τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 25. Mai 2017

Wer oder was ist das Selbst anderes als jener vage verbindende Eindruck...?


Nach einem freundlichen Gespräch in einem Wiener Café hatte er mir seine letzten beiden Protokolle ans Herz gelegt. Sie gehörten zu einem seiner schönen wöchentlich stattfindenden Seminare. Die Protokollantin, eine vorbildliche Philosophin, war wohl außer Dienst. Er gab damit einen Impuls für ein Gespräch von uns dreien über das Wahre, Gute und Schöne und alle jene besonderen Qualitäten, die sich dem Denken entziehen und in Ruhe und Besonnenheit eher eröffnen, als in Analysen. Er erwähnte Platon, der den Menschen eine gemeinsame Form zugeschrieben habe und diese verbindliche Form nannte er eine Idee und sprach ihr einen hohen Rang zu. Ein anderer, mittlerweile gut bekannter archaischer Denker, der sich von all dem und seinen alten Lehrern mit viel Mühe abzugrenzen versucht hatte, habe dafür die ironische Bezeichnung „das Selbstmensch“ erfunden.

Wer sind wir? Wer oder was ist das Selbst anderes als jener vage verbindende Eindruck, den uns das Bündel von Erinnerungen und Vorstellungen hinterlässt, das uns vor sich her durchs Leben schiebt? Das Ich ist seine eigene Konstruktion, unser Selbst jene Melodie, die sich zwischen den Tönen und Untertönen der Gedanken auftut und ins Ewige zu klingen vorgibt. Da ist kein Ich, kein stabiles retinoides Gesicht. Da ist kein Selbstmensch. Es ist ohne Bedeutung, zu sagen, ich hätte dies und jenes gesagt oder verstanden, er habe entgegnet, ein anderer habe gesagt, das Wahre und Schöne sei an das Verklingen der Gedanken gebunden. Es ist gesagt. Der Sager ist in Wahrheit entwurzelt.

Man wies darauf hin, die Wahrnehmung von Schönem und Wahrheit sei keine Eigenschaft, sondern die Relation, eine ungestörte, totale Verbindung zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenom­menem. Auch das sei schon gesagt worden, und der es sagte habe seine Zuhörer einerseits in den Mutterleib zurückbeordert und andererseits nach draußen in die Ewigkeit befördert. Den meisten von uns sind diese Gedankenwelten der ‚besonders geformten‘ Menschen ein Gräuel. Wir fürchten uns vor dieser Wahrheit. Denn sie ist kein Objekt, sondern eine ‚für uns alle überhaupt‘ verbindliche Beziehung. Er beleuchtete die verschiedensten Seiten des ‚Platonisierens‘ und wir glaubten dessen politische Bedeutung anklingen zu hören.

Einer von uns war Diplomat, sehr gelehrt und Botschafter zwischen mehreren Kontinenten. Er verstand Chinesisch in Schrift und Sprache, stellte aber klar, nicht Sinologe zu sein.  Er hatte sich mit einem von uns soeben in einer Erörterung der altgriechischen Bedeutung von ‚Sicht‘ und ‚Gesicht‘ befunden, als ihm dazu das Werk eines lebenden französischen Philosophen und Sinologen einfiel. Er wolle dessen Schrift gerne übersetzen.  Jener hatte an einer der besten Hochschulen Europas studiert und im Fach Ostasiatische Studien promoviert. Danach sei er Präsident einer  internationalen offenen Akademie geworden, jener ENS Ulm, wie man sie kurz nannte. Sie war von Jacques Derrida und anderen Zelebritäten der Philosophie gegründet worden. Wir kamen auf die Schrift eines Physikers über das Leben zu sprechen, auf Negentropie und ‚Ektropie‘. -  So schwierig unser Seminar auch gewesen sein mochte, es entbehrte nicht einer gewissen Toleranz und Herzlichkeit. Die drei hatten über Offenheit nicht nur gesprochen, sondern sie praktiziert.

Wir verabschiedeten uns,- nicht ohne den Tod Christi erwähnt zu haben. Der eine blieb zu Hause, einer ging zum Aufzug, der Dritte lief die Treppen hinunter. Mit einem Mal waren Offenheit und Familiarität verschwunden. Ewigkeit und Selbstlosigkeit hatten sich in Luft aufgelöst. Jeder ging wieder seinen eigenen Dingen nach. Philosophie als Parmenideische Praxis erwies sich als soziologisch gefährlich und nicht umsetzbar. Warum eigentlich? Im Aufzug fuhr die philosophische Atempause ins angeblich Gewisse einer gefährlichen, nicht philosophischen, zur Entkörperung neigenden Welt.


Bernd Anton Schmeikal  

   

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