu sagen, ich hätte dies und jenes gesagt oder verstanden, er habe
entgegnet, ein anderer habe gesagt, das Wahre und Schöne sei an das Verklingen
der Gedanken gebunden. Es ist gesagt. Der Sager ist in Wahrheit entwurzelt.
Man wies darauf hin, die Wahrnehmung von Schönem und Wahrheit sei keine
Eigenschaft, sondern die Relation, eine ungestörte, totale Verbindung zwischen
Wahrnehmendem und Wahrgenommenem. Auch das sei schon gesagt worden, und der es
sagte habe seine Zuhörer einerseits in den Mutterleib zurückbeordert und
andererseits nach draußen in die Ewigkeit befördert. Den meisten von uns sind
diese Gedankenwelten der ‚besonders geformten‘ Menschen ein Gräuel. Wir
fürchten uns vor dieser Wahrheit. Denn sie ist kein Objekt, sondern eine ‚für
uns alle überhaupt‘ verbindliche Beziehung. Er beleuchtete die verschiedensten
Seiten des ‚Platonisierens‘ und wir glaubten dessen politische Bedeutung anklingen
zu hören.
Einer von uns war
Diplomat, sehr gelehrt und Botschafter zwischen mehreren Kontinenten. Er verstand
Chinesisch in Schrift und Sprache, stellte aber klar, nicht Sinologe zu sein. Er hatte sich mit einem von uns soeben in
einer Erörterung der altgriechischen Bedeutung von ‚Sicht‘ und ‚Gesicht‘
befunden, als ihm dazu das Werk eines lebenden französischen Philosophen und
Sinologen einfiel. Er wolle dessen Schrift gerne übersetzen. Jener hatte an einer der besten Hochschulen
Europas studiert und im Fach
Ostasiatische Studien promoviert. Danach sei er Präsident einer internationalen offenen Akademie geworden, jener
ENS Ulm, wie man sie kurz nannte. Sie
war von Jacques Derrida und
anderen Zelebritäten der Philosophie gegründet worden. Wir kamen auf die
Schrift eines Physikers über das Leben zu sprechen, auf Negentropie und ‚Ektropie‘.
- So schwierig unser Seminar auch
gewesen sein mochte, es entbehrte nicht einer gewissen Toleranz und
Herzlichkeit. Die drei hatten über Offenheit nicht nur gesprochen, sondern sie
praktiziert.
Wir verabschiedeten
uns,- nicht ohne den Tod Christi erwähnt zu haben. Der eine blieb zu Hause,
einer ging zum Aufzug, der Dritte lief die Treppen hinunter. Mit einem Mal
waren Offenheit und Familiarität verschwunden. Ewigkeit und Selbstlosigkeit
hatten sich in Luft aufgelöst. Jeder ging wieder seinen eigenen Dingen nach.
Philosophie als Parmenideische Praxis erwies sich als soziologisch gefährlich und nicht
umsetzbar. Warum eigentlich? Im Aufzug fuhr die philosophische Atempause ins angeblich
Gewisse einer gefährlichen, nicht philosophischen, zur Entkörperung neigenden
Welt.
Bernd Anton Schmeikal
Bernd Anton Schmeikal
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