τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 25. Januar 2018

                                          
In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1032b 1 – 29


Heute ist Irini Athanassakis bei uns zu Gast, die vor zwei Tagen einen Vortrag über Muttermilch und die damit zusammenhängenden Praktiken gehalten hat – und damit auch die Thematik berührt hat, die in unserem Text behandelt wird: die Entstehung eines – neuen – Menschen. Im Unterschied zu Aristoteles widmete sie sich einer Phase nach Zeugung und Geburt, wenn das Menschenkind beginnt und beginnen muss, die Nahrung oral aufzunehmen. Die von der Natur vorgesehene (aber nicht unersetzliche) Ernährung liegt im Saugen an der Mutterbrust: Heraussaugen einer Flüssigkeit, die offensichtlich eine Zeit lang dazu ausreicht, dem Kind das Weiterleben zu ermöglichen, und die man durchaus als „Essen von einem Menschen“  bezeichnen kann (worüber wir im Frühjahr 2015 bereits diskutiert haben). „Künstliche“ Ersatznahrung für Kleinkinder wird unter Verwendung „natürlicher“ Stoffe hergestellt, fällt aber nicht in die Kategorie „Biofakt“, denn sie lebt und wächst nicht.

Während bei den natürlichen Entstehungen das Wesen oder die Form des neuen Lebewesens im Normalfall aus dem Samen des väterlichen Erzeugers stammt und ins neue Lebewesen eingeht (nach unserer heutigen Auffassung ebenso aus der mütterlichen Eizelle), stammt bei der künstlichen Bewirkung der Gesundheit deren Form oder Wesen aus dem Wissen, das in der Seele des Bewirkenden, des Arztes,  gegeben ist. Und Aristoteles macht einige Ausführungen dazu, wie diese Form da „logisch“ und „wissenschaftlich“ gegeben ist: als Gegenteil der Negation (Gesundheit als Gegenteil der Krankheit) und als kausale Stufung (Bewegung, Wärme, Gleichmaß), welche auch den Leitfaden für die entsprechende Bewirkung, also die ärztliche Tätigkeit, liefert.

Wie die Gesundheit im Wissen des Arztes muss auch die Form oder das Wesen des Hauses im Wissen des Architekten vorliegen – nämlich ohne Stoff. Das Haus, das in der Außenwelt entstehen soll, wird über Stoff verfügen, ebenso wie die zu erzeugende Gesundheit am Körper des zuvor kranken Menschen. In diesem Sinn entsteht Gesundheit aus Gesundheit und Haus aus Haus – und nicht ex nihilo.

Was die Herbeiführung der Gesundheit betrifft, so erwähnt Aristoteles auch die Möglichkeit der „spontanen“ Heilung und da scheint er den Körper des Kranken zum Agenten des Gesundwerdens zu erklären (was unserer heutigen Auffassung wohl entspricht). Eine andere Abweichung von der Alleinzuständigkeit der ärztlichen Tätigkeit haben wir in Buch VI gefunden, wo eine Gesundheit nicht wie normal von einem Arzt, sondern zufällig also „tychisch“ von einem Baumeister (und zwar nicht von seiner Baukunstkompetenz aus) bewirkt wird (1027a 1).

Dennoch gibt es ein Naheverhältnis zwischen Kunst und Zufall, wie Aristoteles in einem Agathon-Zitat erklärt: „Die Kunst liebt den Zufall und der Zufall liebt die Kunst.“ (Nik. Ethik 1040a 20). Das kann man auch in die Richtung interpretieren, dass das Kunstwerk ganz und gar von außen hergestellt wird: von Produzenten, die zwar die Form des Kunstwerks in ihrem Vermögen und Wissen haben, aber selber von ganz anderer Wesensbestimmung sind – nämlich von der Wesensbestimmung mit  Seele, Vermögen, Wissen. Wesen mit Seele sind solche, die nicht nur ihr eigenes Wesen haben, nämlich die Wesenheit namens Seele, sondern sie können in der Seele alle möglichen Sachen und Dinge haben, jeweils nur als Wesen ohne Stoff. So die Künstler und nicht nur die Künstler.

Aristoteles gibt nämlich folgende Definition der Seele, die jedoch keine Definition ist, sondern eher eine geradezu explosive Entgrenzung, die zunächst unsinnig erscheinen mag: „Die Seele ist in gewisser Weise alle Dinge.“ (De anima 431b 21). Die Seele ist eine Wesenheit, sie ist der wesentliche Bestandteil eines Lebewesens, dessen Ganzheit eher als Körper zu bezeichnen ist, ein durch so ein Wesen bestimmter Körper. Und speziell die Seele ist das Vermögen zu einer bestimmten Anwesenheit von allen Dingen. Sodass der Mensch ein Wesen mit einem bestimmten Wesen ist und aufgrund dieses speziellen Wesens auch alle anderen Wesen in ihm sind. So ein großzügiges oder aber chaotisches Wesen ist der Mensch. Und deswegen kann ein Mensch Künstler sein – Künstler in dem vormodernen und weiten Sinn des Wortes.

Sophia Panteliadou erwähnt dazu Joseph Beuys, der vor vierzig Jahren von der „modernen“ Kunst aus die Parole „Jeder Mensch ein Künstler“ lanciert hat und mit anthroposophischen Theoremen unterfüttert hat; damit wollte er den modernen Sinn des Wortes sprengen.[1]

Walter Seitter

Sitzung vom 24. Jänner 2018




Nächste Sitzung am 31. Jänner 2018

Samstag, 20. Januar 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1032a 27 – 35



Der französische Philosoph Bernard Sichère, der vor einigen Jahren eine Neuübersetzung der aristotelischen Metaphysik vorgelegt hat, hat jetzt mit Aristote au soleil de l’être eine Studie publiziert, in der er von der Verblüffung berichtet, die ihm der Philosoph in seinen späten Jahren bereitet habe.

Technischer nähert sich der Philosophiehistoriker Alain de Libera der Frage nach dem Umgang mit alten philosophischen Texten: ist es notwendig, diese Texte mit neuen Wörtern zu besprechen? Titel seines Buches: L’archéologie philosophique. Séminaire du Collège de France 2013-14 (Paris 2017).

Die Frage aus dem letzten Protokoll, in welchen Realitätsbereich – Natur oder Kunst (Kultur) – die Philosophie eingeordnet werden könnte, wird versuchsweise so beantwortet: wenn  Philosophie als eine menschliche Tätigkeit verstanden wird, dann fällt sie wohl unter techne, also  Kunst (Kultur). Bei näherer Umschau stellt sich heraus, dass das für Aristoteles gar nicht sicher ist. In dem nur vermutungsweise aristotelischen Protreptikos werden Philosophie und techne nach ihren jeweiligen Wissensformen unterschieden, da die eine auf unveränderliche Prinzipien gerichtet sei, die andere auf die veränderliche Natur. Also zwei Formen von theoria.  Außerdem umfasst das menschliche Tun nicht nur das von der techne abhängige poiein,  sondern auch die mit den Tugenden verbundene praxis.

Die beiden Einwände stellen allerdings die in unserem Text enthaltene Auffassung in Frage, wonach physis und techne alle Bereiche des Entstehens abdecken.

Alle Entstehungen, die nicht zur Natur gehören, werden nun als Bewirkungen (poieseis) der Kunst oder der Fähigkeit (Vermögen) oder der Überlegung zugeordnet. Die Frage ist, ob Aristoteles nun seine kurz zuvor gegebene Bestimmung – Entstehungen entstammen der Natur oder Kunst – modifiziert, oder ob er mit Fähigkeit bzw. Überlegung nur die Kunst erläutert. Das doppelte „oder“ legt die erste Annahme nahe und könnte darauf hinauslaufen, dass neben der Kunst auch das Handeln und die Wissenschaft gemeint sind; der Kontext und die Parallelstelle Met. VI, 1025b 22ff. sprechen eher für die zweite Annahme, also für eine feste Zuordnung von techne und poiesis (die uns ja in der Wissenschaftsklassifikation schon begegnet war).

Der folgende Satz erweitert die natürlichen und künstlichen Entstehungen bzw. Bewirkungen durch spontane und tychische, die ähnlich (oder fast ebenda) vorkommen (wobei die aristotelische Satzkonstruktion so verdichtet ist, dass das Verhältnis zwischen den vier Möglichkeiten nicht ganz klar wird).

Automaton und tyche werden im Zweiten Buch der Physik ausführlich erklärt und zwar als zwei zusätzliche Verursachungsweisen – zusätzlich zu Natur und Kunst beziehungsweise in den Bereichen von Natur und Kunst aber ohne deren Wesensgesetzlichkeit. Zusätzlich auch im Sinn von „zufällig“ und akzidenziell, während die Verursachungen in Natur und Kunst jeweils von entsprechenden Wesen ausgehen (und daher intelligibler sind). Dabei steht die spontane Entstehung der Natur näher, wie der berühmte Fall der „spontanen Zeugung“ zeigt: ein Lebewesen geht aus etwas hervor, was nicht wesensgleich mit ihm ist, also nicht aus dem Samen eines artgleichen Lebewesens.  Die tychische Entstehung kommt vornehmlich im Bereich des poietischen und praktischen, also menschlichen Tuns vor: ein Zufall verändert die Situation.

Wir fragen uns, ob der Zufall auch in der Kunst (im engeren also modernen Sinn des Wortes) eine Rolle spielt, und stellen fest, dies treffe für manche Richtungen der modernen Kunst (im engsten Sinn) tatsächlich zu. Mit seinem Begriff des Tychischen scheint also Aristoteles eine Kunst zuzulassen, die seinem strengen Begriff von Kunst nicht entspricht: denn deren Form muss in der Seele (wohl des Künstlers) gewesen sein. Form oder „erste Wesen“. Diese Begriffsverwendung dreht die Unterscheidung von erster und zweiter Substanz in der Kategorienschrift um: jetzt ist das „erste Wesen“ die in der Seele vorausgesetzte Form. Eine psychologisierende Platonisierung?

Walter Seitter

Sitzung vom 17. Jänner 2018



Nächste Sitzung am 24. Jänner 2018

Montag, 15. Januar 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1032a 16 – 26


Bereits am 6. Dezember 2017 haben wir angefangen, den Abschnitt 7 zu lesen, in dem eine neue Einteilung vorgetragen wird: Natur, Kunst(fertigkeit), von selber (1032a 11). Diese drei Begriffe bezeichnen Realitätsbereiche – jedenfalls die beiden ersten können ziemlich leicht mit heute üblichen Begriffen identifiziert werden: etwa Natur und Kultur. Es handelt sich um Realitätsbereiche, die sich in der Gliederung der Wissenschaften, auch der Museen, vielleicht der Ministerien spiegeln. Und es gibt auch Untergliederungen: so hat sich die Kunst im griechischen Sinn in der Moderne gespalten in Kunst und Technik und, wenn wir uns die Frage stellen, in welche aristotelische Sparte etwa die Philosophie gehört – was würden wir da antworten?

Die beiden aristotelischen Realitätsbereiche Natur und Kunst werden auf der Ebene des Entstehens angesiedelt und folglich stellt sich die Frage, wo der Begriff des Entstehens seinen Platz hat. Er gehört zu den ontologischen Begriffen, denen die Seinsmodalitäten entsprechen. Die wichtigsten Seinsmodalitäten waren bisher Wesen oder Substanz und die Akzidenzien - allesamt in den zehn Kategorien zusammengefasst. Es sind aber bereits einige zusätzliche dazugekommen und sie werden im Abschnitt 2 von Buch IV genannt (die dortigen Abschnitte 1 und 2 enthalten nämlich die formelle Gründung der Ontologie, was zu bemerken wichtig ist, damit die Textmasse des Buches namens Metaphysik eine Gliederung bekommt). Die dort genannten zusätzlichen Seinsmodalitäten heißen etwa „Weg zum Wesen“, Vergehen, Privation (der ein Abschnitt in Buch V gewidmet ist), Bewirkendes oder Erzeugendes – und sogar das Nicht-seiende wird noch dazugenommen (1003b 6ff.) Und etwas später, in den Abschnitten 4 und 5, wird auch die Möglichkeit genannt (1007b 29, 1009a 35). Aus dieser Zusammenstellung lässt sich ohneweiteres erschließen, dass das Entstehen oder Werden ebenfalls eine Seinsmodalität ist und zwar eine entscheidende, nämlich: anfangen zu sein. Die merkwürdige Formulierung „Weg zum Wesen“ ist vielleicht sogar direkte eine Umschreibung dafür.

Die Nennung der Seinsmodalitäten hat also etwas Offenes aber die Ebene als solche ist bestimmt und die aristotelische Ontologie ist dadurch gekennzeichnet, dass der Primat des Wesens oder der Substanz aufrechterhalten wird. Dieser Primat bedeutet, dass dem Wesen „mehr“ Sein zugesprochen wird, als den Akzidenzien, dem Werden oder dem Möglichen, und dass dem Wesen Selbständigkeit, den anderen Modalitäten Abhängigkeit zugesprochen wird. Diese meine Redeweise entspricht genau dem, was Aristoteles sagt, verwendet aber politischere Wörter.

Aristoteles hebt sich damit von Parmenides ab, der nur einem  vollkommen Seienden Sein zugesprochen hat, wie auch von Heraklit, der das Sein ins Werden aufgelöst hat.

Die Ebene der Seinsmodalitäten hebt sich ab von den drei oder vier Realitätsbereichen, die nun im Abschnitt 7 eingeführt werden: Natur, Kunst, „von selber“ und Zufall (1032b 26ff.)

Bisher war in der Metaphysik nur der Begriff „Natur“  vorgekommen (so in Abschnitt 4 von Buch V) – und zwar in zwei Bedeutungen. Als Synonym für Wesen ist er ein ontologischer Begriff, als Bezeichnung für das pflanzenhafte und animalische Wachsen steht er für den Realitätsbereich, den wir auch heute noch so nennen und der für Aristoteles paradigmatische Bedeutung hat, wenngleich das Artefakt „Schiff“ für die seefahrenden Griechen ebenfalls allergrößte Bedeutung gehabt haben muß, wie sich daraus erschließen lässt, dass in der Metaphysik das Artefakt „Haus“ eine große Rolle spielt und zwar als ein Fall von „Wesen“. Lucie Strecker hat übrigens am 6. Dezember mit den beiden Ausdrücken „Biofakt“ und „Artefakt“ eine neuere Terminologie für Natur und Kunst eingebracht. Das Element „arte“ in „Artefakt“ enspricht genau dem griechischen techne.

Und der Rückgriff auf Helmuth Plessner am 13. Dezember hat gezeigt, dass seine Bestimmung des „Lebewesens“ durch die drei Aspekte der Dinghaftigkeit, des ständigen Werdens und der ständigen Potenzialität verschiedene Seinsmodalitäten zur Koinzidenz bringt. Möglicherweise gilt Ähnliches für die Bestimmung des  „Lebens“ bei François Jullien. Die Ebenen der Seinsmodalitäten und der Realitätsbereiche schließen sich nicht aus sondern ein.


Walter Seitter 
Sitzung vom 10. Jänner 2018


Ein älteres Buch zur Aristoteles-Interpretation:

Heinz Happ: Hyle. Studien zum aristotelischen Materie-Begriff Berlin – New York 1971)

Und ein neues zur sachlichen Vergleichung:

Robert Hugo Ziegler: Elemente einer Metaphysik der Immanenz (Bielefeld 2017)




Nächste Sitzung am 17. Jänner 2018