τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 24. Juni 2020

In der Metaphysik lesen (1061b 17 – 20)

Es kommt vor, dass man sich in der Diskussion, zu der das Lesen in der Metaphysik Anlaß gibt, am Begriff des Wesens festbeißt, der zwar ein Hauptbegriff innerhalb der ontologischen Problemstellung ist – aber nur einer neben dem Grundwort „Seiendes“, neben anderen Hauptbegriffen wie Vermögen und Verwirklichung, einheitlich und vielheitlich, wahr und falsch ....  Und die ontologische Problemstellung – eine aristotelische Erfindung - ist auch gar nicht das einzige Thema der sogenannten Metaphysik. Deren Hauptfrage geht vielmehr auf die Prinzipien, die ersten Ursachen dessen, was es gibt. 

Die sorgfältige Ausarbeitung oder gar Beantwortung dieser im Buch I skizzierten Frage (die Aristoteles von diversen Altvorderen übernommen hat) wird nun seit Buch II immer nur peripher angeschnitten, von Buch IV bis Buch X ist sie mit der Aristoteles-Erfindung „Ontologie“ zur Seite geschoben worden. Worauf das jetzt gelesene Buch XI hinausläuft, müssen wir erst sehen – denn um es lateinisch zu sagen: Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensibus. (Hoffentlich wird dieser Satz jetzt nicht für „theologisch“ gehalten.)  

Der aristotelischen Ontologie scheint eine katechontische Funktion zuzuwachsen: Hinausschiebung der ersten Frage und ihrer Beantwortung. Sie ist ja selber ein Spätling – hat sie doch ihren Namen und somit ihre offizielle Existenz erst im 17. Jahrhundert nach Christus bekommen. Aristoteles: ein später und immer noch späterer und folglich vielleicht erst jetzt oder gar noch später Kommender.

Die Ontologie und überhaupt der Aristoteles gewissermaßen als Neulinge, als Künftige ... Wer da jetzt schon alles weiß, ist irgendwie zu schnell gewesen.  

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Die Wissenschaft, um deren Gründung es hier geht, wird nun wieder als „Erste Philosophie“ bezeichnet und definiert wird sie durch die Abgrenzung von zwei anderen Wissenschaften, von denen bereits im vorigen Abschnitt die Rede war – nämlich von der Mathematik und der Physik. Aristoteles wirkte nicht in irgendeiner grauen Vorzeit, in der „alles eins“ war, sondern in einer bestimmten Zeit, in der bestimmte verschiedene Wissenschaften schon ausgebildet waren: die Mathematik seit langem bei fremden Völkern und die Physik immerhin schon seit über hundert Jahren bei den Griechen, bei den sogenannten Naturphilosophen und bei Aristoteles selber, dessen Vorlesung über Physik damals bereits vorlag und die er öfter erwähnt. Im vorigen Abschnitt hat er die „Entstehung“ der Mathematik wissenschaftstheoretisch rekonstruiert: als Abstraktionstätigkeit, die von den sinnlichen Dingen gewisse Eigenschaften, nämlich solche, die dann später (im 17. Jahrhundert nach Christus) als „sekundäre Qualitäten“ bezeichnet werden sollten, abzieht und nur mehr die rein quantitativen übriglässt. Damit wird im Grunde genommen der Physik ein sachlicher Vorrang vor der Mathematik eingeräumt und in der aristotelischen Terminologie ist es die Physik, die von Wesen, von existierenden Wesen handelt.

(Eine große Klammer zum „Existieren“. 

Es stimmt, dass Aristoteles dieses Wort nie ausgesprochen oder hingeschrieben hat. Dieses Wort gab es aber wohl schon zu seiner Zeit – und zwar ein paar hundert Kilometer westlich von Griechenland. Wörter existieren innerhalb von Sprachen, in denen sie gesprochen, vielleicht geschrieben werden. Das Wort „existere“ ist ein Mitglied der lateinischen Sprache, die im 4. Jahrhundert vor Christus vielleicht(!) noch nicht weit über Italien hinaus verbreitet war, denn die römische Expansion stand erst bevor. Hingegen war die griechische Sprache damals schon sehr weit herumgekommen und weitum implantiert, auch in Süditalien und Sizilien gab es längst blühende griechische Kolonien, Tyrannen und Philosophen. Platon war schon dreimal in Sizilien gewesen, um einem griechischen Herrscher das Philosophieren und gute Regieren auf Griechisch beizubringen. Erfolg ungewiß. 

Nun wissen wir bekanntlich schon, dass der Text, den wir jetzt lesen, zwar von Aristoteles im 4. Jahrhundert geschrieben worden sein dürfte, aber erst im 1. Jahrhundert seine bis heute erhaltene Fassung bekommen hat – durch Andronikos von Rhodos und vielleicht in Rom. Die Redigierung und die Lektüre und die Kommentierung sowie die Übersetzung der Schriften des Aristoteles spielte sich dann in einem politischen und kulturellen Großraum ab, der im wesentlichen zweisprachig war, wie Paul Veyne betont hat, der von einem „griechisch-römischen Reich“ sprach. 

Ich möchte nun die Frage aufwerfen, ob es bei den Griechen einen Begriff des Existierens gab bzw. welche griechischen Wörter in die Nähe dieses Begriffs angesiedelt sind.

Natürlich fällt einem da der Begriff des Seienden ein, der schon vor den Philosophen, dann bei Parmenides und Platon und vor allem bei Aristoteles eine große Rolle gespielt hat. Und dies wohl auch deshalb, weil es im Griechischen kein exaktes Äquivalent für die modernen Wörter „wirklich“ oder „real“ gab, an die wir denken, wenn wir „seiend“ lesen. 

War das Seiende nur ein Notbehelf für jene noch nicht vorhandenen Wörter? Eine solche Frage setzt zu Recht voraus, dass eine vom Latein ja nicht allzu weit entfernte Sprache wohl doch über Wörter verfügen muß, die dieses Bedeutungsfeld vertreten. Aber andererseits gehört es eben zur Pluralität der Sprachen, dass nicht jedem Wort der einen Sprache ein exaktes Äquivalent in einer anderen Sprache und noch dazu viel späteren Sprache gegenübersteht. 

Das Bedeutungsfeld, das unseren modernen Wörtern real, wirklich, existieren entspricht, war im Altgriechischen nicht nur mit dem „einai“ und dem aktiven Präsenspartizip „on“ vertreten, sondern auch mit mit dem Verb „hyparchein“, das unserem Existieren sehr nahe kommt (und im Neugriechischen direkt dafür steht). Bei Aristoteles kommt dieses Wort öfter vor – so in dem Satz 1048a 31 „Die Verwirklichung ist das Existieren der Sache.“ Dieser Satz ist deswegen so wichtig, weil er noch ein anderes, wenn man will, ein drittes Wort für das gemeinte Bedeutungsfeld namhaft macht, um es zu definieren. Und zwar im Buch IX, das insgesamt den beiden ontologischen Hauptbegriffen des Vermögens und der Verwirklichung gewidmet ist. 

Jetzt haben wir also schon drei lexikalisch weit auseinander liegende Wörter für das eine Begriffsfeld gefunden und wir können uns klar machen, wie sich die drei voneinander unterscheiden. Hyparchein heißt faktisch vorhanden sein, bestehen, existieren – und speziell: jemandem zukommen. Energeia ist kein Verb, hat aber eine spezielle verbale Nuance: nämlich den Übergang aus einem vorausgesetzten Hof der Möglichkeiten zu einer Wirklichkeit.



Die altgriechische Sprache und ihre Schriftsteller (nicht nur Philosophen) haben dem Wort für Sein und seinen Abwandlungen einen gewissen Vorrang eingeräumt. Es ist das einfachste von allen und das nuancenreichste: es bedeutet nicht nur existieren sondern auch dies sein und das sein. Das Präsenspartizip hat die Eigenschaften eines knappen Adjektivs, aus ihm lässt sich das echte Substantiv ousia bilden – so wie aus philos die philia. 

Welches der drei griechischen Wörter steht dem Existieren am nächsten? Die lateinischen Aristoteles-Übersetzungen haben erst spät auf „existere“ zurückgegriffen. Und dies obwohl es im aristotelischen Vokabular noch einen weiteren Begriff gibt, der diese Richtung anzeigt: choriston – gesondert, getrennt, abgetrennt ist ein Adjektiv und besagt, dass etwas nicht nur irgendwo enthalten oder impliziert ist, sondern „extra“ vorhanden ist, ins Außen vorstößt, deutlich sich vom übrigen absetzt. 


Es trifft sich, dass in der heutigen FAZ ausführlich über die 28-bändige Gesamtausgabe von Reiner Schürmann berichtet wird (der mich 1988 an die New School for Social Research in New York eingeladen hat). Schürmann hat im Anschluß an Martin Heidegger Ontologie und Prakische Philosophie viel enger als Aristoteles aufeinander bezogen und hat in dieser Absicht die Geschichte der Philosophie neu aufgerollt, wobei er auch der Unabhängigkeit der Substanzen in der Ontologie des Thomas von Aquin großes Gewicht beimisst.[1] Diese aber ist gerade im „Gesonderten“ des Aristoteles begrifflich vorformuliert worden: das Wesen zeichnet sich durch sein Existieren, sein „Extra-Sein“ aus, auch wenn damit kein platonisches Jenseits anvisiert ist.  

Der eher moderne Begriff des Existierens ist also bei Aristoteles schon ziemlich ausgeprägt – hauptsächlich wird er durch seiend, sein, Wesen repräsentiert (daher denn auch die späte Begriffsbildung „Ontologie“). Gegen den selbstverständlichen Imperativ des Getrenntseins argumentiert in einem ökologischen Sinne Charles Eisenstein.)

Damit schließe ich die große Klammer zum Existieren und die Lektüre im Buch XI wird nächste Woche fortgesetzt. 

Walter Seitter


[1] Siehe Tobias Keiling: Heidegger nach links gekehrt. Zur Werkausgabe des Philosophen Reiner Schürmann, in FAZ 24. Juni 2020.

Mittwoch, 17. Juni 2020

In der Metaphysik lesen (1061a 19 – 1061b 17)

 In den letzten Abschnitten von Buch X war von verschiedenen an Menschen vorkommenden Akzidenzien – schwarz oder weiß oder andersfarbig bzw. männlich oder weiblich – die Rede.  Jetzt geht Aristoteles auf ein anderes durch Gegenteiligkeit oder Privation gekennzeichnetes Eigenschaftspaar ein: gerecht – ungerecht. Dabei greift er auf ausführlichere Behandlungen derselben Thematik zurück, die sich passenderweise in der Ethik finden: EN, V, 1129b 11ff.

Wieder einmal erweist sich die sogenannte Metaphysik als ein nachträglich geschriebenes, ein Nachbetrachtungs-Werk – wobei sich die Frage stellt, ob diese Nachträge nur Bekanntes, Allzu-Bekanntes wiederholen oder ob diese Wiederholungen doch etwas Neues finden wollen bzw. tatsächlich finden. Da die Wiederholungen in aller Regel kürzer ausfallen als die wiederholten Ausführungen gewesen sind, wird sich die Neufindung eher auf einer anderen Ebene abspielen – vielleicht einer Ebene der Zusammenschau, der Gemeinsamkeit.  

In der Nikomachischen Ethik unterscheidet Aristoteles zwei Hauptteile der Gerechtigkeit: die Konformität mit den Gesetzen und die Orientierung an der Gleichheit. Hier unterscheidet er schematisch zwischen der Konformität mit bestimmten Gesetzen und derjenigen mit anderen. „Gerecht“ wird genannt, wer sich an bestimmte Gesetze hält, und wer sich nur an diese hält, ist gerecht in einem partiellen Sinn. Folglich kann er, wenn er die anderen Gesetze nicht respektiert, auch als ungerecht gelten – in einem partiellen Sinn. Und daher kann jemand mehr oder weniger gerecht sein.

Das war ja schon mehrmals als für die Akzidenzien typisch behauptet worden – im Unterschied zur Wesensbestimmung „Mensch“, die „man“ notwendigerweise gänzlich innehat, auch wenn man sich ganz und gar ungerecht verhält bzw. katastrophal agiert. 

Daß das für die Hautfarben ebenso gilt, liegt ja wohl ganz wörtlich auf der Hand, da die Benennung „weiß“  für  menschliche Hautfarbe phänomenal kaum je zutrifft. Da wird mit „weiß“ ganz konventionell ein ziemlich weites Spektrum von irgendwie hellen Hautfarben bezeichnet, die mit geographischen, ethnischen, womöglich auch sozialen Zuschreibungen verknüpft sind (und diese sogenannte weiße Hautfarbe kann im Zuge von modisch erwünschter Bräunung ganz schön dunkel ausfallen). Wenn ich im Protokoll vom 10. Juni geschrieben habe, dass Aristoteles in 1058b 1ff. die Gegebenheit von Rassen kundtut, so ist das irreführend, weil er ein solches Wort wie „Rasse“ gerade nicht einführt, welches ja eine subspezifische Spezies suggeriert. Eher wehrt er so eine Begriffsbildung ab, wenn er betont, die schwarze Hautfarbe konstitutiere keine eigene Spezies, auch wenn die Träger dieser Hautfarbe „mit einem eigenen Ausdruck“ bezeichnet werden. Damit antizipiert er oder vielmehr zitiert er aus seiner eigenen Erfahrung die Wortreihe schwarz, Schwarze, Neger ... (... Rasse). 

Im folgenden (1061a 29ff.) versucht Aristoteles, die Tätigkeit der Mathematik verständlich zu machen, indem er von der Betrachtung der sinnlichen Dinge und Eigenschaften ausgeht, welche ja gewissermaßen die mehr oder weniger bekannte, die alltägliche Umwelt – sowohl in seiner wie auch in unserer Zeit – ausmacht. Dinge und Eigenschaften, die man „physisch“ nennen kann, auch wenn sie nicht nur der Natur entstammen. Wenn man bestimmte Eigenschaftsdimensionen wie Gewicht, Konsistenz, Temperatur davon weglässt und nur Quantum und Kontinuum betrachtet und misst, dann bleiben vielerlei Objekte über, die man mit der Geometrie erkennen kann - zum Beispiel Felder, Tempel, Sterne. Beispiel für eine weitreichende aber keineswegs totale Wissenschaft, die mit dem komischen Anspruch auftritt, „alles“ erfassen zu können. 

Eine Wissenschaft, die schlechthin alles erfassen zu können beansprucht, gibt es bei Aristoteles nicht. Mag sein, dass so etwas vor ihm schon versucht worden ist – nach ihm dürfte es etwa ab dem 17. Jahrhundert nach Christus mehrmals konzipiert worden sein.[1]

Diese Bemerkung gilt vor allem für die jetzt ins Auge gefasste Wissenschaft: „Denn die Akzidenzien des (Seienden), insofern es seiend ist, und die Gegensätze desselben, insofern es seiend ist, zu betrachten, ist die Aufgabe keiner anderen Wissenschaft als der Philosophie. Denn der Naturwissenschaft kann man die Betrachtung des Seienden, insofern es seiend ist, nicht zuteilen, vielmehr nur des Seienden, insofern es teilhat an Bewegung. Die Dialektik und Sophistik handeln zwar von den Akzidenzien des Seienden, jedoch nicht, insofern es seiend ist, aber auch nicht vom Seienden selbst, insofern es seiend ist.“ (1061b 4ff.)

Mit der Philosophie wird eine Wissenschaft genannt, die noch nicht bereits eingeführt ist – wie die Mathematik oder die Physik, sondern eine, die erst in diesem umfangreichen Buch „gesucht“ wird: anfängerhaft in Buch I und II umrissen, in Buch III als Verkettung von Aporien schematisiert, in Buch V als Aneinanderreihung von 30 Begriffsanalysen ausgebreitet – in Buch IV formell als neue Wissenschaft definiert: „Wissenschaft vom Seienden als seienden und den ihm an ihm selber zukommenden Bestimmungen“ (1003a 21).

Aber die Rekapitulation hier im Buch XI unterscheidet sich merklich von der Ersteinführung im Buch IV – wo vor allem die kategoriale Ontologie mit Wesen und Akzidenzien programmiert worden ist. Hier wird das Wesen – wieder – ausgelassen und die Akzidenzien direkt dem Seienden zugeordnet. Das heißt: hier werden alle Achsen der Ontologie bündig zusammengefasst und die „Akzidenzien“ in einem weiteren Sinn verstanden: Wesen und Akzidenzien, Werden und Vergehen, Möglichkeit und Wirklichkeit, wahr und falsch, ein- und vielheitlich. 

Eine ungeheure Bündelungskraft (wie sie übrigens am Anfang von Buch X dem Einen als solchen zugesprochen worden ist) liegt in dieser Reprise und es ist kein Zufall, dass sie sofort politisch, nämlich erkenntnispolitisch gegen eine Front aufgestellt wird, die mit zwei Parteien bezeichnet wird. „Dialektik“ und „Sophistik“ sind nämlich nicht – wie Mathematik und Physik - zwei Disziplinen, die sich mit Teilaspekten des Seienden beschäftigen. Nein, sie haben ebenfalls das Seiende überhaupt auf ihre Fahnen geschrieben – doch sie verfehlen den entscheidenden Punkt, den Aristoteles mit der als-Verdoppelung markiert: das Seiende als seiendes. 

Diese entscheidende Facette, die den Gegenstand „Seiendes“ repetitiv und reflexiv auf ihn selber zurückwirft, in ihn selber hineinbohrt und die nur mit einer Verdoppelung ausgedrückt werden kann – wie lässt sich heute diese Facette begreifen?

Aristoteles macht sie hier zum punctum einer inter- bzw. innerphilosophischen Konfrontation, welche an die Problematik des letzten Postskriptums anschließt. Diese Konfrontation unterscheidet sich allerdings in Nuancen von derselben Frontstellung, die Aristoteles im Buch IV (1004b 9ff.) aufgeworfen hat. Dort wird die Abweichung der Dialektiker und Sophisten darin gesehen, dass sie den Primat des Wesens verkennen, und deswegen werden sie dann auch noch moralisch disqualifiziert – ja als Schein-Philosophen abgeurteilt. 

Diese Betrachtung des Seienden als seienden schließt keinen Realitätsbereich aus, aber sie kapriziert sich auf einen ganz eigenen Gesichtspunkt. Sie betrachtet alle Dinge in ihrer Seiendheit, welche sich selber in einer weiten Vielfalt auseinanderlegt, und außerdem betrachtet sie das Seiende selber, sofern es seiend ist.

Damit sind genau genommen zwei Themen in Aussicht genommen. Mit dem einen dürfte die Ontologie gemeint sein, die bisher schon ausführlich entfaltet worden ist – und mit dem anderen wohl das sogenannte abgetrennte ewige Wesen, nach dem wie neulich angedeutet die besten Denker suchen. 

Aristoteles kennzeichnet diese beiden Themen in einem Atemzug und mit fast identischem Vokabular (das in meinen Ohren immer noch fremdartig klingt). Umso wichtiger ist es, sie auseinanderzuhalten. Wenn man (damit meine ich die heutigen Leser) bei Aristoteles alles mit allem verwechselt, wird er unverständlich, absurd, lächerlich. 

Walter Seitter

PS.:

„Entrümpelt von dem historistischen Unsinn, man dürfe keine zeitgenössischen Begriffe für die Übertragung antiker Texte verwenden“, hat laut Thomas Meyer Dorothea Frede die deutsche Fassung der Nikomachischen Ethik von Aristoteles in ihrer Übersetzung, die 2020 in Berlin erschienen ist.



[1] Ich denke etwa an die von Johann Amos Comenius ausgehende Pansophie-Bewegung. Siehe Walter Seitter: Menschenfassungen: 87ff.

Donnerstag, 11. Juni 2020

In der Metaphysik lesen (1060b 31 - 1061a 18)


Präskriptum:

Am 5. Juni, also nach dem letzten Protokoll (vom 3. Juni) sah  ich den Kommentar, den Wolfgang Koch zum Protokoll vom 27. Mai gepostet hatte.

Darin bezieht er sich auf mein Zitat von 1060b 24f., wo Aristoteles die Frage aufwirft, ob ein ewiges Wesen als erstes Prinzip angenommen werden müsse oder nicht; die negative Antwort hält er einen Augenblick lang als Möglichkeit aufrecht, bezeichnet sie dann aber doch als unstatthaft, da ein solches Prinzip von den begabtesten und begnadetsten Denkern als ein Seiendes gesucht werde.

Darin sieht Wolfgang Koch einen „engen eurozentrischen Blickwinkel auf die Welt“, der durch 1800 Jahre buddhistischer und hinduistischer Philosophie längst überholt sei. Und anschließend verwechselt er dieses gesuchte ewige Wesen, mit den „empirischen Personen und Dingen“, die nach Aristoteles angeblich unveränderlich seien, während sie nach Wolfgang Koch gar kein Wesen haben.

Rein zufällig habe ich im Protokoll vom 3. Juni die Problematik des aristotelischen Essenzialismus selber thematisiert und vor Pauschalisierungen gewarnt. Wie man nachlesen kann. 

Mir scheint, die Schwierigkeit bei diesem langwierigen „Lesen in der Metaphysik“ und besonders im Buch XI liegt auch darin, dass man meint, es sei schon alles gelesen und verstanden worden – und dabei die kleinen Abwandlungen und Ergänzungen (sogar zu so etwas wie unterschiedlichen Rassen) übersieht,  die in Wiederholungen oder Rückgriffen dann doch auftauchen.

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Im folgenden greift Aristoteles auf das Buch IV zurück, wobei die Wissenschaft vom Seienden als solchen jetzt dem „Philosophen“ zugeordnet wird. Dabei geht es um die Lehre von der vielfachen Bedeutung des Seienden, was auch heißt, dass das „Seiende“ kein eindeutiger Begriff ist – aber auch kein schlechthin vieldeutiger. Seine Bedeutungsnuancen haben einen gemeinsamen Bezugspunkt, insofern sie entweder eine Affektion oder einen Zustand oder eine Anlage (Anordnung) oder eine Bewegung oder etwas anderes derartiges – und zwar jeweils des Seienden - meinen. Diese hier nur angefangene Nennung bezieht sich auf die Akzidenzien, die im Buch IV und erst recht in den „Kategorien“ vollständiger aufgezählt worden sind. Das Merkwürdige an diesem Rückgriff: der gemeinsame Bezugspunkt wird hier nicht als Wesen bestimmt, welches ja in der offizellen Doktrin als Hauptkategorie etabliert wird. Diese scheint hier schlicht und einfach auszufallen und die Akzidenzien werden dem Seienden als solchen zugeordnet, untergeordnet. (1060b 30ff.).

Mir scheint, dass dieser Ausfall des Wesens, diese gravierende Abweichung in der Darstellung der kategorialen Ontologie ein textuelles Ereignis ist, welches nicht übersehen werden sollte. Wenn man Philologe ist, kann man darauf mit der Frage reagieren, wie diese Passage und ihre Situierung im Gesamttext texthistorisch zu beurteilen ist. Und diese Frage würde wohl das ganze Buch XI betreffen, das wie erwähnt hauptsächlich aus Rückgriffen und Rekapitulationen besteht, welche allerdings im Unterschied zu den Büchern I und IV direkt in die Suche nach ersten Prinzipien eingebaut sind. Mir und allen anderen heutigen Lesern liegt nur der Text vor, der erst im 1. Jahrhundert diese Fassung bekommen hat.

Es empfiehlt sich hier ein Positivismus der Fakten und wenn so ein positivistischer Blick feststellt, dass da die kategoriale Ontologie ohne die Hauptkategorie „Wesen“ und nur mit ein paar Akzidenzien (ohne die prominentesten wie Qualität, Quantität, Relation ...) resümiert wird, dann nimmt er das zur Kenntnis. Allerdings tritt hier das Seiende als solches, also das subkategoriale Grundwort der Ontologie, gewissermaßen an die Stelle des Wesens und dieser Grundbestimmung mit der tautologischen „als“-Verdoppelung werden die genannten Akzidenzien sowie die ungenannten zu- und untergeordnet.

Daß die erste Ontologie-Achse nun ohne die Hauptkategorie „Wesen“ vorgestellt wird, zeigt deutlich, dass die Abweichung vom Standard kein blinder Zufall ist, eher eine wissende Zugabe, eine textuelle Aktion. Der Text weiß an dieser Stelle, dass die von ihm durchgeführte Suchbewegung schon mehrere Stadien durchlaufen hat, dass die Konstruktion der Ontologie schon mehrere Achsen eingerichtet hat und so wird nun die kategoriale Ontologie-Achse gleich mit einer anderen parallelisiert, die von der Grundbestimmung des Einen ausgeht (wobei auch einige Quasi-Akzidenzien des Einen – die Unterschiede, die Gegensätze, die Menge dazugenommen werden).

Umso mehr stellt sich die Frage, ob in diesem Abschnitt immer noch das Prinzip als Suchbegriff eine Rolle spielt. Von einer Suche nach einem Prinzip, das ein ewiges Wesen sein soll, ist da bestimmt keine Rede. Ist das „Seiende“ als Prinzip zu bezeichnen? Prinzip von was und für was? Für die untergeordneten Akzidenzien, von denen ein paar aufgezählt worden sind? Wäre das Wesen, das hier einfach ausgelassen worden ist, eher als Prinzip zu betrachten? Und zwar das Wesen überhaupt – sei es nun vergänglich oder nicht?

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An dieser Stelle muß die Lektüre einen Fehler eingestehen und rückgängig machen. Denn sie hat den Text ab 1059b 14 nur sehr lückenhaft zur Kenntnis genommen.

Zurück zur gesuchten Wissenschaft und zur Feststellung, dass sie nicht von den sinnlich erfassbaren Wesen handelt, die vergänglich sind. Aber die gibt es trotzdem – denn die „gesuchte Wissenschaft“ ist keineswegs die einzige, sie ist nur diejenige, die noch nicht vollständig ausgebildet ist.

Die Pluralität der Wissenschaften wird von Aristoteles vorausgesetzt, wie wir schon oft feststellen konnten. Sie reicht sogar weit über die „theoretischen“ Wissenschaften hinaus, welche allerdings hier das Umfeld bilden. Frage, welche Wissenschaft für den „Stoff“, also die Gattungen der mathematischen Dinge, zuständig ist. Nicht die Physik, die sich mit den Dingen beschäftigt, die in sich selber das Prinzip der Bewegung und der Ruhe enthalten (hier bedeutet „Prinzip“ etwas ziemlich Physisches). Aber auch nicht die Wissenschaft, die sich mit dem Beweis und der Wissenschaft selber beschäftigt (offensichtlich die Logik oder Wissenschaftstheorie). Die Grundlagenforschung für die Mathematik sei Sache der „vorliegenden Philosophie“. (1060a 22)

Nächste Frage: ob etwa die sogenannten „Elemente“, die in den zusammengesetzten Dingen enthalten sind, die Prinzipien sind, welche hier gesucht werden sollen. (1060a 23f.). Antwort: in der Wissenschaft geht es mehr um das Allgemeine als um das Konkrete – also sollten die ersten oder höchsten Gattungen untersucht werden. „Dies aber wären das Seiende und das Eine. Denn davon könnte man noch am ehesten annehmen, dass sie alle Dinge umfassen und am meisten Prinzipien gleichen, weil sie das der Natur nach Erste sind; denn gehen sie zugrunde, wird auch das Übrige mit aufgehoben.“ Der letzte Satz deutet klipp und klar an, woran man im Ernstfall ein Prinzip erkennt.

Wenn „alles seiend ist und eines“, so scheinen das Seiende und das Eine die höchsten Gattungen zu sein – sie sind es aber doch nicht im eigentlichen Sinn, da sie die Unterschiede nicht außerhalb ihrer haben, wie das sonst bei Gattungen der Fall ist. Sie inkludieren ihre Unterschiede – flexible, elastische Begriffe. Flexible Gattungen. Übergattungen. Wie wir das vom Seienden ja schon öfter festgestellt haben – das jedoch gleichzeitig als subkategoriale Bestimmung gelten kann.

Die höchsten Gattungen im strikten Sinn sind zehn: die Kategorien (wobei die Zahl zehn nicht in Stein gemeißelt ist – hier ist alles aus Papier und nur haltbar, wenn es erhalten wird). Wobei das Wesen als Hauptbestimmung gegenüber den Akzidenzien noch zusätzlich in die Rolle eines Prinzips gerät.

Die damit gemeinten Prinzipien sind Allgemeinheiten, die nur in Begriffen bezeichnet werden. Und die zu den empirisch vorkommenden Dingen nichts hinzufügen – nur ihnen zukommende Beschaffenheiten meinen.

Anders dasjenige gesuchte Prinzip, das außer den empirischen Dingen ein ewiges selbständiges Wesen sein soll, und dessen Beschaffenheit extra zu bestimmen ist und dessen Existenz negativ oder positiv ausgesagt wird.

Damit schließt sich der Kreis zum Abschnitt 2 von Buch XI, der am 27. Mai gelesen worden ist.

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Und wieder vorwärts zu der halb verstümmelten, grob verstümmelten, halb angereicherten Rekapitulierung der Ontologie im Abschnitt 3 von Buch XI.

Mit seinen Rückgriffen und Rekapitulationen, Abwandlungen und Umstellungen erweist sich das Buch XI als eine späte und nervöse, eine aporetisierende und problematisierende Phase oder Zone der gesamten Unternehmung sprich Suchbewegung. Sie bringt das Kunststück fertig, in der monologischen Form der Abhandlung eine Art von Diskussivität zu erzeugen, die man mit dem Austausch eines Buchstabens auch zur „Diskursivität“ veredeln könnte. Die Textbewegungen produzieren Wiederholungen und Unterschiede, Spiegelungen und Reflexionen, Frage- und Antwortspiele, die abbrechen, anderswo neu aufgenommen werden – und so weiter. Die Abhandlung wird Drama – und das kann recht chaotisch aussehen.

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Postskriptum:


In der SZ vom 8. Juni 2020 steht unter dem Titel „Möchtegerne“ ein größerer Artikel über das jüngst erschienene Buch „Calling Philosophers Names. On the Origin of a Discipline“. (Princeton-Oxford 2020) von Christopher Moore.

Darin geht es um das Etikett „Philosoph“, das irgendwann im 6. oder 5. Jahrhundert vor Christus irgendwo in dem großen mittelmeerischen Griechenland aufgekommen ist, um bestimmte Menschentypen zu bezeichnen. Dem Verfasser geht es darum, die unterschiedlichen Denotationen und Konnotationen des Begriffs zwischen Selbstbezeichnung und Fremdbezeichnung, zwischen polemischer, ironischer und anspruchsvoller Nuancierung auszubreiten. Die „Weisheitsfreunde“  wurden seinerzeit neben den „Weisen“ und den „Weisheitslehrern“ eingeordnet, gerieten in den Verdacht von Religionsverächtern oder in den Ruf von
Staatsgründern.

Aus der Rezension geht nicht hervor, welche Rolle bei der Erfindung der Philosophie die verschiedenen Formen des Auftretens und Handelns der Protagonisten – Mündlichkeit und Schriftlichkeit, poetische und wissenschaftliche Rede – gespielt haben. Bei Aristoteles, der sein Philosophieren den Wissenschaften zugeordnet hat, stoßen wir immer wieder auf Probleme mit seiner Begriffspolitik.

Walter Seitter

Mittwoch, 3. Juni 2020

In der Metaphysik lesen (1060a 27 – 1060b 30)

  Das Buch XI bricht die mehrdimensionalen und langwierigen Ausführungen zur Ontologie ab und springt zum Anfang der gesamten Unternehmung zurück, wo eine Wissenschaft gesucht wird, welche die ersten und umfassendsten Prinzipien und Ursachen der Dinge erforschen soll – und welche eben wie im Buch I die technische Bezeichnung „gesuchte Wissenschaft“ und den altehrwürdigen Namen „Weisheit“ bekommt. Doch während das Buch I in schnellen Schritten sowohl den ungefähren Umriß wie auch die historischen Anfänge dieser Wissenschaft skizziert hat, schiebt Buch XI die Aporien aus dem Buch III ein: formalistische wissenschaftstheoretische Problemstellungen, die aber jetzt nicht diskontinuierlich-seriell abgehandelt werden, sondern in die Frage nach den Prinzipien eingebaut werden. Eine neuerliche Verlangsamung der gesamten Prozedur.

Dabei werden verschiedene Kandidaten für das, was als „Prinzip“ gelten kann, durchgenommen und geprüft. (Nebenbei gesagt: mir ist bekannt, dass das Wort „Prinzip“ heutzutage eher unbeliebt ist; aber eine bessere Übersetzung für griechisch „arche“ fällt mir nicht ein). Ebenso die Frage, ob ein und dasselbe Prinzip für die ewigen und für die vergänglichen Dinge zuständig sein kann, ob es also für die vergänglichen ein eigenes Prinzip geben müsse und ob dieses vergänglich oder ebenfalls ewig sein müsse.

Und Aristoteles greift auf die Ausgangsgrößen  der beiden wichtigsten Ontologie-Achsen - das Seiende und das Eine – zurück und fragt, ob sie, da sie die am meisten unbewegten Prinzipien zu sein scheinen, als die gesuchten Prinzipien in Betracht kommen. Das könnten sie nur, wenn sie Wesen wären. Aristoteles unternimmt seine Suche nach den ersten Prinzipen mit der Vorannahme oder sollen wir sagen mit dem Vorurteil, sie müssten Wesen, also selbständig existierende Entitäten  sein. Aber wenn gerade diese beiden ontologischen und das heißt auch universalen Prinzipien Wesen wären, dann hätte das zur Folge, daß sämtliche Dinge Wesen sind.

„Daß alle Dinge Wesen sind, ist falsch, ist eine Falschaussage.“ (1060b 6)

Diese apodiktische Erklärung richtet sich zweifellos gegen eine seinerzeit vertretene Lehrmeinung, ihre Vertreter werden als real existierende Aussagende bezeichnet – ohne jede Namensnennung.

Heutzutage ist es üblich, Aristoteles als „Essenzialisten“ einzuordnen. Was ja nicht ganz falsch ist, denn das Wesen ist für ihn tatsächlich ein Hauptbegriff. Es ist die primäre Kategorie, zu der die anderen Kategorien, es sind ca. neun, als Akzidenzien dazustoßen müssen. Das Grundwort dieser kategorialen Ontologie-Dimension ist das Seiende, das keinesweg durch die Bank essentiell sondern überwiegend „unwesenhaft“ vorkommt. Dazu kommen dann noch die anderen Ontologie-Achsen mit ihren andersartigen Bestimmungen (möglich-wirklich, wahr-falsch ...).

Daher nehme ich jetzt die Aristoteles-Aussage des obigen Zitats auf meine eigene Kappe und adressiere sie an alle, die Aristoteles einen „totalitären Essenzialismus“ unterstellen – egal ob sie ihm einen solchen zum Vorwurf machen oder ob sie  ihre Aristoteles-Anhänglichkeit damit untermauern wollen, dass sie das Eine oder die Wahrheit und noch manches andere für Wesen halten.

Nicht nur die Akzidenzien sind unwesenhafte Entitäten – auch die mathematischen Gegenstände sind solche, sowohl die Zahlen wie die geometrischen Formen – Körper, Fläche, Linie, Punkt. „Alles dies besteht nur an anderen Dingen, nichts davon existiert selbständig.“ (1060b 16).

Würde man sämtliche Entitäten oder etwasse Revue passieren lassen, so würde sich höchstwahrscheinlich herausstellen, dass die Wesen aristotelisch gesehen ein Minderheitsprogramm bilden. Nicht jedwedes irgendwas bringt es zum Wesen, zum Wesen gehört eine Leistung.

„Denn bei jedem Wesen gibt es eine Entstehung, beim Punkt aber nicht; der Punkt ist nämlich nur eine Zerlegung.“ (1060b 19)

Eine Entstehung ist ein Vorgang, in dem eine Leistung erbracht wird, die indirekt in der berühmten Fundamentalfrage angedeutet wird, warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Nicht überall und nicht allezeit wird so eine Leistung erbracht.

Das griechische Wort für Entstehung heißt „genesis“ und dieses Wort stammt aus dem Wortfeld für Zeugung, aus dem Sachfeld der Biologie. Der Normalfall für den aristotelischen Wesensbegriff ist das Lebewesen und damit soll gesagt sein, dass mit jedem Wesen, auch wenn es kein Tier oder Mensch ist, eine gewisse Intensität und Komplexität verbunden sein muß. Eine Intensität, die sich darin zeigt, dass die Wesensqualität nicht gesteigert und nicht gemindert werden kann (wie schon öfter gesagt worden ist) und eine Komplexität, die mit der Vielzahl von einerseits notwendigen und andererseits möglichen Akzidenzien gegeben ist.

Bleibt immer noch die Frage, ob die gesuchten Prinzipien Wesen sein können oder sollen. Aristoteles macht sich den Einwand, dass die Wissenschaft vom Allgemeinen und vom Sobeschaffenen handelt, das Wesen aber eher ein Das und ein Abgetrenntes ist. Kann ein Prinzip ein Wesen sein?

In der Regel ist ein Wesen aus Stoff und Form zusammengesetzt (eine andere Version seiner Komplexität) – gibt es neben diesen Zusammensetzungen noch etwas Beständiges und Selbständiges? Aristoteles bemerkt, dass beim Haus die Form keine selbständige Existenz daneben führt (1060b 28). Daher kommt sie nicht als Prinzip im Sinne der gesuchten Wissenschaft in Frage. Allerdings müsste so ein Prinzip auch für Artefakte wie das Haus zuständig sein, deren Form von irgendwo in die Zusammensetzung eingegangen ist. Nach Aristoteles: aus der Seele des Hausbauers.

Mit den Lebewesen und den Artefakten haben wir bereits zwei Gattungen von Wesen (oder Quasi-Wesen) und für die Suche nach den ersten umfassenden Prinzipien stellt sich die Frage: ein Prinzip oder mehrere? Ein Prinzip würde heißen, alle Dinge wären dieselben. (1060b 29ff.)

So geht diese Suche in einem Zick-Zack-Kurs ihren ziemlich aporetischen Gang.

Walter Seitter