τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 22. Juli 2020

In der Metaphysik lesen (1064b 15 – 1065a 34)

 Es gibt in der Philosophiegeschichte eine Theorierichtung oder -gruppe, die unter dem Namen „Ontologismus“ läuft, sich von Aurelius Augustinus’ Ideenlehre, vom „ontologischen Gottesbeweis“ und namentlich von Nicolas Malebranche (1638-1715) herleitet. Als Hauptvertreter gilt Antonio Rosmini-Serbati (1797-1855); alle Ontologisten verstehen sich explizit als christliche Denker und ihre Hauptthese besagt, dass die Gotteserkenntnis die einzige ursprüngliche ist und die göttliche Macht die einzige von sich aus wirksame. Damit identifizieren sie Ontologie mit Theologie und sprechen dieser den Vorrang zu. In allen Punkten setzen sie sich eindeutig von Aristoteles ab. (Man spricht übrigens auch von einem „Kapuziner-Ontologismus“ des 17. und von einem „Tiroler Ontologismus“ des 18. Jahrhunderts. (Offensichtlich Barockspezialitäten))

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Aber im zuletzt gelesenen Absatz hat Aristoteles den Eindruck erweckt, ebenfalls die „Theologie“ und die „Wissenschaft vom Seienden, insofern es ist“ gleichzusetzen, obwohl jene „ein abgetrenntes und unbewegtes Wesen“ betrachtet, während diese eine „allgemeine“ Wissenschaft sein soll.

Was für einen Begriff von „Theologie“ hat eigentlich Aristoteles und wie kommt er zu ihm? Er übernimmt das Wort wohl von Platon, der im Zweiten Buch der Politeia (379a) bei der Erörterung der „Gymnastik“ und der „Musik“, also der Körper- und der Seelenbildung der Kinder, darauf Wert legt, dass in den Geschichten für die Kinder eine richtige Lehre von den Gottheiten dargeboten wird, eine andere als die von Homer und Hesiod erdichtete; nämlich eine, die der Einprägung der Tugenden dient.

Der aristotelische Begriff von Theologie wird hingegen allein auf die Betrachtung eines Ersten Wesens ausgerichtet und die Frage ist, ob und wie eine solche Betrachtung als eine „allgemeine Wissenschaft“ gelten kann: sie kann es nur indirekt, da sie über „allen“ Entitäten steht. Direkt als allgemeine Wissenschaft wird die Wissenschaft vom Seienden als solchen durchgeführt, indem sie den diversesten Seinsmodali†äten nachgeht. Von Aristoteles wird sie, wie wir gesehen haben, von der Theologie eher ferngehalten (da die Gottheit ohnehin irgendeine Seinsmodalität aufweist). Aber in seinem Dreierschema kann sie nur der Theologie zugeordnet werden. Anscheinend ein „Aporie“, die nur gelöst werden kann, wenn man „Theologie“ und „Ontologie“ begrifflich unterscheidet, was man nicht immer unmissverständlich getan hat.

Und siehe da, mit dem Abschnitt 8 springt der Text direkt in die Ontologie hinein, natürlich nicht in die „ontologistische“, sondern in die aristotelische. Und zwar in eine Abteilung derselben, die für sie paradigmatisch ist, nämlich in die Abteilung, die sich mit den Akzidenzien beschäftigt. Als paradigmatisch kann sie deswegen bezeichnet werden, weil die Akzidenzien, neben den Privationen, Möglichkeiten, Vernichtungen, Falschheiten zu den „minderen“ Seinsmodalitäten gehören – die sich gerade noch aus dem Nicht-Sein zum Sein emporarbeiten und die von der Ontologie gerade noch davor bewahrt werden, aus jedweder Betrachtung und Wissenschaft ins Nicht-Sein verstoßen zu werden. Das ist wenn schon nicht eine Intention so doch eine Funktion der aristotelischen Ontologie, wie hier schon öfter festgestellt worden ist.
„Nachdem das schlechthin Seiende in mehreren Modi ausgesagt wird und ein Modus davon das Akzidenziell-Sein ist, muß  zunächst einmal nachgeschaut werden, wie es sich mit dieser Bestimmung verhält. Es stellt sich heraus, dass sich keine der überkommenen Wissenschaften mit dem Akzidens beschäftigt; die Baukunstlehre interessiert sich nicht dafür, ob die Bewohner der Häuser traurig oder fröhlich sein werden. Und ähnlich die Web-, die Schuster-, die Kochkunstlehre. Jede dieser Wissenschaften schaut nur auf den ihr eigenen Zweck. Und keine der anerkannten Wissenschaften würde sich damit beschäftigen, wie es sich damit verhält, wenn jemand musisch ist, weil er sprachkundig geworden ist .... mit Ausnahme der Sophistik. Mit dem Akzidens befasst sich nämlich allein die Sophistik; weshalb also Platon nicht übel gesprochen hat, als er sagte, dass der Sophist seine Zeit mit dem Nicht-Seienden vertreibe.“ (1064b 15ff.)

Hier werden einige Akzidenzien, nämlich Eigenschaften menschlichen Fühlens sowie menschlicher Qualifizierung, in die Nähe verschiedener Kunstfertigkeiten gerückt, gleichzeitig aber von den dazugehörigen Kunstwissenschaften, also poietischen Wissenschaften ferngehalten, sofern die Kunstfertigkeiten mit dem Auftreten der Eigenschaf†en nichts zu tun haben. Mit der Polemik gegen die Sophisten schließt sich Aristoteles für einen Moment an Platon an, der sich mit seiner Ideenlehre jedweden Zugang zu den Akzidenzien verbaut hat, während Aristoteles mit seiner Ontologie einen anderen Weg bahnen sollte.

Warum aber schließt Aristoteles akzidenzielle Eigenschaften von den Wissenschaften aus? Er argumentiert so: „Daß es aber vom Akzidens gar keine Wissenschaft geben kann, wird sich klar zeigen, wenn wir zu sehen versuchen, was eigentlich das Akzidens ist. Alles, sagen wir, sei einerseits immer und notwendigerweise ..., andererseits zumeist, und wieder andererseits .... so wie es der Zufall gefügt hat.... Es ist also das Akzidens etwas, was zufällig eintrifft – weder immer und notwendigerweise noch zumeist. Was nun das Akzidens ist, ist gesagt; und es ist offenbar, weshalb es von so etwas keine Wissenschaft geben kann. Denn jede Wissenschaft ist von dem Wissenschaft, was immer ist oder was zumeist ist. Das Akzidens aber gehört zu keinem von beiden.“ (1064b 30ff.)...

Ausschluß der Akzidenzien aus allen „überkommenen“ und „anerkannten“ Wissenschaften – und Begründung dafür mit dem Versuch, zu „sehen“, was das Akzidens ist. Der Ausschluß wird mit einer Einsicht in das Wesen des typisch Unwesenhaften begründet. Das ist ein exemplarischer Schritt der gerade erst sich formierenden Ontologie, die aus einer Aporie einen Ausweg sucht. Und die immer wieder auf die Problematik der Akzidenzien eingehen wird.

Die Akzidenzien sind irreguläre Ereignisse, die eintreten, weil in ihren Ursachenkonstellationen etwas dazu- oder dazwischengekommen ist, was weder zumeist noch immer eintrifft. Ohne sie wäre die Welt eine andere: es würde alles aus Notwendigkeit entstehen und bestehen.

„Das Worumwillen aber findet sich in Dingen, die von der Natur aus oder durch Überlegung entstehen. Zufall jedoch gibt es dann, wenn etwas hiervon in akzidenzieller Weise entsteht. Denn wie das Seiende einerseits an sich, andererseits akzidenziell ist, so ist dies auch bei der Ursache der Fall. Der Zufall ist eine akzidenzielle Ursache bei dem, das nach Entscheidung des Worumwillen entsteht. Daher handeln Zufall und Überlegung vom selben. Denn es gibt keine Entscheidung getrennt von der Überlegung. Die Ursachen dafür, was durch Zufall entstehen kann, sind unbestimmt; deshalb ist der Zufall für menschliche Überlegung unerklärbar und eine akzidenzielle Ursache; doch ist er von nichts eine Ursache schlechthin.“ (1065a 26ff.)

„Gewaltenteilung“ zwischen Notwendigkeit und Zufall.


Sommerferien bis Ende September 2020


Walter Seitter

Mittwoch, 15. Juli 2020

In der Metaphysik lesen (1064a 35 – 1064b 14)


Es empfiehlt sich zu sehen, dass die aristotelische Ontologie aus mehreren Stücken besteht. Wenn man das nicht sieht, besteht die Gefahr, daß man die Masse an Behauptungen für abstrus und chaotisch hält; oder aber dass man ein Stück, etwa die Achse der Kategorien, für das einzige maßgebliche hält und dann auch noch den Begriff des Wesens für den einzigen Hauptbegriff. 

Neben den Ontologie-Achsen nimmt das Ontologie-Axiom eine Sonderstellung ein. Von Aristoteles wird es „Sicherstes Prinzip“ genannt – aber worin besteht seine Prinzipialität? Vor kurzem habe ich die „durchgängige Bestimmung“ als Kriterium dafür genannt. Jetzt sehe ich in dem Buch des neulich erwähnten Reiner Schürmann, dass er ebenfalls dieses Kriterium namhaft macht – und von Kant übernimmt.[1]

Die damit verbundene Abschwächung des Begriffs „Prinzip“ liegt auf der Linie von Schürmanns Buchtitel, der sich ja mit „Prinzip der Prinzipienlosigkeit“ übersetzen lässt.  Und  Aristoteles selber scheint den Begriff von einer etwaigen „archaischen“ oder fundamentalen oder gar fundamentalistischen Aura wegzurücken, indem er ihn einer ähnlichen „Vervielfältigung“ unterzieht, wie sie bekanntermaßen dem „seiend“ angetan wird. 

Wir haben festgestellt, dass Aristoteles in der Verteidigung dieses Sichersten Prinzips gegen bestimmte Aussagen, die ihm angeblich widersprechen, ontologische Positionen bekräftigt, die man schon kennt. Und damit bewährt sich das Prinzip als ein solches – auf das man sozusagen im Not- oder im Verteidigungsfall zurückgreifen kann. 

Aber seine rein semantische Bedeutung reduziert sich vielleicht auf:

Wenn etwas ist, so ist es, wie es ist. Und wenn etwas sich weigert, so zu sein, wie es ist – dann weigert es sich eben. Und dann ist es eben anders – irgendwie anders. Also so, wie es ist. 

Ich habe dieses Axiom auch als „Prinzip etwas“ bezeichnet. Ein anderer Name: „Prinzip irgendwie“. 


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Brüsker Themenwechsel. Zurück zu den wissenschaftstheoretischen Überlegungen im Abschnitt 4 bzw. zu den weiter ausholenden von Buch VI – und zwar unter dem Gesichtspunkt verschiedener Prinzipien für verschiedene Wissenschaften. 

1063b 36: Heilkunde und Gymnastik und die übrigen poietischen und mathematischen Wissenschaften. Die „mathematischen“ sind hier wohl irrtümlich dazwischengekommen, denn die gehören gewiss zu den theoretischen. Aber die Heilkunde und die Gymnastiklehre liefern als poietische Wissenschaften eine dankenswerte Erweiterung des Horizonts – etwa auch in dem Sinn, dass damit die Frage aufgeworfen werden kann, wieso die Philosophie bzw. Erste Philosophie mit diesen Wissenschaften nichts zu tun haben soll.

Auch diese Wissenschaften umschreiben jeweils eine bestimmte Gattung und behandeln sie als ein Bestehendes und Seiendes – doch nicht als „Seiendes als seiendes“. (1064a 3)

Was wird die Gattung dieser beiden Wissenschaften sein? Zum einen wohl die Gesundheit oder aber die Wiederherstellung der Gesundheit. Zum anderen ein Teilaspekt davon nämlich die athletische Tüchtigkeit bzw. deren Gewinnung oder Förderung. Oder wäre der Bereich der Gymnastiklehre noch etwas weiter abzurücken und mehr im Bereich des Ästhetischen, also der Körperschönheit zu sehen? Diese ästhetische Nuance ist allerdings im griechischen Denken von der erstgenannten nicht zu trennen. (Und im modernen vielleicht auch nicht – man denke an die Fitness.)

Gesundheits- und Schönheitsgewinnung sind die beiden seienden, also wirklichen Bereiche der beiden wissenschaftlichen Disziplinen. Sie sind wichtige menschliche Möglichkeiten oder Anlagen und als solche Aufgaben oder Ziele, die individuell und kollektiv kultiviert werden. Ist es diese Zielrichtung, die ihre explizite Betrachtung „als seiend“ ausschließt, die sie aus der Ersten Philosophie ausschließt und sie in eine andere Wissenschaftsgattung  einordnet? Gehört das Gute, das „worumwillen“ nicht zum Seienden, das als seiendes betrachtet werden kann?

In der Ursachenlehre nimmt es immerhin die Position der vierten Ursache ein? Und die Ursachen – bilden sie nicht eine starke Seinsmodalität? Sind sie nicht „zuständig“ für Verwirklichung, für Entstehung? Hat die Zielursache keinen ordentlichen Platz innerhalb der Seinsmodalitäten?

Aristoteles stellt zwar die Frage nach den Ursachen – aber auf andere Weise.

„Bei einer Bewirkungswissenschaft, also bei einer poietischen Wissenschaft,  befindet sich das Prinzip der Bewegung im Bewirkenden und nicht im Bewirkten, und dies ist eine Kunst oder ein anderes Vermögen.“ (1064a 13) Die Ursächlichkeit liegt da bei Menschen, die mit bestimmten Fähigkeiten bestimmte Resultate herbeiführen, etwa Kunstwerke oder Gesundheit oder Körperschönheit. 

Analog verhält es sich in den praktischen Disziplinen Ethik, Politik, Ökonomik. „Bei der Handlungswissenschaft befindet sich das Prinzip der Bewegung nicht im Gehandelten sondern in den Handelnden.“ (1064a 14) Die Handelnden sind mehr oder weniger tugendhafte Menschen, die ihr Zusammenleben mehr oder weniger gut führen. 

„Hingegen bezieht sich die Wissenschaft des Physikers auf die Dinge, die das Prinzip der Bewegung in sich selber haben – und folglich muß die Naturwissenschaft weder eine handelnde noch eine bewirkende sondern eine betrachtende Wissenschaft sein.“ (1064a 15f.)

Betrachtend wird sie von Aristoteles genannt, weil sie sich auf Gegenstände bezieht, die von sich aus und ohne menschliches Zutun so sind, wie sie sind. Während die anderen Wissenschaften menschliches Verhalten empfehlen und beurteilen – das von den Menschen neben den Wissenschaften durchgeführt wird. 

Die Naturwissenschaft betrachtet ihre Gegenstände, die allesamt stofflicher Natur sind, entweder unter dem Gesichtspunkt des Stoffes oder unter dem Gesichtspunkt der Form, mit der der Stoff stets verbunden ist.

Nur im Anschluß an die Naturwissenschaft kommt Aristoteles auf sein ich würde sagen spezielles und Lieblingsprojekt zu sprechen und behauptet einfach, dass „es eine Wissenschaft vom Seienden als seienden und abgetrennten gibt“. (1064a 29)

Womit er die formelle und sozusagen offizielle Gründung der Ontologie am Anfang von Buch IV wieder aufgreift – nur der Zusatz „und abgetrennten“ ist hier neu; abgetrennte das heißt extra existierende Gegenstände hat er bisher nur der Naturwissenschaft zugesprochen. Dementsprechend folgt auch gleich die Frage, ob diese jetzt behauptete Wissenschaft mit der Naturwissenschaft identisch sei. Diese Frage war bei der Ontologiegründung vollkommen abwesend. Wir stellen fest, dass Aristoteles nun weit voneinander entfernt liegende Fäden seiner Untersuchung zusammenfügt.

Deswegen kommt er auch noch einmal auf die Mathematik zu sprechen, die eine betrachtende Wissenschaft sei und sich mit bleibenden aber nicht abgetrennten Sachen beschäftige. Und damit entspricht sie nicht seiner Suche nach einer weiteren, gewissermaßen dritten betrachtenden Wissenschaft, die „vom abgetrennten und unbewegten Seienden handelt .... sofern es ein solches Wesen gibt, ich meine ein abgetrenntes und unbewegtes Wesen, was zu zeigen wir noch versuchen werden.“ (1064a 35)

Diese zusätzliche Wissenschaft wird nun durch einen Gegenstand definiert, dessen Existenz gleich noch einmal in Frage gestellt wird: „Und wofern es in den Seienden eine derartige Natur gibt ...“; woran gleich die Vermutung angeschlossen wird: „... dürfte es da wohl auch das Göttliche geben und dann dürfte sie wohl das erste und herrschendste (herrlichste) Prinzip sein.“ (1064a 36f.) 

Hier ist die Rede von einem anderen Prinzip, das mit einem ganz anderen Superlativ bekleidet wird als das "Sicherste Prinzip". 

„Es ist also klar, dass es drei Gattungen von betrachtenden Wissenschaften gibt: die Naturwissenschaft, die Mathematik und die Theologie. Demnach ist die Gattung der betrachtenden Wissenschaften die beste, von diesen aber ist die zuletzt genannte die beste; sie befasst sich nämlich mit dem Ehrwürdigsten.“ (1064b 1ff.)

(Auffällt, dass auch für die theoretischen Wissenschaften Adjekive und Superlative wie „best“ und „ehrwürdigst“ eingeführt werden, womit die „Theorie“ wohl von strikter Neutralität abgerückt wird. Und die Ehrwürdigkeit darf uns an die „Würde“ erinnern, die vor einigen Monaten hier für den einen der beiden Aspekte des Wesensbegriffes namhaft gemacht worden ist.)

Damit ist die schon mehrmals, etwa in 1060a 23ff., aufgetauchte und beunruhigende Frage nach einem „Ewigen, Abgetrenntem und Bleibenden“ fest beantwortet.

Das scheint eine klare Aussage zu sein – wiewohl die in Aussicht gestellte Theologie zwar mit allerhöchsten Qualifizierungen ausgestattet, aber in ihrer Existenzbasis nur hypothetisch vorgestellt worden ist.

Die hier aufgestellte Wissenschafts-Trinität mag eindrucksvoll klingen, sie nennt im Grunde lauter bekannte Wissens-Richtungen. Doch die eigentlich aristotelische Erfindung, die Wissenschaft vom Seienden als seienden, die im Buch IV gegründet worden ist und von Buch VII bis Buch X langwierig entfaltet worden ist, scheint nun plötzlich auszufallen. 
Ist sie irgendwo zwischen Physik, Mathematik, Theologie verschwunden oder in einer dieser Disziplinen aufgegangen?

Der Text selber merkt, dass da die eigentlich anstehende Frage unter den Tisch gefallen ist, und er schiebt sie jemandem zu, der „unschlüssig sein könnte, ob man die Wissenschaft vom Seienden, insofern es seiend ist, als allgemeine anzusetzen habe oder nicht.“ (1064b 6). Innerhalb der Mathematik sei zwischen angewandten Einzeldisziplinen und einer allgemeinen zu unterscheiden, die sich mit dem beschäftigt, was allen gemeinsam ist. Aber den mathematischen Entitäten fehlt es an Abgetrenntheit, also an „Extra-Existenz“. Demgegenüber könnte die Physik die erste der Wissenschaften sein, wenn die natürlichen oder physischen Wesen die ersten unter den Seienden wären. Diese Hochschätzung der Physik darf uns durchaus erstaunen, denn sie kommt wenige Zeilen nach der offiziellen Ernennung der Theologie.

Obwohl diese Passage direkt (ohne explizite Erwähnung) auf das Buch VI zurückgreift, können wir feststellen, dass der Text reflektierender, sensibler, flexibler denn je agiert.

Ja er agiert, er denkt hin und her, er macht weiter, obwohl alles schon x-mal gesagt worden ist, er setzt neu an, er geht jetzt von der „Erstheit“ der physischen Dinge wie auch von derjenigen der physikalischen Wissenschaft aus, setzt aber in einem Konditionalsatz von diesen Dingen wie auch von dieser Wissenschaft etwas ab und eben dieses zu ihr dazu.

Distinktiv und additiv:

„Falls es aber noch eine davon verschiedene Natur gibt und ein abgetrenntes und unbewegtes Wesen, muß die Wissenschaft eine von der Naturwissenschaft verschiedene sein und eher als die Naturwissenschaft, und weil sie eher ist, auch allgemein.“ (1064b 12f.)

Die Theologie-Setzung wird quasi anonym, ohne Gott-Nennung, also a-theologisch, rein physiologisch, aber „epi-physiologisch“, wiederholt, all das nur in einem Konditionalsatz. 

Es wird eine andere, eine sozusagen zweite Natur gesetzt – und damit die Natur aus ihrem Singular herausgerissen, tendenziell wird ein Plural der Naturen eingeführt. Epiphysis, Polyphysismus?

Und diese Natur soll noch eher sein als die oben genannten und erstmals so genannten „ersten natürlichen Wesen“. Wie ich vor vielen Monaten aus dem aristotelischen Text schon herausgelesen habe, ist „erst“ ein Superlativ von „ehe“ und „eher“ (man kann mit diesem Aristoteles auch Deutsch lernen). Also ist diese verschiedene und zusätzliche Natur noch eher als die ehesten natürlichen Dinge, und die entsprechende Wissenschaft noch eher als die erste Wissenschaft Physik. 

„Ultraeher“ würde Dumézil sagen, der Spezialist für die ehemaligen Dinge, der Foucault auch die banale Feststellung eingegeben hat, Sokrates sei kein Buddhist gewesen.

Und diese jetzt gerade „gesetzte“ Wissenschft (soll man sie „Ultraphysik“ nennen?) soll angeblich das Kunststück fertig bringen, einerseits sachlich identisch mit der sogenannten Theologie zu sein, andererseits aber auch „allgemein“.

Nämlich so allgemein, wie die Ontologie und nur die Ontologie, konzipiert und in vielen Büchern der Metaphysik bereits ausgeführt worden ist. Also die Wissenschaft vom Seienden als seienden – wie ihr oftmals wiederholter Sachtitel lautet. Einen Namen, eine namentliche Disziplinbezeichnung, hat ihr Aristoteles nie gegeben. 

Jetzt hat er sie immerhin erstmals aus seinem Wissenschaftssystem abgeleitet, jedenfalls sie in dieses eingeordnet. 


Stimmt es, dass diese allererste Wissenschaft „allgemein“ sein kann oder gar muß? Es stimmt insofern, als ihr Gegenstand die allererste Natur ist: ein Wesen, das in irgendeinem Zusammenhang, aber auch in irgendeinem Abstand mit allem und von allem gesetzt ist. 

Doch erinnern wir uns daran, womit sich die Ontologie beschäftigt hat: nicht mit irgendwelchen existierenden Wesen, sondern mit vielen unterschiedlichen und unterschiedlich unterschiedlichen Seinsmodalitäten, von denen keine als solche extra existiert, wenngleich die Abgetrenntheit, also die Extra-Existenz als eine Seinsmodalität ebenfalls thematisiert wird.

Sollte der Text im letzten Satz von Abschnitt 7 die Ontologie mit der Theologie identifiziert haben, dann hat er ein schwerwiegendes Missverständnis in sich selber eingeführt, das nicht folgenlos bleiben sollte.


Walter Seitter


[1] Siehe Reiner Schürmann: Le principe d’anarchie. Heidegger et la question d’agir (Paris 1982): 32. Auch ein deutschsprachiges Werk könnte hier genannt werden – Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien (Stuttgart 1986).

Mittwoch, 8. Juli 2020

In der Metaphysik lesen (1062b 11 – 1063b 34)


Nachdem ich im Frühling 2020 die Ankunft des berühmt gewordenen Virus mit dem schönen Namen nicht zum Vorwand genommen habe, das Lesen in der Metaphysik zu unterbrechen,  möchte ich dieses sozusagen zum Ausgleich dafür noch ein bisschen in die Sommerferien hinein verlängern. 


Man könnte meinen, das Weiterlesen bringt im Moment wenig, weil das Buch XI nur alte Aussagen wiederhole. Doch Wiederholungen produzieren Neues, wie man an folgender Schematisierung sehen kann. Wenn A nur wiederholt wird, entsteht im Ganzen AA oder A  A oder A ..... A – es entstehen also insgesamt ganz andere Figuren als A. Jedenfalls für solche, die Augen haben zum Sehen.

Und damit komme ich auch schon zum nächsten Abschnitt. Die Meinung, es könne ein und dieselbe Aussage gleichzeiig wahr und falsch sein, entspringt auch einem überzogenen „Subjektivismus“ in Sachen Wahrnehmung, wie er angeblich von Protagoras vertreten worden ist – mit seinem Satz, der Mensch sei das Maß aller Dinge. 

Bereits im Buch X war Protagoras mit diesem Satz zitiert worden. Dort wurde er dahingehend präzisiert, dass damit der wissende und wahrnehmende Mensch gemeint sei – und so sei der Satz durchaus zutreffend. (1053a 36ff.)

In so einem Sinn ist Protagoras von Thomas Buchheim als Avantgardist „normalen Lebens“ oder gemäßigter Anthropozentrik gewürdigt und als einer der großen Anreger für Aristoteles eingestuft worden.[1]

Doch es finden sich bei Protagoras auch radikale Zuspitzungen der Wahrnehmungslehre, die besagen, dass unterschiedliche körperliche Verfassungen der Wahrnehmenden zu unterschiedlichen Ansichten des Wahrgenommenen führen, ja dass über gut und schlecht, schön und hässlich sehr häufig unterschiedliche Ansichten zustande kommen – und dass diese allesamt wahr seien, weil ja die Wahrnehmungen der Einzelnen die einzigen Maßstäbe seien. 

Dazu sagt Aristoteles, dass gewisse Veränderungen aufseiten der Wahrhehmenden als krankhaft einzuschätzen seien.

Aristoteles versucht außerdem, diese Relativität der Wahrnehmungen und Beurteilungen dadurch zu entschärfen, dass er auf solche Gegenstände hinweist, die eher unveränderlicher Art seien. 

Meines Erachtens könnte er nicht nur auf stabile Strukturen in den Veränderungen verweisen, sondern auch der Wahrnehmung der Wechselfälle durch sprachliche Präzisierung und Einbeziehung in Diskussion eine andere epistemologische Rolle zuweisen. Er vertritt ja die Ansicht, dass wir im Erkenntnisstreben von dem ausgehen dürfen, was wir leichter erkennen können – und das ist ja vor allem das, was wir jetzt beobachten, und dann das, was wir später wahrnehmen.

Die Vergleichung unterschiedlicher „subjektiver“ Wahrnehmungen – sowohl intra- wie intersubjektiv – macht es möglich, die in jeder Wahrnehmung erreichte partielle „Objektivtät“ zu einem größeren Ganzen auszubauen.

Das vollzieht sich zumeist übers Sprechen und daher geht Aristoteles auch darauf ein, welche begrifflichen Konsequenzen das Sicherste Prinzip mit sich bringt. 

In bezug auf einen Menschen sagt er, er könne nicht gleichzeitig weiß und schwarz sein - was nur im Hinblick auf eine einzige Körperstelle einigermaßen plausibel klingt, tatsächlich aber wohl für den Gesamteindruck einer sogenannten Hautfarbe gelten soll. Und gegen den Naturphilosophen Anaxagoras besteht er darauf, dass etwas im Mund entweder bitter oder süß schmecke (sofern der Geschmackssinn nicht gestört ist) – und nicht nach beidem.

Gegen diese Festlegungen ließe sich einwenden, dass es sich jedenfalls um akzidenzielle Eigenschaften handelt und die können nach Aristoteles immerzu gemindert oder gesteigert auftreten. Wenn bitter und süß etwa wie weiß und schwarz konträre Eigenschaften wären, dann würde sich in der Mitte tatsächlich eine Art Mischung ergeben können – und kein Einwand wäre möglich.

An diejenigen, die das Ontologe-Axiom philosophisch bestreiten, richtet Aristoteles die Frage, wie sie sich verhalten, wenn ihnen der vertraute Arzt verordnet, Brot zu essen. Halten sie dann daran fest, dass dieses Brot ein Brot ist und essen sie es auch wirklich? Wenn sie es gut mit sich meinen, dann tun sie das. Und damit verraten sie ihre Lieblingstheorie, derzufolge „es in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen keine fest bleibende Natur gibt – da doch immer alles in Bewegung und Fluß ist.“ (1063a 33)

Hier spricht Aristoteles vom Brot – das entgegen allen heute modischen Schwärmereien von Natur und „Bio“ ein Artefakt ist und daher kann mit „Natur“ da nur das kategoriale Wesen gemeint sein (ähnlich wie bei der Natur der Tragödie in der Poetik). 

Das Ontologie-Axiom, das mit den Kategorien direkt nichts zu tun hat – hier macht es so etwas wie „Wesen“ denknotwendig (und würde das natürlich auch für ein formelleres Medikament tun). 

(Daß das Brot ein „Wesen“ ist und hat, ist ein paar Jahrhunderte nach der Abfassung dieses Textes in der christlichen Theologie zu einem wichtigen Gemeinplatz geworden, aus dem dann auch der Begriff „Transsubstantiation“ erwachsen ist. Abgesehen von diesem religiösen Sonderschicksal des Brotes ist dem jeweils konkret vorliegenden Brot in der Regel nur eine kurze Existenzdauer beschieden, da es gegessen zu werden hat und dann eine banale Transsubstantiation erleidet. Darüber ist hier schon am 29. April 2015 gesprochen worden.)[2]

Im Abschnitt 6 von Buch XI wird aus dem Ontologie-Axiom auch noch eine andere Schlussfolgerung gezogen, in der ebenfalls die Kategorienlehre indirekt „bewiesen“ wird. 

Wenn die Bejahung ebenso wahr wäre wie die entsprechende Verneinung, dann würde die Rede von „Nicht-Mensch“ ebenso gültig sein wie die Rede von „Mensch“. Wer aber nun behauptet, ein Mensch sei ein Nicht-Pferd, der würde eine mindestens so wahre Behauptung aufstellen wie diejenige, der Mensch sei ein Nicht-Mensch. Nach der Logik der Axiom-Leugnung könnte man ebenso gut sagen, der Mensch sei ein Pferd. Und damit würde sich diese Leugnung nicht gerade ein gutes Zeugnis ausstellen. 

Es trifft sich, dass es in der gegenwärtigen Diskussion, die gleichzeitig eine philosophische und eine politische ist, Argumentationen vorgebracht werden, die auf eine ähnliche Leugnung hinauslaufen.

Der amerikanische Philosoph Frank B. Wilderson III hat in der Frankfurter Allgemeinen vom 6. Juli 2020 vorgetragen, wie er es fertigbringt, seine eigene Person aus der Menschheit auszuschließen.[3]

Er behauptet, Begriffe verdanken ihre Bedeutung immer nur zwei anderen Zuschreibungen (tatsächlich wird jeder Begriff mithilfe zweier anderer Wörter definiert). Der Begriff „menschlich“ verdanke seine Bedeutung der Identifizierung mit sich „selber“ und der Unterscheidung von „anderen“. Diese Tatsache werde gewöhnlich unterschlagen und durch die Fiktion einer „organischen Beziehung“ zum Gegenstand verdrängt. „Menschlich“ bekomme seine Bedeutung durch die Absetzung von „Schwarzheit“. Und diese Schwarzheit erläutert Wilderson durch die Versklavung schwarzer Afrikaner durch Weiße, die ihre Menschlichkeit (Menschheit) aus der „Anti-Schwarzheit“ beziehen. 


Diese unterscheide sich grundlegend von allen anderen diskriminatorischen Einstellungen, Verfolgungen und so weiter, weil den Schwarzen jede Möglichkeit zu einer Revanche oder Wiedergutmachung genommen sei. „Schwarzes Leben kann keine menschliche Position besetzen, weil es die Subjektposition, die dazu erforderlich wäre, gar nicht einnehmen kann.“ Die anti-schwarze Gewalt und Angst habe keine logische und politische Struktur – sie richte sich gegen das schwarze Fleisch und sei diesem unauslöschlich eingeprägt. 

Damit sei für die Schwarzen der Traum vom Menschsein unterbrochen. 

Wilderson kann die Widersprüche, nämlich Selbstwidersprüche, in die sich seine Rede verstrickt, nicht ganz wegschieben. „Gleichzeitig schreibe ich von einem Begehren aus, von meinem Wunsch, erkannt und in die Gemeinschaft aller Menschen aufgenommen zu werden.“

Dennoch bzw. angeblich will er ausdrücklich den Dialog, den er in den Minuten seines Gesprächs mit Verena Lueken, der FAZ-Korrespondentin, führt, nicht führen. Er zieht es vor, in seinem „Afropessimismus“ sitzen zu  bleiben. Macht aber daraus eine philosophische, literarische, kinematographische, akademische Karriere.

Die beiden Begriffslinien, mit denen Aristoteles im Buch XI das Menschsein analytisch durchzogen hat (die akzidenzielle und die essenzielle), um seinerzeitige „interessante“ Theorien vorzuführen, sie werden von dem amerikanischen Professor mit viel Eloquenz miteinander verflochten, mit großem Pathos und nicht ohne Selbstmitleid ausgestellt.


Walter Seitter







[1] Siehe Walter Seitter: op. cit.: 116.
[2] Siehe Walter Seitter: op. cit.: 163ff. 
[3] Die Antithese zum Menschen. Wie man ohne Hoffnung Kritik denkt. Ein Gespräch mit Frank Widerson III, in: FAZ, 6. Juli 2020.

Mittwoch, 1. Juli 2020

In der Metaphysik lesen (1061b 17 – 1062b 10)




Die in der Metaphysik langwierig gegründet werdende „Erste Philosophie“ wird hier mit den beiden schon existierenden Wissenschaften Mathematik und Physik konstelliert, indem ihr die Betrachtung dessen zugemutet wird, was den Spezialaspekten der beiden anderen Wissenschaften gemeinsam ist – die entweder die Quanta und die Kontinua oder die Bewegungsformen des Seienden untersuchen. Sie soll gerade das Seiende als seiendes betrachten und sich mit diesem zentralen Formalobjekt als „erste Wissenschaft“ qualifizieren. (1061b 31).  Mathematik und Physik werden aber damit nicht weit unter der Philosophie rangiert – im Gegenteil werden sie ausdrücklich zu „Teilen der Weisheit“ ernannt. (1061b 33)

Ein typisches Beispiel dafür, wie Aristoteles seine Terminologie und Begriffsordnung immer wieder neu arrangiert und mit geringfügigen Umstellungen neue Nuancen artikuliert. 

Sein variatives und gleichzeitig additives Vorgehen macht das Weiterlesen sinnvoll. 

In der Erwähnung der Mathematik hatte Aristoteles auf ein einschlägiges Axiom angespielt, welches auch dem Euklid zugeschrieben wird. Für die Erste Philosophie (oder Wissenschaft) rekapituliert er nun aus Buch IV das dortige „Sicherste Prinzip“ folgendermaßen: 

„Es ist in den Seienden ein Prinzip, worüber eine Täuschung nicht möglich ist, da man ihr immer entgegen handeln muß, also: die Wahrheit sagen; nämlich, dass dasselbe zu ein und derselben Zeit nicht sein und nicht sein kann ...“.(1061b 34ff.)

Dabei handelte es sich um die zweite Phase in der Gründung der Ontologie, welche auf die erste und hier immer wieder rekapitulierte Phase folgt (in der die Kategorien aufgestellt worden sind). 

Das Typische für diese zweite Phase ist, dass sie mit Entschiedenheit den Begriff „Prinzip“ für sich in Anspruch nimmt; dass dieses Prinzip das Festhalten an einer gerade gesagten Bestimmtheit (an welcher auch immer) vorschreibt; dass es mit einem gewissen psychischen Zwang verbunden ist; dass es nicht direkt sondern nur durch Widerlegung der Leugnung bewiesen oder sagen wir aufgewiesen werden kann. 

In meinem Aristoteles-Kommentar habe ich diese beiden Phasen als die assertorische und die elenktische Ontologie-Gründung bezeichnet.[1] Etwas volksnäher hätte ich sie auch als deskriptiv und demonstrativ bezeichnen können. Die assertorische Dimension der Ontologie ist durch unsere Lektüre inzwischen zu einem Gerüst aus mehreren „Ontologie-Achsen“ ausgebaut worden – ob es nun vier und fünf sind, ist nicht so wichtig. 

Hingegen hat das Sicherste Prinzip die Form eines Axioms und kann daher als das „Ontologie-Axiom“ bezeichnet werden. 

Darin spielen die bisher aufgefundenen ontologischen Hauptbegriffe wie Wesen, Möglichkeit, Wirklichkeit und so weiter zunächst keine große Rolle. Wieso wird das Axiom dann doch der Ontologie zugerechnet? Weil es sich um eine Bestimmung, eine Regel, eine Notwendigkeit und um ein Gebot handelt, welches durchgängig Platz greift. Die Durchgängigkeit (und nicht die Fundierungskraft) ist das formale Merkmal der ontologischen Aussagen. Noch eines hat das Axiom mit den übrigen ontologischen Bestimmungen gemeinsam: der Begriff „Gott“ spielt da kaum eine Rolle. 

Es wird zumeist „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ oder gar „Satz vom Widerspruch“ genannt – so als würde Aristoteles die Gegenrede verbieten oder ausschalten wollen. Es geht aber um die Vermeidung des Selbstwiderspruchs, der Inkonsistenz. 

Man könnte vom Prinzip der Konsistenz sprechen oder noch lapidarer vom „Prinzip etwas“.[2]

Damit ist nicht gemeint, dass sich die Dinge allesamt oder auch nur die Aussagen konsistent verhalten. Wenn sie das nicht tun, wenn Inkonsistenzen der Fall sind und wenn man darüber etwas sagen will (was man nicht unbedingt tun muß), dann soll man die Inkonsistenzen Inkonsistenzen nennen und sie womöglich genauer beschreiben – und so sein eigenes Sprechen konsistent halten. Warum? Damit man sich und nicht nur sich, solange es erwünscht und möglich ist, im Gespräch hält. Das menschliche Dasein fortsetzt. 

„Es ist allerdings notwendig, dass diejenigen, die miteinander ins Gespräch kommen wollen, sich in irgendeiner Hinsicht verstehen; denn sollte es dazu nicht kommen, wie könnte es da wohl eine Gemeinsamkeit des Gespräches untereinander geben? Es muß daher jeder Ausdruck bekannt sein und ein Etwas bezeichnen, und zwar nicht vieles, sondern Eines; wenn es aber über mehrere Bedeutungen verfügt, muß man klären, in welcher von diesen man den Ausdruck verwendet. Wer nun sagt, dass dies sei und nicht sei, der behauptet nicht das, was er behauptet, so dass er also verneint, dass der Ausdruck das bezeichnet, was er bezeichnet. Das ist aber nicht möglich.“ (1062a 11ff.)

Man sieht, dass Aristoteles im  Aufweis des Ontologie-Axioms auf seine assertorische Ontologie anspielt, in der die diversen Verzweigungen des Seienden ausgebreitet worden waren – und nun zeigt er, dass damit keine schlechthinnigen Auflösungen programmiert waren. 


Im Buch IV hatte Aristoteles die Widerlegung des Gegners viel drastischer und polemischer vorgeführt, indem er ihn auf die Sprachlosigkeit einer Pflanze reduziert und so lächerlich gemacht hat – siehe 1006a 15 und 1008b 12.

Mit diesem Prinzip wirft Aristoteles nun seinem Kollegen Heraklit vorsichtig einen Fehdehandschuh hin. Falls dieser mit seinem berühmt gewordenen „Alles fließt.“ gemeint haben sollte, dass man im Hinblick auf dasselbe durchaus entgegengesetzte Behauptungen aufstellen könne, dann wäre er wohl ohne präzises Bewusstsein zu einer solchen Ansicht gelangt und wenn man bei ihm nachgefragt hätte, hätte man ihn zwingen können einzuräumen, dass besagte Ansicht nicht zu halten ist. (1062a 31ff.)

Ich stelle jetzt einmal die Vermutung auf, dass man von diesem vagen Heraklit-Beispiel einen Vergleichsfaden zu einem ebenso vagen Heisenberg- oder Zeilinger-Fall ziehen könnte. Es handelt sich um Denker oder Forscher, die im Zuge intensiver Arbeiten zu Aussagen oder experimentellen Ergebnissen kommen, welche herkömmliche Denkgewohnheiten in Frage stellen und dabei bestimmte Einsichten oder Hypothesen formulieren und die Wissenschaft so oder so weiterbringen. Ihre Formulierungen verbreiten sich im Publikum und Leute, die von den Sachen wenig Ahnung haben, machen daraus Schlagzeilen, die skandalös oder aber faszinierend wirken und den Eindruck erwecken, dass damit alle bisherigen Annahmen über die Wirklichkeit hinfällig seien. 

Aristoteles hat das Sicherste Prinzip gefunden oder erfunden, um den Einbruch des Unendlichen aufzuhalten. 

Walter Seitter




[1] Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 107-129.
[2] Walter Seitter: op. cit.: 124.