Das
Buch XI bricht die mehrdimensionalen und langwierigen Ausführungen zur
Ontologie ab und springt zum Anfang der gesamten Unternehmung zurück, wo eine
Wissenschaft gesucht wird, welche die ersten und umfassendsten Prinzipien und
Ursachen der Dinge erforschen soll – und welche eben wie im Buch I die
technische Bezeichnung „gesuchte Wissenschaft“ und den altehrwürdigen Namen
„Weisheit“ bekommt. Doch während das Buch I in schnellen Schritten sowohl den
ungefähren Umriß wie auch die historischen Anfänge dieser Wissenschaft
skizziert hat, schiebt Buch XI die Aporien aus dem Buch III ein: formalistische
wissenschaftstheoretische Problemstellungen, die aber jetzt nicht
diskontinuierlich-seriell abgehandelt werden, sondern in die Frage nach den
Prinzipien eingebaut werden. Eine neuerliche Verlangsamung der gesamten
Prozedur.
Dabei
werden verschiedene Kandidaten für das, was als „Prinzip“ gelten kann,
durchgenommen und geprüft. (Nebenbei gesagt: mir ist bekannt, dass das Wort
„Prinzip“ heutzutage eher unbeliebt ist; aber eine bessere Übersetzung für
griechisch „arche“ fällt mir nicht ein). Ebenso die Frage, ob ein und dasselbe
Prinzip für die ewigen und für die vergänglichen Dinge zuständig sein kann, ob
es also für die vergänglichen ein eigenes Prinzip geben müsse und ob dieses
vergänglich oder ebenfalls ewig sein müsse.
Und
Aristoteles greift auf die Ausgangsgrößen
der beiden wichtigsten Ontologie-Achsen - das Seiende und das Eine –
zurück und fragt, ob sie, da sie die am meisten unbewegten Prinzipien zu sein
scheinen, als die gesuchten Prinzipien in Betracht kommen. Das könnten sie nur,
wenn sie Wesen wären. Aristoteles unternimmt seine Suche nach den ersten
Prinzipen mit der Vorannahme oder sollen wir sagen mit dem Vorurteil, sie
müssten Wesen, also selbständig existierende Entitäten sein. Aber wenn gerade diese beiden ontologischen
und das heißt auch universalen Prinzipien Wesen wären, dann hätte das zur
Folge, daß sämtliche Dinge Wesen sind.
„Daß
alle Dinge Wesen sind, ist falsch, ist eine Falschaussage.“ (1060b 6)
Diese
apodiktische Erklärung richtet sich zweifellos gegen eine seinerzeit vertretene
Lehrmeinung, ihre Vertreter werden als real existierende Aussagende bezeichnet
– ohne jede Namensnennung.
Heutzutage
ist es üblich, Aristoteles als „Essenzialisten“ einzuordnen. Was ja nicht ganz
falsch ist, denn das Wesen ist für ihn tatsächlich ein Hauptbegriff. Es ist die
primäre Kategorie, zu der die anderen Kategorien, es sind ca. neun, als
Akzidenzien dazustoßen müssen. Das Grundwort dieser kategorialen
Ontologie-Dimension ist das Seiende, das keinesweg durch die Bank essentiell
sondern überwiegend „unwesenhaft“ vorkommt. Dazu kommen dann noch die anderen
Ontologie-Achsen mit ihren andersartigen Bestimmungen (möglich-wirklich,
wahr-falsch ...).
Daher
nehme ich jetzt die Aristoteles-Aussage des obigen Zitats auf meine eigene
Kappe und adressiere sie an alle, die Aristoteles einen „totalitären
Essenzialismus“ unterstellen – egal ob sie ihm einen solchen zum Vorwurf machen
oder ob sie ihre
Aristoteles-Anhänglichkeit damit untermauern wollen, dass sie das Eine oder die
Wahrheit und noch manches andere für Wesen halten.
Nicht
nur die Akzidenzien sind unwesenhafte Entitäten – auch die mathematischen
Gegenstände sind solche, sowohl die Zahlen wie die geometrischen Formen – Körper,
Fläche, Linie, Punkt. „Alles dies besteht nur an anderen Dingen, nichts davon
existiert selbständig.“ (1060b 16).
Würde
man sämtliche Entitäten oder etwasse Revue passieren lassen, so würde sich
höchstwahrscheinlich herausstellen, dass die Wesen aristotelisch gesehen ein
Minderheitsprogramm bilden. Nicht jedwedes irgendwas bringt es zum Wesen, zum
Wesen gehört eine Leistung.
„Denn
bei jedem Wesen gibt es eine Entstehung, beim Punkt aber nicht; der Punkt ist
nämlich nur eine Zerlegung.“ (1060b 19)
Eine
Entstehung ist ein Vorgang, in dem eine Leistung erbracht wird, die indirekt in
der berühmten Fundamentalfrage angedeutet wird, warum es überhaupt etwas gibt
und nicht vielmehr nichts. Nicht überall und nicht allezeit wird so eine
Leistung erbracht.
Das
griechische Wort für Entstehung heißt „genesis“ und dieses Wort stammt aus dem
Wortfeld für Zeugung, aus dem Sachfeld der Biologie. Der Normalfall für den
aristotelischen Wesensbegriff ist das Lebewesen und damit soll gesagt sein,
dass mit jedem Wesen, auch wenn es kein Tier oder Mensch ist, eine gewisse
Intensität und Komplexität verbunden sein muß. Eine Intensität, die sich darin
zeigt, dass die Wesensqualität nicht gesteigert und nicht gemindert werden kann
(wie schon öfter gesagt worden ist) und eine Komplexität, die mit der Vielzahl
von einerseits notwendigen und andererseits möglichen Akzidenzien gegeben ist.
Bleibt
immer noch die Frage, ob die gesuchten Prinzipien Wesen sein können oder
sollen. Aristoteles macht sich den Einwand, dass die Wissenschaft vom
Allgemeinen und vom Sobeschaffenen handelt, das Wesen aber eher ein Das und ein
Abgetrenntes ist. Kann ein Prinzip ein Wesen sein?
In
der Regel ist ein Wesen aus Stoff und Form zusammengesetzt (eine andere Version
seiner Komplexität) – gibt es neben diesen Zusammensetzungen noch etwas
Beständiges und Selbständiges? Aristoteles bemerkt, dass beim Haus die Form
keine selbständige Existenz daneben führt (1060b 28). Daher kommt sie nicht als
Prinzip im Sinne der gesuchten Wissenschaft in Frage. Allerdings müsste so ein
Prinzip auch für Artefakte wie das Haus zuständig sein, deren Form von irgendwo
in die Zusammensetzung eingegangen ist. Nach Aristoteles: aus der Seele des
Hausbauers.
Mit
den Lebewesen und den Artefakten haben wir bereits zwei Gattungen von Wesen
(oder Quasi-Wesen) und für die Suche nach den ersten umfassenden Prinzipien
stellt sich die Frage: ein Prinzip oder mehrere? Ein Prinzip würde heißen, alle
Dinge wären dieselben. (1060b 29ff.)
So
geht diese Suche in einem Zick-Zack-Kurs ihren ziemlich aporetischen Gang.
Walter
Seitter
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