Präskriptum:
Am
5. Juni, also nach dem letzten Protokoll (vom 3. Juni) sah ich den Kommentar, den Wolfgang Koch zum
Protokoll vom 27. Mai gepostet hatte.
Darin
bezieht er sich auf mein Zitat von 1060b 24f., wo Aristoteles die Frage aufwirft,
ob ein ewiges Wesen als erstes Prinzip angenommen werden müsse oder nicht; die
negative Antwort hält er einen Augenblick lang als Möglichkeit aufrecht,
bezeichnet sie dann aber doch als unstatthaft, da ein solches Prinzip von den
begabtesten und begnadetsten Denkern als ein Seiendes gesucht werde.
Darin
sieht Wolfgang Koch einen „engen eurozentrischen Blickwinkel auf die Welt“, der
durch 1800 Jahre buddhistischer und hinduistischer Philosophie längst überholt
sei. Und anschließend verwechselt er dieses gesuchte ewige Wesen, mit den
„empirischen Personen und Dingen“, die nach Aristoteles angeblich
unveränderlich seien, während sie nach Wolfgang Koch gar kein Wesen haben.
Rein
zufällig habe ich im Protokoll vom 3. Juni die Problematik des aristotelischen
Essenzialismus selber thematisiert und vor Pauschalisierungen gewarnt. Wie man
nachlesen kann.
Mir
scheint, die Schwierigkeit bei diesem langwierigen „Lesen in der Metaphysik“
und besonders im Buch XI liegt auch darin, dass man meint, es sei schon alles
gelesen und verstanden worden – und dabei die kleinen Abwandlungen und
Ergänzungen (sogar zu so etwas wie unterschiedlichen Rassen) übersieht, die in Wiederholungen oder Rückgriffen dann
doch auftauchen.
*
Im
folgenden greift Aristoteles auf das Buch IV zurück, wobei die Wissenschaft vom
Seienden als solchen jetzt dem „Philosophen“ zugeordnet wird. Dabei geht es um
die Lehre von der vielfachen Bedeutung des Seienden, was auch heißt, dass das
„Seiende“ kein eindeutiger Begriff ist – aber auch kein schlechthin
vieldeutiger. Seine Bedeutungsnuancen haben einen gemeinsamen Bezugspunkt,
insofern sie entweder eine Affektion oder einen Zustand oder eine Anlage
(Anordnung) oder eine Bewegung oder etwas anderes derartiges – und zwar jeweils
des Seienden - meinen. Diese hier nur angefangene Nennung bezieht sich auf die
Akzidenzien, die im Buch IV und erst recht in den „Kategorien“ vollständiger
aufgezählt worden sind. Das Merkwürdige an diesem Rückgriff: der gemeinsame Bezugspunkt
wird hier nicht als Wesen bestimmt, welches ja in der offizellen Doktrin als
Hauptkategorie etabliert wird. Diese scheint hier schlicht und einfach
auszufallen und die Akzidenzien werden dem Seienden als solchen zugeordnet,
untergeordnet. (1060b 30ff.).
Mir
scheint, dass dieser Ausfall des Wesens, diese gravierende Abweichung in der
Darstellung der kategorialen Ontologie ein textuelles Ereignis ist, welches
nicht übersehen werden sollte. Wenn man Philologe ist, kann man darauf mit der
Frage reagieren, wie diese Passage und ihre Situierung im Gesamttext
texthistorisch zu beurteilen ist. Und diese Frage würde wohl das ganze Buch XI
betreffen, das wie erwähnt hauptsächlich aus Rückgriffen und Rekapitulationen
besteht, welche allerdings im Unterschied zu den Büchern I und IV direkt in die
Suche nach ersten Prinzipien eingebaut sind. Mir und allen anderen heutigen
Lesern liegt nur der Text vor, der erst im 1. Jahrhundert diese Fassung
bekommen hat.
Es
empfiehlt sich hier ein Positivismus der Fakten und wenn so ein
positivistischer Blick feststellt, dass da die kategoriale Ontologie ohne die
Hauptkategorie „Wesen“ und nur mit ein paar Akzidenzien (ohne die
prominentesten wie Qualität, Quantität, Relation ...) resümiert wird, dann
nimmt er das zur Kenntnis. Allerdings tritt hier das Seiende als solches, also
das subkategoriale Grundwort der Ontologie, gewissermaßen an die Stelle des
Wesens und dieser Grundbestimmung mit der tautologischen „als“-Verdoppelung
werden die genannten Akzidenzien sowie die ungenannten zu- und untergeordnet.
Daß
die erste Ontologie-Achse nun ohne die Hauptkategorie „Wesen“ vorgestellt wird,
zeigt deutlich, dass die Abweichung vom Standard kein blinder Zufall ist, eher
eine wissende Zugabe, eine textuelle Aktion. Der Text weiß an dieser Stelle,
dass die von ihm durchgeführte Suchbewegung schon mehrere Stadien durchlaufen
hat, dass die Konstruktion der Ontologie schon mehrere Achsen eingerichtet hat
und so wird nun die kategoriale Ontologie-Achse gleich mit einer anderen
parallelisiert, die von der Grundbestimmung des Einen ausgeht (wobei auch
einige Quasi-Akzidenzien des Einen – die Unterschiede, die Gegensätze, die
Menge dazugenommen werden).
Umso
mehr stellt sich die Frage, ob in diesem Abschnitt immer noch das Prinzip als
Suchbegriff eine Rolle spielt. Von einer Suche nach einem Prinzip, das ein
ewiges Wesen sein soll, ist da bestimmt keine Rede. Ist das „Seiende“ als
Prinzip zu bezeichnen? Prinzip von was und für was? Für die untergeordneten
Akzidenzien, von denen ein paar aufgezählt worden sind? Wäre das Wesen, das
hier einfach ausgelassen worden ist, eher als Prinzip zu betrachten? Und zwar
das Wesen überhaupt – sei es nun vergänglich oder nicht?
*
An
dieser Stelle muß die Lektüre einen Fehler eingestehen und rückgängig machen.
Denn sie hat den Text ab 1059b 14 nur sehr lückenhaft zur Kenntnis genommen.
Zurück
zur gesuchten Wissenschaft und zur Feststellung, dass sie nicht von den
sinnlich erfassbaren Wesen handelt, die vergänglich sind. Aber die gibt es
trotzdem – denn die „gesuchte Wissenschaft“ ist keineswegs die einzige, sie ist
nur diejenige, die noch nicht vollständig ausgebildet ist.
Die
Pluralität der Wissenschaften wird von Aristoteles vorausgesetzt, wie wir schon
oft feststellen konnten. Sie reicht sogar weit über die „theoretischen“
Wissenschaften hinaus, welche allerdings hier das Umfeld bilden. Frage, welche
Wissenschaft für den „Stoff“, also die Gattungen der mathematischen Dinge,
zuständig ist. Nicht die Physik, die sich mit den Dingen beschäftigt, die in
sich selber das Prinzip der Bewegung und der Ruhe enthalten (hier bedeutet
„Prinzip“ etwas ziemlich Physisches). Aber auch nicht die Wissenschaft, die
sich mit dem Beweis und der Wissenschaft selber beschäftigt (offensichtlich die
Logik oder Wissenschaftstheorie). Die Grundlagenforschung für die Mathematik
sei Sache der „vorliegenden Philosophie“. (1060a 22)
Nächste
Frage: ob etwa die sogenannten „Elemente“, die in den zusammengesetzten Dingen
enthalten sind, die Prinzipien sind, welche hier gesucht werden sollen. (1060a
23f.). Antwort: in der Wissenschaft geht es mehr um das Allgemeine als um das
Konkrete – also sollten die ersten oder höchsten Gattungen untersucht werden.
„Dies aber wären das Seiende und das Eine. Denn davon könnte man noch am
ehesten annehmen, dass sie alle Dinge umfassen und am meisten Prinzipien
gleichen, weil sie das der Natur nach Erste sind; denn gehen sie zugrunde, wird
auch das Übrige mit aufgehoben.“ Der letzte Satz deutet klipp und klar an,
woran man im Ernstfall ein Prinzip erkennt.
Wenn
„alles seiend ist und eines“, so scheinen das Seiende und das Eine die höchsten
Gattungen zu sein – sie sind es aber doch nicht im eigentlichen Sinn, da sie
die Unterschiede nicht außerhalb ihrer haben, wie das sonst bei Gattungen der
Fall ist. Sie inkludieren ihre Unterschiede – flexible, elastische Begriffe.
Flexible Gattungen. Übergattungen. Wie wir das vom Seienden ja schon öfter
festgestellt haben – das jedoch gleichzeitig als subkategoriale Bestimmung
gelten kann.
Die
höchsten Gattungen im strikten Sinn sind zehn: die Kategorien (wobei die Zahl
zehn nicht in Stein gemeißelt ist – hier ist alles aus Papier und nur haltbar,
wenn es erhalten wird). Wobei das Wesen als Hauptbestimmung gegenüber den
Akzidenzien noch zusätzlich in die Rolle eines Prinzips gerät.
Die
damit gemeinten Prinzipien sind Allgemeinheiten, die nur in Begriffen
bezeichnet werden. Und die zu den empirisch vorkommenden Dingen nichts
hinzufügen – nur ihnen zukommende Beschaffenheiten meinen.
Anders
dasjenige gesuchte Prinzip, das außer den empirischen Dingen ein ewiges
selbständiges Wesen sein soll, und dessen Beschaffenheit extra zu bestimmen ist
und dessen Existenz negativ oder positiv ausgesagt wird.
Damit
schließt sich der Kreis zum Abschnitt 2 von Buch XI, der am 27. Mai gelesen
worden ist.
*
Und
wieder vorwärts zu der halb verstümmelten, grob verstümmelten, halb
angereicherten Rekapitulierung der Ontologie im Abschnitt 3 von Buch XI.
Mit
seinen Rückgriffen und Rekapitulationen, Abwandlungen und Umstellungen erweist
sich das Buch XI als eine späte und nervöse, eine aporetisierende und
problematisierende Phase oder Zone der gesamten Unternehmung sprich
Suchbewegung. Sie bringt das Kunststück fertig, in der monologischen Form der
Abhandlung eine Art von Diskussivität zu erzeugen, die man mit dem Austausch
eines Buchstabens auch zur „Diskursivität“ veredeln könnte. Die Textbewegungen
produzieren Wiederholungen und Unterschiede, Spiegelungen und Reflexionen,
Frage- und Antwortspiele, die abbrechen, anderswo neu aufgenommen werden – und
so weiter. Die Abhandlung wird Drama – und das kann recht chaotisch aussehen.
*
Postskriptum:
In
der SZ vom 8. Juni 2020 steht unter dem Titel „Möchtegerne“ ein größerer
Artikel über das jüngst erschienene Buch „Calling Philosophers Names. On the Origin of a Discipline“. (Princeton-Oxford 2020) von Christopher
Moore.
Darin
geht es um das Etikett „Philosoph“, das irgendwann im 6. oder 5. Jahrhundert
vor Christus irgendwo in dem großen mittelmeerischen Griechenland aufgekommen
ist, um bestimmte Menschentypen zu bezeichnen. Dem Verfasser geht es darum, die
unterschiedlichen Denotationen und Konnotationen des Begriffs zwischen
Selbstbezeichnung und Fremdbezeichnung, zwischen polemischer, ironischer und
anspruchsvoller Nuancierung auszubreiten. Die „Weisheitsfreunde“ wurden seinerzeit neben den „Weisen“ und den
„Weisheitslehrern“ eingeordnet, gerieten in den Verdacht von
Religionsverächtern oder in den Ruf von
Staatsgründern.
Staatsgründern.
Aus
der Rezension geht nicht hervor, welche Rolle bei der Erfindung der Philosophie
die verschiedenen Formen des Auftretens und Handelns der Protagonisten –
Mündlichkeit und Schriftlichkeit, poetische und wissenschaftliche Rede –
gespielt haben. Bei Aristoteles, der sein Philosophieren den Wissenschaften zugeordnet
hat, stoßen wir immer wieder auf Probleme mit seiner Begriffspolitik.
Walter
Seitter
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