τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 24. Februar 2021

In der Metaphysik lesen (1070b 22 – 1071a 3)

Nun unterscheidet Aristoteles von den innewohnenden Ursachen die äußeren wie das Bewegende oder aber das Stillstellende (also die Privation des ersten), wobei er die beiden nun auch als Prinzipien bezeichnet. Das Stillstellen (oder gar Stilllegen, das momentan als radikale Version der Klinik, also des Hinlegens, um sich greift)[1] als „eigene“ Ursache (sogar als eigenes Prinzip) zu bezeichnen, verdient besondere Aufmerksamkeit.

Die drei Begriffe Ursache, Prinzip, Element, die ich oben mit dem Akronym UPE zusammengeschrieben habe, lassen sich zwar voneinander unterscheiden, aber fallweise auf ein und dasselbe anwenden. Auch die früher schon eingeführte Unterscheidung zwischen den vier Ursachensorten, die synchron am Werk sind, gliedert den komplexen Sachverhalt; aber anstatt der Privation führt sie die Zielursache ein.

Gesundheit, Krankheit und Körper entsprechen den oben genannten drei Prinzipien; dazu kommt die Heilkunst als bewegende Ursache. Für das Ding namens Haus heißen die drei Prinzipien Form, diese bestimmte Unordnung da, die Ziegel; und die bewegende Ursache ist die Baukunst, die oben als Form geführt worden ist. Und der Form steht jetzt eine bestimmte Unordnung (nämlich der Ziegel) gegenüber – welche aber sehr wohl auch eine bestimmte Anordnung der Ziegel, etwa eine für den Transport günstige Stapelung, sein kann.

 

Alle diese verschiedenen „Ursachen“ werden von Aristoteles als „letzte“ Ursachen betrachtet, da sie ihren Wirkungen, ihren Resultaten, sehr nahestehen. Die Ursachen, sowohl die natürlichen wie auch die künstlichen, sind selber Sachen oder Sachverhalte – wie auch ihre Wirkungen. Und diese Wirkungen, also die Häuser, die Kinder mit ihren Gesundheits- oder Krankheitszuständen, werden ihrerseits zu Verursachern folgender Generationen von Menschen, Häusern und dergleichen.

Manche Mitglieder früherer Generationen, zum Beispiel Menschen aus früheren Jahrhunderten, sind nicht schlicht und einfach verschwunden sondern haben eine partielle Unsterblichkeit erreicht, wie das Aristoteles mit seinem Zitat aus De anima präzise andeutet, indem da überdurchschnittlich viel „Vernunft“ am Werk ist, seien es die besonderen Talente jener verstorbenen Menschen (wie ebenfalls Aristoteles im Buch II gemeint hat) oder aber beziehungsweise auch die Erinnerung, die Begeisterung, die Überlieferungsarbeit, die Denkarbeit folgender Generationen, wie wir beispielsweise auch an unserer eigenen Aristoteles-Lektüre sehen beziehungsweise wie wir da selber als Folgen und als Urheber agieren.

Diachrone und synchrone Kollegen. Die Generationen aus Urhebern und Epigonen, aus epigonalen und vielleicht dennoch genialen, d. h. generierenden Menschen, Schriften, Bauwerken bilden die vielen „borromäischen“ Ketten aus mehr oder weniger selbständigen, oftmals widerspenstigen Akteuren.

Wenn man alle diese Wesen und ihre Zustände und Bewegungen als ein „Ganzes“ betrachtet, spricht man vom „All“. So im zweiten Satz von Buch XII – 1069a 19.

Wenn man jedoch den totalisierenden Blick vermeidet, jedenfalls zurücknimmt, dann muß man den letzten kleinen Satz von Abschnitt 4 anders übersetzen als alle, nein, als fast alle Übersetzer.

Der meinige schreibt: „Weiter gibt es neben alledem noch das, was als Erstes von allem alles bewegt.“ (1071a 34f.)

Also dreimal „alles“ – das Neutrum Singular, das im Wort „All“, seine eigene Wort-Form gefunden hat. Hier aber dreimal fehl am Platz ist: denn zuerst heißt es: neben diesen (Dingen) da ist da noch ...

Mit den „diese da“ ist das große Sammelsurium aus Ursachen und Sachen, Sachverhalten und Elementen gemeint, das ich noch ein bisschen ausgemalt habe.

Und der Satz sagt dann, dass etwas als erstes „von allen (Dingen) alle (Dinge)“ bewegt; als erstes von allen überhaupt bewegt es alle überhaupt; sowohl seine Erstheit wie auch seine transitive Leistung bezieht sich auf sämtliche Gegebenheiten, Phänomene und so weiter.

Sagt man für „alle“ einfach „alles“, so trifft man wohl den äußeren Gesamtumfang, den auch das Wort „All“ bezeichnet, man verfehlt jedoch, ja man unterschlägt die „innere“ Pluralität, Multität oder Multiplizität dieser aller. Diese alle bilden den pluralsten Plural, der möglich ist, da er ja alle und alle einzelnen umfaßt – aber nicht zu einer großen Einheit zusammenfasst oder gar zusammenschmilzt.

Will man sie zusammenfassen, so kann man Begriffe wie „All“, „Kosmos“, „Universum“, oder eben „Welt“ verwenden. Will man die Zusammenfassung, die Vereinheitlichung eher vermeiden, will man eher die lose als die feste Koppelung (Fritz Heider) im Auge behalten, so setze man andere Wörter ein – die schlichteste Formulierungsweise setzt Aristoteles mit dem pluralischen „alle“. Zweifellos die pluralischste Pluralbildung, die überhaupt möglich ist. Die jedoch von den deutschen Übersetzern regelmäßig vermieden wird – zugegebenermaßen hat sie den Nachteil, dass man kaum umhin kommt, sie mit dem Substantiv „Dinge“ zu ergänzen, zu befestigen und auch schon ein bisschen zu verfälschen.

Man kann und man muß die Affäre so oder so fassen. „Alle“ sind nicht nur pluralischer als „alles“ – sie sind auch mehr. Denn noch nie ist jemand auf den Gedanken gekommen, sie als „zu wenig“ zu empfinden, so wie vor 30 Jahren der Knabe, der sich darüber beklagt hat, er bekomme immer „nur alles“.

Den berühmtesten aristotelischen Satz, für den dieses „alle“ konstitutiv ist, haben wir vor längerer Zeit hier herzitiert, dass nämlich „die Seele gewissermaßen alle Dinge sei“ (431b 21). Dort werden den „panta“ sogar noch „ta onta“ vorangestellt, damit man sehen muß, dass ein Plural vorliegt. Trotzdem wird auch der von den deutschen Übersetzern gemeinhin mit „alles“ wiedergegeben oder vielmehr unterschlagen.

Damit haben wir allerdings in dem Satz 1070b 34f. das formelle Subjekt gar nicht betrachtet, das sicherlich ein Singular ist und ein superlativischer Singular, da es „als allererstes“ gereiht, qualifiziert, privilegiert, hierarchisiert, archisiert im eigentlichen Sinn wird. Es wird keineswegs in seinem „Wesen“, wenn es ein solches sein sollte, bestimmt, sondern eher als ein Einzigartiges den vielen allen gegenübergestellt und ihnen als Bewegungsmotor vorgeschaltet.

 

Die Pluralitätsstruktur der Welt, die wir jetzt so penibel-philologisch den winzigen Wörtern abgeschaut haben, wird im Abschnitt 5 mit der üblichen Terminologie verdeutlicht. Es ist eine ambivalente Struktur, denn es gibt einerseits abgetrennte Dinge, andererseits nicht abgetrennte. Jene sind die voneinander abgesetzten Wesen und sie forcieren die Pluralität, diese sind die Akzidenzien, die sich den Wesen unterordnen und mit ihnen Zusammenhänge bilden. Politisch gesprochen handelt es sich um den Unterschied zwischen Selbstständigkeit und Abhängigkeit.

„Alle“ sind tendenziell selbständig. Das „All“ bildet einen Zusammenhang – aber mitnichten eine strikte Einheit.

Die Fragebewegung nach den Ursachen, Prinzipien, Elementen, die in diesem Buch erstmals vorangetrieben wird, läuft auf eine Gesamtfrage hinaus: kann oder muß es für die vielen, die sehr vielen „alle“ weniger als viele oder gar nur eine Ursache geben – oder ist die eine Ursache schon deswegen eine „zu eine“, weil es neben beziehungsweise mit den Ursachen auch Prinzipien und Elemente gibt? Weil sich also die Ursachenebene schon begrifflich nicht auf einen „Punkt“ reduzieren lässt?

 

Immerhin neigt Aristoteles in der Mathematik des Verhältnisses zwischen Ursache und Wirkung dazu, die Ursachen je früher also eher und folglich „erst“ desto weniger zahlreich also „einer“ anzusetzen.[2] Eine andere Mathematisierung versucht hingegen von individuellen Wirkungen aus zu immer mehr Ursachen, Anfängen, Keimen, Anlagen, also „vom Hundertsten bis zum Tausendsten“ zurückzusuchen und –zufinden.

Aber bevor Aristoteles die bereits genannte erste Ursache näher bestimmt, stoppt er seine Fragebewegung und hält bei den nahen Ursachen inne, bei den uns bekannten Sachen und Sachverhalten und Faktoren: „vielleicht Seele und Körper, oder Vernunft, Begehren und Körper“. (1071a 3) Also bei dem, was man seit dem frühen 20. Jahrhundert die „Lebenswelt“ nennt.

Vernunft, Begehren – das Duo der aristotelischen bzw. platonischen Psychologie?

 

Walter Seitter

 



[1] Siehe dazu Walter Seitter: Theorie, Paralyse, Analyse. In: A. Ruhs und W. Seitter (Hg.): Auflösen  Untersuchen Aufwecken. Psychoanalyse und andere Analysen (Wien 1995). Diese Bemerkungen sind geeignet, mein Schild zu kommentieren.

 

[2] Siehe Met. I, 982a 27.

 

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