τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 24. Februar 2021

In der Metaphysik lesen (1070b 22 – 1071a 3)

Nun unterscheidet Aristoteles von den innewohnenden Ursachen die äußeren wie das Bewegende oder aber das Stillstellende (also die Privation des ersten), wobei er die beiden nun auch als Prinzipien bezeichnet. Das Stillstellen (oder gar Stilllegen, das momentan als radikale Version der Klinik, also des Hinlegens, um sich greift)[1] als „eigene“ Ursache (sogar als eigenes Prinzip) zu bezeichnen, verdient besondere Aufmerksamkeit.

Die drei Begriffe Ursache, Prinzip, Element, die ich oben mit dem Akronym UPE zusammengeschrieben habe, lassen sich zwar voneinander unterscheiden, aber fallweise auf ein und dasselbe anwenden. Auch die früher schon eingeführte Unterscheidung zwischen den vier Ursachensorten, die synchron am Werk sind, gliedert den komplexen Sachverhalt; aber anstatt der Privation führt sie die Zielursache ein.

Gesundheit, Krankheit und Körper entsprechen den oben genannten drei Prinzipien; dazu kommt die Heilkunst als bewegende Ursache. Für das Ding namens Haus heißen die drei Prinzipien Form, diese bestimmte Unordnung da, die Ziegel; und die bewegende Ursache ist die Baukunst, die oben als Form geführt worden ist. Und der Form steht jetzt eine bestimmte Unordnung (nämlich der Ziegel) gegenüber – welche aber sehr wohl auch eine bestimmte Anordnung der Ziegel, etwa eine für den Transport günstige Stapelung, sein kann.

 

Alle diese verschiedenen „Ursachen“ werden von Aristoteles als „letzte“ Ursachen betrachtet, da sie ihren Wirkungen, ihren Resultaten, sehr nahestehen. Die Ursachen, sowohl die natürlichen wie auch die künstlichen, sind selber Sachen oder Sachverhalte – wie auch ihre Wirkungen. Und diese Wirkungen, also die Häuser, die Kinder mit ihren Gesundheits- oder Krankheitszuständen, werden ihrerseits zu Verursachern folgender Generationen von Menschen, Häusern und dergleichen.

Manche Mitglieder früherer Generationen, zum Beispiel Menschen aus früheren Jahrhunderten, sind nicht schlicht und einfach verschwunden sondern haben eine partielle Unsterblichkeit erreicht, wie das Aristoteles mit seinem Zitat aus De anima präzise andeutet, indem da überdurchschnittlich viel „Vernunft“ am Werk ist, seien es die besonderen Talente jener verstorbenen Menschen (wie ebenfalls Aristoteles im Buch II gemeint hat) oder aber beziehungsweise auch die Erinnerung, die Begeisterung, die Überlieferungsarbeit, die Denkarbeit folgender Generationen, wie wir beispielsweise auch an unserer eigenen Aristoteles-Lektüre sehen beziehungsweise wie wir da selber als Folgen und als Urheber agieren.

Diachrone und synchrone Kollegen. Die Generationen aus Urhebern und Epigonen, aus epigonalen und vielleicht dennoch genialen, d. h. generierenden Menschen, Schriften, Bauwerken bilden die vielen „borromäischen“ Ketten aus mehr oder weniger selbständigen, oftmals widerspenstigen Akteuren.

Wenn man alle diese Wesen und ihre Zustände und Bewegungen als ein „Ganzes“ betrachtet, spricht man vom „All“. So im zweiten Satz von Buch XII – 1069a 19.

Wenn man jedoch den totalisierenden Blick vermeidet, jedenfalls zurücknimmt, dann muß man den letzten kleinen Satz von Abschnitt 4 anders übersetzen als alle, nein, als fast alle Übersetzer.

Der meinige schreibt: „Weiter gibt es neben alledem noch das, was als Erstes von allem alles bewegt.“ (1071a 34f.)

Also dreimal „alles“ – das Neutrum Singular, das im Wort „All“, seine eigene Wort-Form gefunden hat. Hier aber dreimal fehl am Platz ist: denn zuerst heißt es: neben diesen (Dingen) da ist da noch ...

Mit den „diese da“ ist das große Sammelsurium aus Ursachen und Sachen, Sachverhalten und Elementen gemeint, das ich noch ein bisschen ausgemalt habe.

Und der Satz sagt dann, dass etwas als erstes „von allen (Dingen) alle (Dinge)“ bewegt; als erstes von allen überhaupt bewegt es alle überhaupt; sowohl seine Erstheit wie auch seine transitive Leistung bezieht sich auf sämtliche Gegebenheiten, Phänomene und so weiter.

Sagt man für „alle“ einfach „alles“, so trifft man wohl den äußeren Gesamtumfang, den auch das Wort „All“ bezeichnet, man verfehlt jedoch, ja man unterschlägt die „innere“ Pluralität, Multität oder Multiplizität dieser aller. Diese alle bilden den pluralsten Plural, der möglich ist, da er ja alle und alle einzelnen umfaßt – aber nicht zu einer großen Einheit zusammenfasst oder gar zusammenschmilzt.

Will man sie zusammenfassen, so kann man Begriffe wie „All“, „Kosmos“, „Universum“, oder eben „Welt“ verwenden. Will man die Zusammenfassung, die Vereinheitlichung eher vermeiden, will man eher die lose als die feste Koppelung (Fritz Heider) im Auge behalten, so setze man andere Wörter ein – die schlichteste Formulierungsweise setzt Aristoteles mit dem pluralischen „alle“. Zweifellos die pluralischste Pluralbildung, die überhaupt möglich ist. Die jedoch von den deutschen Übersetzern regelmäßig vermieden wird – zugegebenermaßen hat sie den Nachteil, dass man kaum umhin kommt, sie mit dem Substantiv „Dinge“ zu ergänzen, zu befestigen und auch schon ein bisschen zu verfälschen.

Man kann und man muß die Affäre so oder so fassen. „Alle“ sind nicht nur pluralischer als „alles“ – sie sind auch mehr. Denn noch nie ist jemand auf den Gedanken gekommen, sie als „zu wenig“ zu empfinden, so wie vor 30 Jahren der Knabe, der sich darüber beklagt hat, er bekomme immer „nur alles“.

Den berühmtesten aristotelischen Satz, für den dieses „alle“ konstitutiv ist, haben wir vor längerer Zeit hier herzitiert, dass nämlich „die Seele gewissermaßen alle Dinge sei“ (431b 21). Dort werden den „panta“ sogar noch „ta onta“ vorangestellt, damit man sehen muß, dass ein Plural vorliegt. Trotzdem wird auch der von den deutschen Übersetzern gemeinhin mit „alles“ wiedergegeben oder vielmehr unterschlagen.

Damit haben wir allerdings in dem Satz 1070b 34f. das formelle Subjekt gar nicht betrachtet, das sicherlich ein Singular ist und ein superlativischer Singular, da es „als allererstes“ gereiht, qualifiziert, privilegiert, hierarchisiert, archisiert im eigentlichen Sinn wird. Es wird keineswegs in seinem „Wesen“, wenn es ein solches sein sollte, bestimmt, sondern eher als ein Einzigartiges den vielen allen gegenübergestellt und ihnen als Bewegungsmotor vorgeschaltet.

 

Die Pluralitätsstruktur der Welt, die wir jetzt so penibel-philologisch den winzigen Wörtern abgeschaut haben, wird im Abschnitt 5 mit der üblichen Terminologie verdeutlicht. Es ist eine ambivalente Struktur, denn es gibt einerseits abgetrennte Dinge, andererseits nicht abgetrennte. Jene sind die voneinander abgesetzten Wesen und sie forcieren die Pluralität, diese sind die Akzidenzien, die sich den Wesen unterordnen und mit ihnen Zusammenhänge bilden. Politisch gesprochen handelt es sich um den Unterschied zwischen Selbstständigkeit und Abhängigkeit.

„Alle“ sind tendenziell selbständig. Das „All“ bildet einen Zusammenhang – aber mitnichten eine strikte Einheit.

Die Fragebewegung nach den Ursachen, Prinzipien, Elementen, die in diesem Buch erstmals vorangetrieben wird, läuft auf eine Gesamtfrage hinaus: kann oder muß es für die vielen, die sehr vielen „alle“ weniger als viele oder gar nur eine Ursache geben – oder ist die eine Ursache schon deswegen eine „zu eine“, weil es neben beziehungsweise mit den Ursachen auch Prinzipien und Elemente gibt? Weil sich also die Ursachenebene schon begrifflich nicht auf einen „Punkt“ reduzieren lässt?

 

Immerhin neigt Aristoteles in der Mathematik des Verhältnisses zwischen Ursache und Wirkung dazu, die Ursachen je früher also eher und folglich „erst“ desto weniger zahlreich also „einer“ anzusetzen.[2] Eine andere Mathematisierung versucht hingegen von individuellen Wirkungen aus zu immer mehr Ursachen, Anfängen, Keimen, Anlagen, also „vom Hundertsten bis zum Tausendsten“ zurückzusuchen und –zufinden.

Aber bevor Aristoteles die bereits genannte erste Ursache näher bestimmt, stoppt er seine Fragebewegung und hält bei den nahen Ursachen inne, bei den uns bekannten Sachen und Sachverhalten und Faktoren: „vielleicht Seele und Körper, oder Vernunft, Begehren und Körper“. (1071a 3) Also bei dem, was man seit dem frühen 20. Jahrhundert die „Lebenswelt“ nennt.

Vernunft, Begehren – das Duo der aristotelischen bzw. platonischen Psychologie?

 

Walter Seitter

 



[1] Siehe dazu Walter Seitter: Theorie, Paralyse, Analyse. In: A. Ruhs und W. Seitter (Hg.): Auflösen  Untersuchen Aufwecken. Psychoanalyse und andere Analysen (Wien 1995). Diese Bemerkungen sind geeignet, mein Schild zu kommentieren.

 

[2] Siehe Met. I, 982a 27.

 

Mittwoch, 17. Februar 2021

In der Metaphysik lesen (1070a 30 – 1070b 21)

Manfred Hulverscheidt hat mir ein Foto zugeschickt, das er am 9. November 2019 von meinem Schild aufgenommen hat, als es noch an seinem angestammten Platz neben meiner Haustür hing.

 

 

Ähnlich wie das bereits gezeigte neuere Foto zeigt es eine undeutliche Spiegelung sowie einen Altersfleck. Und damit zwei Erscheinungsaspekte, die den ohnehin nur nachträglich fingierten heraldischen Charakter des Schildes krass reduzieren.

Es sind zwei Aspekte, die sowohl von der modernen Malerei wie auch von der Fotografie in den Vordergrund geschoben worden sind und die die auch anderweitig nämlich politisch vorangetriebene Überwindung der Heraldik sichtbar machen, welche in den etwa von Carl Schmitt zur Kenntnis genommenen „Menschenfassungen“ kommentiert worden ist. 

Doch ob diese Überwindung tatsächlich endgültig sein muß, sei irgendwo hingestellt. 

Und ein Kommentar von Wolfgang Koch:

Ich halte die Reinstallation des Seitter'schen Analytiker-Schildes durch seinen Eigner für unterbewertet. Walter Seitter sieht darin gewohnt bescheiden die »tiefgreifende Transformation eines mehr oder weniger simulativen Geschäftsschildes in einen postheraldischen Schild«. War das Schild denn am Hauseingang eine Parodie auf die anderen dort angebrachten Geschäftsschilder? War es je eine kommerzielle Marke? Oder war es nur die öffentliche Manifestation eines heraldischen Privatwappens? Man könnte auch fragen: Ist das lange Zeitalter der Heraldik vielleicht schon vorbei? Und verblasst mit der zeichenhaften Funktion der Aussenwirkung auch das heraldische Zeichen im Inneren?
Jean-Paul Sartre, der sich einen »kritischen Weggefährten der Psychoanalyse« nannte, veröffentlichte 1969 in drei intellektuellen Zeitschriften – ›Les Temps Modernes‹ in Paris, ›Ramparts‹ in San Franzisko und »Neues Forum‹ in Wien – die Tonbandabschrift einer psychoanalytischen Sitzung, in der ein gewitzter Analysand namens A. sich und den Therapeuten dazu bringen wollte, sich gegenseitig ins Gesicht zu sehen und Heilung zu einem Abenteuer zu zweit zu machen. Der Patient wirft in dem langen Monolog dem Analytiker vor: »Herr Doktor, Sie sind nach Freud gekommen, man hat Ihnen Ihr Studium bezahlt, und Sie haben es geschafft, ein Schild an Ihre Tür zu heften. Und nun belästigen Sie eine Reihe von Leuten; Sie haben ja das Recht das zu tun, und damit glauben Sie, sich aus allem herauszuhalten. Sie sind ein Versager, Sie machen aus Ihrem Leben nichts anderes, als Ihre eigene Probleme anderen Leuten aufzuladen.«
Auch Seitter hat es geschafft, das Schild an den Eingang zu heften, und es war dort meines Erachtens nie nur ein heraldisches Zeichen. Es war auch nicht einfach eine Parodie der daneben hängenden Geschäftsschilder. Mit der Selbstzeichnung als Analytiker bestritt der Wiener Philosoph die historische Verdammung der Laienanalyse durch die klinische Medizin. Dass er diesen Kompetenzkonflikt nun in das Innere seiner Behausung und damit in das Innere seines Seins verlegt hat, dass Seitter das Analyseangebot nun im Privatimen »ein bisschen beweglich hält«, also den Zwiespalt des Insichgehens und Sichheraushaltens auf sich selbst ausdehnt, das lässt mich mit Gilbert Simondon von einer echten Transduktion sprechen, das heisst von einer dynamischen Operation, in deren Verlauf Energie aktualisiert wird, indem man Materialitäten von einem Zustand in einen anderen bringt. 

Wolfgang Koch, Februar 2021

                             

 

*

 

 

Neueres Griechisch

In der größeren der beiden Griechisch-Orthodoxen Kirchen Wiens, in der Dreifaltigkeitskirche auf dem Fleischmarkt, kann man einen kirchlichen Kalender für das Jahr 2021 bekommen, der vom Ökumenischen Patriarchat sowie von der Wiener Metropolis herausgegeben wird. Liest man das Grußwort des Patriarchen von Konstantinopel und Neu Rom, so fällt auf, dass es sich in Schreibweise und Syntax, abgesehen von einigen Verbformen, ganz und gar ans Altgriechische hält. Auch sonst machen die griechischen Texte einen sehr antiken Eindruck, was wohl auch damit zusammenhängt, dass die Bibelzitate den antiken Texten folgen.

Das interessanteste Detail, das in dieser Kirche wahrzunehmen ist, scheint mir eines zu sein, das sich wohl in allen griechischen Kirchen findet, nämlich die Inschrift innerhalb des Nimbus um den Christus-Kopf sowie Gottvater-Kopf herum. Sie besteht nur aus drei dreieckig angeordneten Buchstaben:

 

                               Ω

                       Ο              Ν

 

Zu lesen als: ho on, wobei das o im zweiten Wort ein langes ist, und die Wortgruppe bedeutet: der Seiende. Eine dürre Titulierung des namenverweigernden Gottes, die nur verständlich wird, wenn man sich ihre beiden weit auseinander liegenden Quellen klarmacht. Zum einen die Selbsterklärung, die Moses aus dem Brennenden Dornbusch entgegengeschallt hat: „Ich bin, der ich bin.“ Zum anderen die banal klingende altgriechische und vor allem von Aristoteles terminologisierte Partizipialkonstruktion – „das Seiende“. Die drei Buchstaben zwingen zwei äußerst heterogene Traditionen zusammen (mag auch ihr geographischer und ihr chronologischer Abstand gar nicht so unendlich weit gewesen sein). 

Den göttlichen Personen wurde im Christentum ein ähnlich klingendes Partizip aber mit männlichem Geschlecht eingeschrieben – wohlgemerkt nur im Griechischen, ein lateinisches „ens“ als kirchliche Inschrift wäre wohl doch nicht zuzumuten gewesen. Die griechisch-christliche Formel folgt also einerseits der aristotelischen Kargheit, modifiziert sie aber durch die Geschlechtsumwandlung, man könnte beinahe sagen Geschlechtsverleihung. Diese macht die Entsexualisierung, die Neutralisierung rückgängig, die schon bei den Vorsokratikern die philosophische Sprache und damit die Philosophie angestoßen hatte. 

Im Bild der Dreifaltigkeit am Fleischmarkt bekommen nur Vater und Sohn diese Inschrift. Die Taube, die den Heiligen Geist darstellen soll, bekommt keine. Wie würde sie heißen, wenn es sie gäbe?

 

                            *

 

Letzthin schrieb ich, dass im Buch XII verschiedene Thesen aus verschiedenen aristotelischen Büchern wiederholt und in einen neuen Zusammenhang gerückt werden. So in 1070a 25ff. die These aus De anima von der menschlichen Seele, die - so wie alle Seelen mitsamt ihren pflanzlichen oder animalischen Körpern – zugrundegeht; allerdings der Seelenteil namens Vernunft, der nur den Menschen eignet, ist davon ausgenommen. Also eine partielle Seelenunsterblichkeit beim Menschen. 

Denkt man an die platonischen Bemühungen um die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, die ja gegen die Annahme ihrer Vergänglichkeit vorangetrieben worden sind, so macht die aristotelische These von der Halb-Sterblichkeit der Menschenseele einen kompromißlerischen Eindruck, was dem Duktus des aristotelischen Denkens nicht ganz fremd ist.

Allerdings wüsste man gerne, ob sich für diesen behaupteten Tatbestand Ursachen oder Prinzipien oder Elemente anführen lassen und diese ätiologische Fragerichtung ist es ja auch, die im Buch XII deutlicher zutage tritt als in den früheren Büchern. Ich nenne sie auch die UPE-Fragerichtung.

Aristoteles formuliert sie nun im Abschnitt 4 auf einer sozusagen höheren Ebene, auf der Ebene der Seinsmodalitäten, die von Buch VII bis Buch X ausführlich dargestellt worden sind und sich in ungefähr vier Dimensionen ordnen – nämlich die Kategorien, das Mögliche und das Wirkliche, das Eine und das Viele, das Wahre und das Falsche. Allerdings war dort die ätiologische Frage für die ontologischen Dimensionen kaum aufgeworfen worden. 

Die immanente UPE-Problematik liegt darin, ob es für verschiedene Dinge unterschiedliche Ursachen, Prinzipien, Elemente gibt oder für alle dieselben. 

Eine spezielle Aporie sieht Aristoteles in der Frage, ob es etwa für das Wesen und für das Bezügliche verschiedene oder selbe Prinzipien und Elemente gibt. Also für die „stärkste“ und für die „schwächste“ der kategorialen Seinsmodalitäten - wobei diese schwächste Seinsmodalität, das Bezügliche oder die Relation, sich im Laufe der Neuzeit zur stärksten Konkurrentin des Wesens, ja zur Überwinderin des sogenannten „Essenzialismus“, aufgeschwungen hat. 

Aber solche Gesichtspunkte spielen für Aristoteles keine Rolle. Er sieht die beiden Seinsmodalitäten irgendwie gleichrangig, da weder das Wesen ein Prinzip der Relation noch diese ein Prinzip des Wesens sei. Die beiden hätten nichts Gemeinsames – als ein solches könnte man allerdings das Seiende annehmen. Doch dieses wird – zusammen mit dem Einen – als mögliches Element ausgeschlossen, da auch Wesen und Relation als Seiendes und Eines zu gelten haben (welche beiden Grundbestimmungen hier als „noetisch“ bezeichnet werden). Die paradoxe Position des Seienden als Grundbestimmung, die doch keine Gattung bilden soll, löst hier die Aporie aus, die Aristoteles dann folgendermaßen auseinanderlegt:

„Demnach könnte keines der Elemente ein Wesen oder ein Bezügliches sein; notwendigerweise aber doch. Nicht alles also verfügt über dieselben Elemente.“ (1070b 8f.)

 

Da zeigt sich der aporetische oder vielleicht doch diaporetische Grundzug der Metaphysik, der im Buch III listenmäßig, schematisch, beinahe maschinell vorgeführt, vorweggenommen worden ist.[1]

 

Und es geht einigermaßen aporetisch, d. h. dilemmatisch weiter:

 

„Oder es verhält sich doch so, wie wir sagen: in gewissem Sinne verfügen alle Dinge über dieselben Elemente, in gewissem Sinne wieder nicht.“ (1070b 10)

 

Von den noetischen zu den aisthetischen Dingen, zu den „wahrnehmbaren Körpern“ übergehend findet Aristoteles leichter, ja geradezu euporetisch, um nicht zu sagen euphorisch, Antworten auf seine Frage.[2] Da ist zum Beispiel das Warme ein Element und ferner das Kalte (als dessen Privation). Sowohl diese Elemente (obwohl hier nur als die Eigenschaften angegeben, aus denen sie abgeleitet worden waren) seien Wesen wie auch die Zusammensetzungen daraus (zum Beispiel Fleisch oder Knochen). In diesem Sinne verfügen unterschiedene Dinge über dieselben Elemente und Prinzipien, sodaß sich Aristoteles hier zu einem „Drei-Prinzipien-Satz“ aufschwingt - siehe 1070b 18: die drei Prinzipien heißen Form, Privation und Stoff. Die Lehre von Form und Stoff, auch Hylomorphismus genannt erfährt hier eine Ergänzung durch die Privation, man könnte auch sagen durch die radikale Negation, durch das konträre Gegenteil. Ein meontologisches Supplement. Für die Farbe heißen die drei Prinzipien Weiß, Schwarz und Oberfläche; für Tag und Nacht heißen sie Licht, Dunkel und Luft.

 

Diese physikalische Prinzipienlehre wird so klipp und klar im berühmten Buch XII der Metaphysik ausgesprochen, was bereits einen Vorgeschmack dieses Buches liefern dürfte.

 

Übrigens steht für „Oberfläche“ „Epiphanie“ – über die zum letzten 6. Jänner hier behauptet wurde, sie sei nur das banale griechische Grundwort „Erscheinung“ – denn die „Erscheinung des Herrn“ bestand ja nur in dem Besuch dreier angeblicher Könige aus dem Morgenland bei dem neugeborenen angeblichen König der Juden (auch wenn sich daran eine größere Geschichte geknüpft hat).

 

Hier kann festgestellt werden, dass das hartnäckige Insistieren auf den ätiologischen Begriffen der Ursache, des Prinzips und des Elements der Physik einen neuen Schwung gibt, der sie weiterführt.

 

Walter Seitter

 




[1] Siehe Walter Seitter: op. coit.: 56ff.

[2] Als reichliches und schwungvolles Tragen und Getragenwerden begünstigt und verstärkt die Euphorie euporetische Phasen eines Unternehmens. 

Mittwoch, 10. Februar 2021

In der Metaphysik lesen (1070a 22 - 30)

Und noch eine neue Erscheinung

 

Ungefähr seit 1990 bis zum Jahr 2020 hing neben meiner Haustür (Hoher Markt 4) ein von mir entworfenes Messingschild mit meinem Namen und Berufsangabe. Im vergangenen Herbst wurde es von der Hausverwaltung abgenommen, weil ein anderer Mieter den Schildplatz beansprucht. Das Schild wurde mir ausgehändigt und ich überlegte, was tun damit. Der Gedanke, es innerhalb meiner Wohnung anzubringen, führte zu verschiedenen technischen Überlegungen und schließlich realisierte der Künstler Wolfgang Podgorschek Anfang 2021 eine recht schlichte Anbringung, die das Schild an einer Wand befestigt und gleichzeitig ein bisschen beweglich hält. 

Wenn man will, kann man sagen, dass der Transfer zu einer tiefgreifenden Transformation geführt hat: das mehr oder weniger simulative Geschäftsschild wurde ein heraldischer oder postheraldischer Schild, der mit Schwarz auf Gold beschriftet ist. Die Farben und die Wörter stehen natürlich historischen sowie ästhetischen Analysen offen.

 

 


 

Im Zeitalter der Photographie (welche als antiheraldische Bildtechnik zu gelten hat) können recht unterschiedliche Erscheinungen des Schildes hinsichtlich Beleuchtung und Spiegelung aufgenommen und festgehalten werden. Die hiesige Aufnahme hält den Fotografen Walter Pamminger fragmentarisch fest. 

 

 

                                *

 

Natürlich kann man sich fragen, ob die Erinnerung an Hermann von Kärnten (im letzten Protokoll) in irgendeiner angebbaren Beziehung zu der hiesigen Aristoteles-Lektüre gestanden sein könnte oder wozu sie überhaupt gut gewesen sein könnte. 

Ihre „Ursache“ lag zunächst weder in der einen oder anderen Denkrichtung sondern im Zusammentreffen von zwei „zufälligen“, also von außen kommenden Widerfahrnissen mir gegenüber, nämlich zwei verschiedenen bibliographischen Wahrnehmungen, die einen mir – und nicht nur mir – völlig unbekannten mittelalterlichen und mitteleuropäischen philosophischen Autor plötzlich ein bisschen bekannt gemacht haben. 

Die massive Unbekanntheit dieses Autors ließ auch nicht erwarten, daß ich da nun auf einen sehr bedeutenden, etwa gar einen „sensationellen“ Theoretiker, Philosophen gestoßen sein könnte. 

 

Immerhin war mir Ähnliches schon vor ungefähr dreißig Jahren passiert, als mir in Rimini – auf der Suche nach einem Wandbild von Piero della Francesca – die Spur von dem Georgios Gemistos Plethon unterkam, der im 15. Jahrhundert gewirkt hat und von dem ich ebenfalls in meinem ganzen Philosophiestudium nie gehört hatte.[1] Doch dieser Hermann wird im 12. Jahrhundert situiert, welches mir philosophiehistorisch noch nie aufgefallen war. Erste Lektüren berichteten von einem multidisziplinärem Schaffen, das neben einigen vielleicht interessanten eigenen Schriften viele Übersetzungen mit eher naturwissenschaftlicher Ausrichtung enthält. 

Übersetzungen unternehmen zumeist „geographische“ Expeditionen, sofern sie zwischen zwei Sprachen vermitteln, die „nebeneinander“ angesiedelt sind, zum Beispiel deutsch und französisch. Hermanns Leben „verlief“ selber sehr geokinetisch oder –poretisch (ein bisschen auch das meinige). Seine Übersetzungen ins Lateinische nehmen immer auch größere historische Distanzen auf und mit, da sie Schriften aus der Antike in seine Zeit (und womöglich in unsere) transferieren – sie überbrücken also synchrone wie auch diachrone Abstände.

 

Kann eine derartige Transporttätigkeit von Aristoteles-Lesern für wichtig gehalten werden? Ja, wir müssen sie hoch schätzen, sofern wir wissen wollen, was wir tun – wenn wir ihn vierundzwanzig Jahrhunder†e nach seinem Leben lesen. Was ohne vielfältige Übersetzungs-, Kommentierungs- und andere Rezeptionsleistungen gar nicht möglich wäre.

 

Aristoteles selber hat die historischen Aufeinanderfolgen und Auseinandersetzungen, die bis zu ihm hin geführt haben, immer wieder aus seiner Perspektive nachgezeichnet und kommentiert. Und er hat sogar die Frage nach „bedeutenden“ und „weniger bedeutenden“ Vorgängern mit einer gewissen Distanziertheit betrachtet, indem er zum Vergleich mit der Philosophie zwei neuere Vertreter der lyrischen Poesie namhaft macht, nämlich Phrynis von Mitylen und Timotheos von Milet, von denen der zweite viel höher geschätzt werde, aber ohne den ersten kaum möglich gewesen wäre (993b 12ff.). Zumindest als Übersetzer, vielleicht aber auch als Autor dürfte Hermann von Kärnten für manche Autoren des 13. oder eines späteren Jahrhunderts ein hilfreicher Anreger gewesen sein und eventuell könnte er mit seinen fünf Wesenheiten oder mit der Herzenserkundung auch künftige Leser und Schriftsteller noch inspirieren. Meine bibliographischen Angaben sollen dem dienlich sein.

 

Ein gleiches mag vielleicht auch für manchen Autor des 20. Jahrhunderts gelten, der in irgendwelchem Getöse untergegangen scheint.

 

Jetzt haben wir es mit einigen merkwürdigen aber bescheidenen Aussagen des Buches XII zu tun - zum Beispiel mit der Differenz zwischen solchen Ursachen, die dem Verursachten vorausgehen und die unserem modernen Ursachenbebegriff eher entsprechen, und anderen Ursachen, die synchron mit oder sogar in dem Verursachten gegeben sind und von uns eher als Bestandteile des Verursachten bezeichnet werden. Dazu gehören wohl die stofflichen Elemente, aber Aristoteles nennt hier nicht sie sondern den „Begriff“ und er meint etwa die Gesundheit als Ursache des gesunden Menschen, in diesem Fall also ein Akzidens, oder die Kugelform als eine Ursache einer Metallkugel – welche gleichzeitig mit dieser gegeben ist. Und da fügt er die Frage an, ob so eine Form auch noch bestehen bleibt, wenn das Ding vergangen ist, und er setzt die Seele als Form an und den Menschen als Ding, und meint, dass wohl nicht die ganze Seele bestehen bleibt, sondern nur der Seelenteil, den er Vernunft nennt.

Und dann doch die antiplatonische Schlußfolgerung, dass es die Ideen nicht geben müsse. „Denn ein Mensch zeugt einen Menschen, der einzelne einen einzelnen.“ (1070a 28)

 

„In gleicher Weise verhält es sich bei den Künsten, denn die ärztliche Kunst ist der Begriff der Gesundheit.“ (1070a 29f.)

Ganz gleich verhalten sich die Dinge nicht: einmal geht die Verursachung von den Eltern zu Kind, das andere Mal vom Arzt zum Patienten.

Oben war die Gesundheit noch als Begriff-Ursache des gesunden Menschen bezeichnet worden, jetzt bekommt sie doch eine Extra-Existenz als Spezialität eines Fachmannes zugesprochen – im Sinne einer gesellschaftlichen „Arbeitsteilung“. Im potenziellen Patienten ist die Gesundheit eine potenzielle und hoffentliche Ursache, also Kraft seines Gesundseins. Im Falle der Privation ist sie – hoffentlich – im Wissen des Arztes ein Begriff, der ihn dazu befähigt, die Gesundheit des Patienten, d. h. des Privierten, wiederherzustellen bzw. an deren Wiederherstellung mitzuwirken, was nicht ausschließt, dass der gewusste Begriff der Gesundheit auch etwas „Gesehenes“, also eine „Idee“ ist. Denn „Wissen“ heißt im Griechischen „Gesehenhaben“. Und auch nicht, dass ebenfalls im Patienten so eine „Idee“ am Werk ist und ihn aufrichtet. Die Idee wird operationalisiert. 

 

Diese kurzen Feststellungen ziehen verschiedene Thesen, die in mehreren aristotelischen Büchern ausgeführt und diskutiert worden sind, zu knappen Verdichtungen zusammen und bekommen damit eine neue Positionierung, die vielleicht einen neuen Weg bereiten. 

 

 

Walter Seitter

 




[1] Siehe Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 29: Georgios Gemistos Plethon (1355-1452): Reformpolitiker, Philosoph, Verehrer der alten Götter (2005) Hg. W. Blum und W. Seitter

Mittwoch, 3. Februar 2021

In der Metaphysik lesen (1069b 35 – 1070a 21)

Noch eine Neuerscheinung

 

Im vergangenen Sommer 2020 habe ich zwei Bücher über die „Leibniz-Frage“ gelesen, über die ich hier unter dem Titel „Supplement zur Minimalontologie II“ berichtet habe. Und in einem davon sah ich zum ersten Mal einen Hinweis auf einen gewissen „Hermann von Kärnten“, nämlich auf dessen lateinische Schrift mit dem Titel De essentiis. Immerhin findet man in Wikipedia einen Eintrag zu ihm, der ihn als Philosophen, Astronom, Mathematiker und Übersetzer ausweist. 

Und vor kurzem erschien nun auch in Buch über diesen Mann, der von ca. 1100 bis 1155 ein sehr bewegtes Gelehrtenleben geführt hat:

Mario Rausch: Hermann de Carinthia. Die Biographie (Klagenfurt 2020)

Dieser Hermann wird auch Sclavus Dalmata genannt, man weiß nicht, welche seine Muttersprache war - das Herzogtum Kärnten, aus dem er stammt, reichte seinerzeit viel weiter nach Süden als das heutige Bundesland Kärnten (und mit Österreich hatte es gar nichts zu tun). 

Dieser Mann ging schon in jungen Jahren von Kärnten nach Frankreich zum Studieren an die Domschule in Chartres und wurde dort von Magister Thierry in einen christlich getönten Neuplatonismus eingeführt. 1130 folgte er ihm nach Paris, dort erwachte sein Ehrgeiz, antike Texte, die in arabischer Sprache vorlagen, selber lesen und übersetzen zu können.

Er reiste in den Orient, traf in Konstantinopel und Damaskus Gelehrte und Schriften, die ihn interessierten. Und daraufhin reiste er nach Spanien und begann in Toledo mit Übersetzungen aus dem Arabischen, die er in Toulouse fortsetzte. Er übersetzte astronomische Schriften von Ptolemäus, mathematische Schriften von Euklid und als Auftragsarbeit für Petrus Venerabilis, den Abt von Cluny, sogar den Koran. Insgesamt hat er ungefähr 20 Bücher ins Lateinische übertragen, einige davon aus dem Griechischen.

 

Eigene Schriften verfasste er zur Meteorologie, zur Mathematik, zur Astronomie sowie - unter dem Titel „Von der Erforschung des Herzens“ bzw. „The Search of the Heart“ – zur Astrologie.[1]

Von philosophischem Interesse ist die Schrift De essentiis, die im Jahr 1143 in Toulouse und Bézier geschrieben worden ist. Es handelt sich um ein System, das vor allem von Platon, Aristoteles und Alkindus (800-873) inspiriert ist und fünf Wesenheiten unterscheidet: Ursache, Bewegung, Ort, Zeit und „habitudo“ (Verhalten). Viele detaillierte Ausführungen haben kosmologischen Charakter und beziehen sich auf die Elemente, Planeten, Metalle, Farben. Im Unterschied zu Aristoteles nimmt er mit den sogenannten Astrologen an, dass die Elemente, aus denen die Körper im Prozess des Werdens hervorgehen, im gesamten Erd- und Himmelsraum dieselben sind – eine eher moderne Ansicht. 

 

Mehr kann ich dazu nicht sagen, weil ich die zweisprachige Neuausgabe dieser Schrift nicht gelesen habe: De Essentiis. A Critical Edition with Translations and Commentary by Charles Burnett (Leiden-Köln 1982).

Über die letzten Jahre von Hermanns Leben ist nichts bekannt. Aber seine Werke haben wissensgeschichtlich und religionspolitisch weitergewirkt – daher sollte ihre Wirkung auch hier möglich sein. Die geographische Bewegung war diesem Autor nie fremd.[2]

 

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Mit Karl Bruckschwaiger (der gerade mit einer massiven Reiseblockade zu tun hat) wird die Frage aufgeworfen, ob man aus der Aporie (Ausweglosigkeit, Dilemma) und der Diaporie (Durchgang, Weiterkommen) auf die Porie als neutrale Grundbestimmung zurückkommen kann – als Gang, Weg, Reise. Das entsprechende Verb findet sich zur Erläuterung der Pragmatik des Sichersten Prinzips in 1008b 16: wenn jemand nach Megara gehen will, empfiehlt es sich, diese Reise konsequent durchzuführen und Hindernisse zu vermeiden. Das gilt erst recht, wenn jemand von St. Paul im Lavanttal nach Chartres gehen will. Oder von Paris nach Damaskus. 

Aporien können nur entstehen, wenn eine Porie, also eine Reise oder eine Unternehmung oder eine Suchbewegung geplant ist. Diese Voraussetzung könnte man als Poretik (Reisewesen) bezeichnen und die Porologie wäre dann die Wissenschaft dazu: Reisekunde, Verkehrswissenschaft, Unternehmensanalyse, Mediologie. Wenn Aristoteles im Laufe der Metaphysik immer wieder von Aporien spricht, dann könnte es so sein, dass der Eindruck von einer mehr oder weniger(!) geordneten Textmasse, nicht nur auf nachträgliche Kompositionszufälle zurückzuführen ist, sondern auf einen „inneren“ aporetisch-diaporetischen Gang der Untersuchung, der sich allerdings weit über die Lebenszeit des Autors hinaus erstreckt, verzögert, gebrochen und fortgesetzt hat.  

Poretik der Metaphysik – mitsamt Aporien. Diaporien und etwa gar Euporien (erfolgreichen Expeditionen)?

Zu Beginn von Abschnitt 3 erwähnt mein Übersetzer, dass der Text unsicher ist, und er fügt denn auch gleich eine Negation ein, sodaß der erste Satz sagt, dass letzter Stoff und letzte Form sich verändern, beispielsweise Stoff und Form eines Bronzerings. Nicht verändern sich der Rohstoff, der aus Elementen besteht und das Runde, das eine geometrische Urform ist. Die Ursachenforschung muß da stehen bleiben, sonst würde sie ins Unendliche fortgehen müssen und das wäre eine missliche Reise, eine „Dysporie“ – dieses Wort setze ich hier ein, aber es existiert im Griechischen und darf hier eingesetzt werden (auch wenn die modernen Freunde des Unendlichen den Kopf schütteln würden (hoffentlich schütteln sie ihn nicht endlos)). In der Verursachungsreihe spielt aber noch ein drittes „Erstes“ eine Rolle: das „erste Bewegende“, also die erste Wirk- oder Bewegursache. Die lässt sich allerdings nicht so leicht identifizieren wie die letzte Bewegursache, das wird wohl irgendein Handwerker sein. Und relativ leicht lässt sich auch eine letzte Zweckursache denken: irgendein Gebrauch, irgendein Wunsch nach so einem Ring. 

Von den vier Ursachensorten sind zu unterscheiden die vier Weisen der Verursachung, die im Buch VII (7-9) ausführlich dargestellt worden sind: die Kunst hat ihr Prinzip in einem anderen, die Natur hingegen hat es in den Dingen selber; die beiden anderen Verursachungen – Zufall und „von selber“ – sind defiziente Formen der beiden ersten. 

Und dann: drei Seiten nach 1069a 30 der gleiche Satz wiederum: „Wesen gibt es drei“ (1070a 9). Auch mit dieser Wesenstriade sind nicht etwa drei bestimmte Entitäten gemeint (daher verzichte ich auf –trinität). Allerdings auch nicht drei weitgefaßte Sorten, sondern drei Suppositionen des Begriffs, drei Verwendungsweisen, die den Begriff „Wesen“ beinahe so mehrdeutig machen wie das Grundwort „seiend“ bei Aristoteles tatsächlich angenommen wird. 

 

Was ist das für eine Textkomposition, die haargenau mit dem gleichen Satz eine völlig andere Begriffsdifferenzierung ankündigt und einleitet, welche auf die frühere gar keinen Bezug nimmt? Der „zweite“ Satz im 3. Abschnitt weiß wohl gar nichts vom „ersten“ im 1. Abschnitt. Die Abschnitte scheinen tatsächlich sehr abgeschnitten voneinander zu sein. 

Der zweite Satz resümiert sehr kurz eine Unterscheidung, die am Ende von Buch VII und am Anfang von Buch VIII sehr ausführlich vorgenommen worden ist und die teilweise seit den Kategorien etabliert ist – nämlich die Doppelaspektivität des Wesens als Form (Spezies) und als Individuum.

Diesen beiden Aspekten wird aber jetzt ein gewissermaßen darunterliegender vorgeschaltet, welcher als Stoff und Substrat bezeichnet wird und mit zwei interessanten Besonderheiten gekennzeichnet wird: der Stoff existiert nicht durch Zusammenwachsen sondern durch Berührung und er ist ein Das dem Erscheinen nach. Die Ebene der Stofflichkeit ist also eine wesenhafte, ihre Einheitlichkeit hat die lockere Form der Berührung und ihre – ontologische – Wahrheit (im Sinne von 1051a 34ff.) besteht in der Leistung des Erscheinens. 

Die ist bekanntlich eine elementare Dimension im griechischen Wirklichkeitsverständnis, wird aber von Aristoteles eher selten hervorgehoben (vielleicht weil er die protagoreische These von der Wahrheit aller Erscheinungen ablehnt (obwohl diese teilweise mit seiner eigenen Wahrnehmungstheorie impliziert ist)).

Das „zweite“ Wesen in dieser Reihung entspricht dem, was sonst unter Form oder Spezies läuft, hier wird es als „Natur“ bezeichnet und überdies mit Habitus, Gewohnheit, Verhalten verbunden (jener Hermann sollte daraus „habitudo“ machen). 

 

Und das „dritte“ Wesen ist die Zusammensetzung aus den beiden: das Individuum – „wie etwa Sokrates oder Kallias“ (1070a 10). Dieses „dritte“ Wesen ist also ebenso wenig wie das erste oder zweite irgendetwas Singuläres, sondern es handelt sich um Versionen von Vollständigkeit oder Unvollständigkeit massenhaft vorkommender Entitäten. Diese Wesenstriade ist also eine analytische Formel für die Konstitution der Wesen im empirischen und vollen Sinn des Wortes: Menschen, Häuser und dergleichen. 

Natürlich muß dann noch die Frage aufgeworfen werden, die den Platon Schüler Aristoteles sozusagen definiert. Wie verhalten sich diese Versionen oder Stufen der Dinge zueinander?

Die Antwort folgt nicht einfach dem bekannten Schema von der Ablehnung der Ideenlehre durch Aristoteles. 

Vielmehr wird zwischen natürlichen und künstlichen Dingen unterschieden. Bei diesen gibt es die Form „extra“ und zwar eben als die Kunst, die diese Dinge hervorgebracht hat. Wobei die Form selber nicht entstanden ist sondern vom Künstler – sei es der Architekt, sei es der Arzt – als vorliegende Möglichkeit, die sowohl „ist“ wie auch „nicht ist“ wahrgenommen und realisiert wird (1070a 17). So jedenfalls interpretiert der amerikanische Übersetzer Joe Sachs diesen Text.[3]

Was die natürlichen Dinge betrifft, so stimmt Aristoteles hier der platonischen These zu, es gebe so viele Formen wie Dinge, sofern diese mehr als bloße Haufen sind. (Allerdings scheint der Text hier sehr unsicher zu sein – das heißt vielleicht besteht er selber nur aus verunglückten Satzbildungen.)

 

 Walter Seitter

 




[1] Siehe Hermann de Carinthia: The Search of  the Heart. Consultation Charts, Interpreting Thoughts & Calculating Victors in Traditional As†rology. Translated & Edited by Benjamin N. Dykkes (Minneapolis 2011)

[2] Die siebenbändige und 7000-seitige Geschichte der Philosophie Österreichs, die von Michael Benedikt initiiert worden ist, setzt historisch erst im frühen 15. Jahrhundert ein, schon aus diesem Grunde kann sie Hermann von Kärnten gar nicht  berücksichtigen. 

[3] Siehe Joe Sachs, op. cit.: 234.