τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 11. Juni 2020

In der Metaphysik lesen (1060b 31 - 1061a 18)


Präskriptum:

Am 5. Juni, also nach dem letzten Protokoll (vom 3. Juni) sah  ich den Kommentar, den Wolfgang Koch zum Protokoll vom 27. Mai gepostet hatte.

Darin bezieht er sich auf mein Zitat von 1060b 24f., wo Aristoteles die Frage aufwirft, ob ein ewiges Wesen als erstes Prinzip angenommen werden müsse oder nicht; die negative Antwort hält er einen Augenblick lang als Möglichkeit aufrecht, bezeichnet sie dann aber doch als unstatthaft, da ein solches Prinzip von den begabtesten und begnadetsten Denkern als ein Seiendes gesucht werde.

Darin sieht Wolfgang Koch einen „engen eurozentrischen Blickwinkel auf die Welt“, der durch 1800 Jahre buddhistischer und hinduistischer Philosophie längst überholt sei. Und anschließend verwechselt er dieses gesuchte ewige Wesen, mit den „empirischen Personen und Dingen“, die nach Aristoteles angeblich unveränderlich seien, während sie nach Wolfgang Koch gar kein Wesen haben.

Rein zufällig habe ich im Protokoll vom 3. Juni die Problematik des aristotelischen Essenzialismus selber thematisiert und vor Pauschalisierungen gewarnt. Wie man nachlesen kann. 

Mir scheint, die Schwierigkeit bei diesem langwierigen „Lesen in der Metaphysik“ und besonders im Buch XI liegt auch darin, dass man meint, es sei schon alles gelesen und verstanden worden – und dabei die kleinen Abwandlungen und Ergänzungen (sogar zu so etwas wie unterschiedlichen Rassen) übersieht,  die in Wiederholungen oder Rückgriffen dann doch auftauchen.

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Im folgenden greift Aristoteles auf das Buch IV zurück, wobei die Wissenschaft vom Seienden als solchen jetzt dem „Philosophen“ zugeordnet wird. Dabei geht es um die Lehre von der vielfachen Bedeutung des Seienden, was auch heißt, dass das „Seiende“ kein eindeutiger Begriff ist – aber auch kein schlechthin vieldeutiger. Seine Bedeutungsnuancen haben einen gemeinsamen Bezugspunkt, insofern sie entweder eine Affektion oder einen Zustand oder eine Anlage (Anordnung) oder eine Bewegung oder etwas anderes derartiges – und zwar jeweils des Seienden - meinen. Diese hier nur angefangene Nennung bezieht sich auf die Akzidenzien, die im Buch IV und erst recht in den „Kategorien“ vollständiger aufgezählt worden sind. Das Merkwürdige an diesem Rückgriff: der gemeinsame Bezugspunkt wird hier nicht als Wesen bestimmt, welches ja in der offizellen Doktrin als Hauptkategorie etabliert wird. Diese scheint hier schlicht und einfach auszufallen und die Akzidenzien werden dem Seienden als solchen zugeordnet, untergeordnet. (1060b 30ff.).

Mir scheint, dass dieser Ausfall des Wesens, diese gravierende Abweichung in der Darstellung der kategorialen Ontologie ein textuelles Ereignis ist, welches nicht übersehen werden sollte. Wenn man Philologe ist, kann man darauf mit der Frage reagieren, wie diese Passage und ihre Situierung im Gesamttext texthistorisch zu beurteilen ist. Und diese Frage würde wohl das ganze Buch XI betreffen, das wie erwähnt hauptsächlich aus Rückgriffen und Rekapitulationen besteht, welche allerdings im Unterschied zu den Büchern I und IV direkt in die Suche nach ersten Prinzipien eingebaut sind. Mir und allen anderen heutigen Lesern liegt nur der Text vor, der erst im 1. Jahrhundert diese Fassung bekommen hat.

Es empfiehlt sich hier ein Positivismus der Fakten und wenn so ein positivistischer Blick feststellt, dass da die kategoriale Ontologie ohne die Hauptkategorie „Wesen“ und nur mit ein paar Akzidenzien (ohne die prominentesten wie Qualität, Quantität, Relation ...) resümiert wird, dann nimmt er das zur Kenntnis. Allerdings tritt hier das Seiende als solches, also das subkategoriale Grundwort der Ontologie, gewissermaßen an die Stelle des Wesens und dieser Grundbestimmung mit der tautologischen „als“-Verdoppelung werden die genannten Akzidenzien sowie die ungenannten zu- und untergeordnet.

Daß die erste Ontologie-Achse nun ohne die Hauptkategorie „Wesen“ vorgestellt wird, zeigt deutlich, dass die Abweichung vom Standard kein blinder Zufall ist, eher eine wissende Zugabe, eine textuelle Aktion. Der Text weiß an dieser Stelle, dass die von ihm durchgeführte Suchbewegung schon mehrere Stadien durchlaufen hat, dass die Konstruktion der Ontologie schon mehrere Achsen eingerichtet hat und so wird nun die kategoriale Ontologie-Achse gleich mit einer anderen parallelisiert, die von der Grundbestimmung des Einen ausgeht (wobei auch einige Quasi-Akzidenzien des Einen – die Unterschiede, die Gegensätze, die Menge dazugenommen werden).

Umso mehr stellt sich die Frage, ob in diesem Abschnitt immer noch das Prinzip als Suchbegriff eine Rolle spielt. Von einer Suche nach einem Prinzip, das ein ewiges Wesen sein soll, ist da bestimmt keine Rede. Ist das „Seiende“ als Prinzip zu bezeichnen? Prinzip von was und für was? Für die untergeordneten Akzidenzien, von denen ein paar aufgezählt worden sind? Wäre das Wesen, das hier einfach ausgelassen worden ist, eher als Prinzip zu betrachten? Und zwar das Wesen überhaupt – sei es nun vergänglich oder nicht?

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An dieser Stelle muß die Lektüre einen Fehler eingestehen und rückgängig machen. Denn sie hat den Text ab 1059b 14 nur sehr lückenhaft zur Kenntnis genommen.

Zurück zur gesuchten Wissenschaft und zur Feststellung, dass sie nicht von den sinnlich erfassbaren Wesen handelt, die vergänglich sind. Aber die gibt es trotzdem – denn die „gesuchte Wissenschaft“ ist keineswegs die einzige, sie ist nur diejenige, die noch nicht vollständig ausgebildet ist.

Die Pluralität der Wissenschaften wird von Aristoteles vorausgesetzt, wie wir schon oft feststellen konnten. Sie reicht sogar weit über die „theoretischen“ Wissenschaften hinaus, welche allerdings hier das Umfeld bilden. Frage, welche Wissenschaft für den „Stoff“, also die Gattungen der mathematischen Dinge, zuständig ist. Nicht die Physik, die sich mit den Dingen beschäftigt, die in sich selber das Prinzip der Bewegung und der Ruhe enthalten (hier bedeutet „Prinzip“ etwas ziemlich Physisches). Aber auch nicht die Wissenschaft, die sich mit dem Beweis und der Wissenschaft selber beschäftigt (offensichtlich die Logik oder Wissenschaftstheorie). Die Grundlagenforschung für die Mathematik sei Sache der „vorliegenden Philosophie“. (1060a 22)

Nächste Frage: ob etwa die sogenannten „Elemente“, die in den zusammengesetzten Dingen enthalten sind, die Prinzipien sind, welche hier gesucht werden sollen. (1060a 23f.). Antwort: in der Wissenschaft geht es mehr um das Allgemeine als um das Konkrete – also sollten die ersten oder höchsten Gattungen untersucht werden. „Dies aber wären das Seiende und das Eine. Denn davon könnte man noch am ehesten annehmen, dass sie alle Dinge umfassen und am meisten Prinzipien gleichen, weil sie das der Natur nach Erste sind; denn gehen sie zugrunde, wird auch das Übrige mit aufgehoben.“ Der letzte Satz deutet klipp und klar an, woran man im Ernstfall ein Prinzip erkennt.

Wenn „alles seiend ist und eines“, so scheinen das Seiende und das Eine die höchsten Gattungen zu sein – sie sind es aber doch nicht im eigentlichen Sinn, da sie die Unterschiede nicht außerhalb ihrer haben, wie das sonst bei Gattungen der Fall ist. Sie inkludieren ihre Unterschiede – flexible, elastische Begriffe. Flexible Gattungen. Übergattungen. Wie wir das vom Seienden ja schon öfter festgestellt haben – das jedoch gleichzeitig als subkategoriale Bestimmung gelten kann.

Die höchsten Gattungen im strikten Sinn sind zehn: die Kategorien (wobei die Zahl zehn nicht in Stein gemeißelt ist – hier ist alles aus Papier und nur haltbar, wenn es erhalten wird). Wobei das Wesen als Hauptbestimmung gegenüber den Akzidenzien noch zusätzlich in die Rolle eines Prinzips gerät.

Die damit gemeinten Prinzipien sind Allgemeinheiten, die nur in Begriffen bezeichnet werden. Und die zu den empirisch vorkommenden Dingen nichts hinzufügen – nur ihnen zukommende Beschaffenheiten meinen.

Anders dasjenige gesuchte Prinzip, das außer den empirischen Dingen ein ewiges selbständiges Wesen sein soll, und dessen Beschaffenheit extra zu bestimmen ist und dessen Existenz negativ oder positiv ausgesagt wird.

Damit schließt sich der Kreis zum Abschnitt 2 von Buch XI, der am 27. Mai gelesen worden ist.

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Und wieder vorwärts zu der halb verstümmelten, grob verstümmelten, halb angereicherten Rekapitulierung der Ontologie im Abschnitt 3 von Buch XI.

Mit seinen Rückgriffen und Rekapitulationen, Abwandlungen und Umstellungen erweist sich das Buch XI als eine späte und nervöse, eine aporetisierende und problematisierende Phase oder Zone der gesamten Unternehmung sprich Suchbewegung. Sie bringt das Kunststück fertig, in der monologischen Form der Abhandlung eine Art von Diskussivität zu erzeugen, die man mit dem Austausch eines Buchstabens auch zur „Diskursivität“ veredeln könnte. Die Textbewegungen produzieren Wiederholungen und Unterschiede, Spiegelungen und Reflexionen, Frage- und Antwortspiele, die abbrechen, anderswo neu aufgenommen werden – und so weiter. Die Abhandlung wird Drama – und das kann recht chaotisch aussehen.

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Postskriptum:


In der SZ vom 8. Juni 2020 steht unter dem Titel „Möchtegerne“ ein größerer Artikel über das jüngst erschienene Buch „Calling Philosophers Names. On the Origin of a Discipline“. (Princeton-Oxford 2020) von Christopher Moore.

Darin geht es um das Etikett „Philosoph“, das irgendwann im 6. oder 5. Jahrhundert vor Christus irgendwo in dem großen mittelmeerischen Griechenland aufgekommen ist, um bestimmte Menschentypen zu bezeichnen. Dem Verfasser geht es darum, die unterschiedlichen Denotationen und Konnotationen des Begriffs zwischen Selbstbezeichnung und Fremdbezeichnung, zwischen polemischer, ironischer und anspruchsvoller Nuancierung auszubreiten. Die „Weisheitsfreunde“  wurden seinerzeit neben den „Weisen“ und den „Weisheitslehrern“ eingeordnet, gerieten in den Verdacht von Religionsverächtern oder in den Ruf von
Staatsgründern.

Aus der Rezension geht nicht hervor, welche Rolle bei der Erfindung der Philosophie die verschiedenen Formen des Auftretens und Handelns der Protagonisten – Mündlichkeit und Schriftlichkeit, poetische und wissenschaftliche Rede – gespielt haben. Bei Aristoteles, der sein Philosophieren den Wissenschaften zugeordnet hat, stoßen wir immer wieder auf Probleme mit seiner Begriffspolitik.

Walter Seitter

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