τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 3. Juni 2020

In der Metaphysik lesen (1060a 27 – 1060b 30)

  Das Buch XI bricht die mehrdimensionalen und langwierigen Ausführungen zur Ontologie ab und springt zum Anfang der gesamten Unternehmung zurück, wo eine Wissenschaft gesucht wird, welche die ersten und umfassendsten Prinzipien und Ursachen der Dinge erforschen soll – und welche eben wie im Buch I die technische Bezeichnung „gesuchte Wissenschaft“ und den altehrwürdigen Namen „Weisheit“ bekommt. Doch während das Buch I in schnellen Schritten sowohl den ungefähren Umriß wie auch die historischen Anfänge dieser Wissenschaft skizziert hat, schiebt Buch XI die Aporien aus dem Buch III ein: formalistische wissenschaftstheoretische Problemstellungen, die aber jetzt nicht diskontinuierlich-seriell abgehandelt werden, sondern in die Frage nach den Prinzipien eingebaut werden. Eine neuerliche Verlangsamung der gesamten Prozedur.

Dabei werden verschiedene Kandidaten für das, was als „Prinzip“ gelten kann, durchgenommen und geprüft. (Nebenbei gesagt: mir ist bekannt, dass das Wort „Prinzip“ heutzutage eher unbeliebt ist; aber eine bessere Übersetzung für griechisch „arche“ fällt mir nicht ein). Ebenso die Frage, ob ein und dasselbe Prinzip für die ewigen und für die vergänglichen Dinge zuständig sein kann, ob es also für die vergänglichen ein eigenes Prinzip geben müsse und ob dieses vergänglich oder ebenfalls ewig sein müsse.

Und Aristoteles greift auf die Ausgangsgrößen  der beiden wichtigsten Ontologie-Achsen - das Seiende und das Eine – zurück und fragt, ob sie, da sie die am meisten unbewegten Prinzipien zu sein scheinen, als die gesuchten Prinzipien in Betracht kommen. Das könnten sie nur, wenn sie Wesen wären. Aristoteles unternimmt seine Suche nach den ersten Prinzipen mit der Vorannahme oder sollen wir sagen mit dem Vorurteil, sie müssten Wesen, also selbständig existierende Entitäten  sein. Aber wenn gerade diese beiden ontologischen und das heißt auch universalen Prinzipien Wesen wären, dann hätte das zur Folge, daß sämtliche Dinge Wesen sind.

„Daß alle Dinge Wesen sind, ist falsch, ist eine Falschaussage.“ (1060b 6)

Diese apodiktische Erklärung richtet sich zweifellos gegen eine seinerzeit vertretene Lehrmeinung, ihre Vertreter werden als real existierende Aussagende bezeichnet – ohne jede Namensnennung.

Heutzutage ist es üblich, Aristoteles als „Essenzialisten“ einzuordnen. Was ja nicht ganz falsch ist, denn das Wesen ist für ihn tatsächlich ein Hauptbegriff. Es ist die primäre Kategorie, zu der die anderen Kategorien, es sind ca. neun, als Akzidenzien dazustoßen müssen. Das Grundwort dieser kategorialen Ontologie-Dimension ist das Seiende, das keinesweg durch die Bank essentiell sondern überwiegend „unwesenhaft“ vorkommt. Dazu kommen dann noch die anderen Ontologie-Achsen mit ihren andersartigen Bestimmungen (möglich-wirklich, wahr-falsch ...).

Daher nehme ich jetzt die Aristoteles-Aussage des obigen Zitats auf meine eigene Kappe und adressiere sie an alle, die Aristoteles einen „totalitären Essenzialismus“ unterstellen – egal ob sie ihm einen solchen zum Vorwurf machen oder ob sie  ihre Aristoteles-Anhänglichkeit damit untermauern wollen, dass sie das Eine oder die Wahrheit und noch manches andere für Wesen halten.

Nicht nur die Akzidenzien sind unwesenhafte Entitäten – auch die mathematischen Gegenstände sind solche, sowohl die Zahlen wie die geometrischen Formen – Körper, Fläche, Linie, Punkt. „Alles dies besteht nur an anderen Dingen, nichts davon existiert selbständig.“ (1060b 16).

Würde man sämtliche Entitäten oder etwasse Revue passieren lassen, so würde sich höchstwahrscheinlich herausstellen, dass die Wesen aristotelisch gesehen ein Minderheitsprogramm bilden. Nicht jedwedes irgendwas bringt es zum Wesen, zum Wesen gehört eine Leistung.

„Denn bei jedem Wesen gibt es eine Entstehung, beim Punkt aber nicht; der Punkt ist nämlich nur eine Zerlegung.“ (1060b 19)

Eine Entstehung ist ein Vorgang, in dem eine Leistung erbracht wird, die indirekt in der berühmten Fundamentalfrage angedeutet wird, warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Nicht überall und nicht allezeit wird so eine Leistung erbracht.

Das griechische Wort für Entstehung heißt „genesis“ und dieses Wort stammt aus dem Wortfeld für Zeugung, aus dem Sachfeld der Biologie. Der Normalfall für den aristotelischen Wesensbegriff ist das Lebewesen und damit soll gesagt sein, dass mit jedem Wesen, auch wenn es kein Tier oder Mensch ist, eine gewisse Intensität und Komplexität verbunden sein muß. Eine Intensität, die sich darin zeigt, dass die Wesensqualität nicht gesteigert und nicht gemindert werden kann (wie schon öfter gesagt worden ist) und eine Komplexität, die mit der Vielzahl von einerseits notwendigen und andererseits möglichen Akzidenzien gegeben ist.

Bleibt immer noch die Frage, ob die gesuchten Prinzipien Wesen sein können oder sollen. Aristoteles macht sich den Einwand, dass die Wissenschaft vom Allgemeinen und vom Sobeschaffenen handelt, das Wesen aber eher ein Das und ein Abgetrenntes ist. Kann ein Prinzip ein Wesen sein?

In der Regel ist ein Wesen aus Stoff und Form zusammengesetzt (eine andere Version seiner Komplexität) – gibt es neben diesen Zusammensetzungen noch etwas Beständiges und Selbständiges? Aristoteles bemerkt, dass beim Haus die Form keine selbständige Existenz daneben führt (1060b 28). Daher kommt sie nicht als Prinzip im Sinne der gesuchten Wissenschaft in Frage. Allerdings müsste so ein Prinzip auch für Artefakte wie das Haus zuständig sein, deren Form von irgendwo in die Zusammensetzung eingegangen ist. Nach Aristoteles: aus der Seele des Hausbauers.

Mit den Lebewesen und den Artefakten haben wir bereits zwei Gattungen von Wesen (oder Quasi-Wesen) und für die Suche nach den ersten umfassenden Prinzipien stellt sich die Frage: ein Prinzip oder mehrere? Ein Prinzip würde heißen, alle Dinge wären dieselben. (1060b 29ff.)

So geht diese Suche in einem Zick-Zack-Kurs ihren ziemlich aporetischen Gang.

Walter Seitter

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