τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 28. Oktober 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1041a 6 – 1041b 2) / Josef König



Ivo Gurschler teilt mir eine bemerkenswerte Stelle aus Josef Königs Einführung in das Studium des Aristoteles (Freiburg München 2002) mit:

„Aristoteles ist der wortkargste Philosoph, den ich kenne. Und dies Urteil ist allgemein. Gerade deshalb muß man dem, was er nun äußert und dessen sprachliche Fixierung er für notwendig erachtet, sorgfältig nachgehen. Es lohnt sich immer. Es ist nicht nur notwendig für das begriffliche Verstehen, sondern gewährt den Genuß, einen in seinen Gegenstand verlorenen Künstler und Meister bei der Arbeit zu sehen: wie er Striche hinsetzt, die sitzen. Dieses zu verfolgen und immer wieder mit ihm nachzuvollziehen, ist überhaupt der tiefste Gewinn solcher Schriften. Der liegt nicht darin, dass uns irgendwelche große Gedanken über Gott und die Welt vorgetragen werden, Gedanken, die dann andere auch große Philosophen bestreiten und die sich schließlich doch irgendwo im Dunkel verlieren. Er liegt in der Qualität der Arbeit, in dem tiefen Handwerk. Dies zu gewahren, die Möglichkeit und Wirklichkeit solchen selbstverlorenen Sachbezugs an irgendeinem scheinbar und vielleicht auch wirklich wenig bedeutungsvollen Punkt und Satz leibhaft vor sich zu sehen – ist ein dauernder Besitz. Von den sog. großen umfassenden Gedanken gilt das nicht. In diesen kleinen Dingen liegt die Realität des Philosophierens. Und wer sie da nicht erfaßt, dem wird die Philosophie immer nur ein eingebildeter und zufälliger Besitz sein.“


In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z),  1041a 6 – 1041b 2)


Aristoteles setzt sein Herumfragen in Bezug auf das „Wesen“ fort.

Was und wie beschaffen ist das Wesen? Und wie steht es mit jenem Wesen, das abgetrennt von den sinnlich erfassbaren Wesen existiert? Zwei Fragen, die man wohlweislich unterscheiden muss: die erste bezieht sich auf das Wesen bzw. auf alle Wesen überhaupt; die zweite scheint auf die Unterscheidung von Realitätsbereichen zu zielen: in dem einen gibt es ein Wesen, in dem anderen mehrere und zwar sinnlich erfassbare.

Anstatt diese Fragen zu beantworten, geht Aristoteles zu einer anderen Frageform über: zur Weshalb- oder Warum-Frage, die zunächst ohne den Begriff „Wesen“ auskommt.

Da wird gefragt: weshalb kommt einem etwas anderes zu? Die tautologische Frage, weshalb etwas etwas ist, braucht gar nicht gestellt werden. (Eine positive Rolle spielt die Tautologie allerdings in der Zweiten Ontologie-Gründung in Buch V). Sinnvoll sind nur Fragen vom Typ: weshalb kommt eines zum anderen: das Musische  zu diesem Menschen, der Schall zu den Wolken, die Steine zu so einem Aufbau? Schematisch gibt Aristoteles zwei Antworten. Die Ursache liegt entweder im Was (Formursache oder Wesen) oder in der Wirkursache. Letztere ist Ursache beim Entstehen oder Vergehen, erstere beim Sein.

An dieser Stelle darf wieder einmal angemerkt werden, dass für Aristoteles jedwede Sache vier Ursachen hat (mindestens zwei von ihnen würden wir eher als Bestandteile bezeichnen).

Die Frage, was der Mensch sei, wird als zu einfach abgetan. Sinnvoller sei es, zu fragen, weshalb dieser so und so bestimmte Körper da ein Mensch sei. Derart würde man die Ursache des Stoffes suchen – und die wäre die Form, das Was, das Wesen.

Eine etwas andere Fragerichtung bezieht sich auf zusammengesetzte Dinge, die aus Elementen bestehen und zwar so, dass sie mehr sind als die Summe der Elemente. Etwa die Silbe aus zwei Buchstaben in einer bestimmten Anordnung. Oder das Fleisch von Lebewesen aus den Grundstoffen - „Elementen“ - Feuer und Erde und noch etwas – so dass das Fleisch sehr wohl etwas anderes ist als Feuer plus Erde und noch was, nämlich eine völlig neue Qualität.

Was führt dazu, dass da eine neue Qualität zustande kommt? Diese Ursache ist das Wesen; die erste Seinsursache des jeweiligen Dinges. Nicht alle Dinge sind Wesen, sondern nur diejenigen, die von Natur aus und naturgemäß bestehen.

Hier bedeutet physis – jedenfalls für das Beispiel „Fleisch“  - den Realitätsbereich, den wir „Natur“ nennen. Wenn Aristoteles daraus folgert: da würde sich die Natur als Wesen zeigen – so kippt die Bedeutung von physis in die Seinsmodalität „Wesen“ (wie das Aristoteles im Abschnitt 4 von Buch V selber ausgeführt hat). Diese „Natur“ wäre nicht etwa ein weiteres Element sondern eine andersartige Ursache, Formursache, die hier „Prinzip“ genannt wird. Der aristotelische Ursachen-Begriff ist sehr vieldeutig.

Das Beispiel der Silbe würde man kaum dem Realitätsbereich der Natur zuordnen – aber der Silbencharakter wird von Aristoteles ebenfalls einem „Wesen“ zugerechnet werden, welches Sache der jeweiligen Sprache ist.

In allergrößter Entfernung vom Realitätsbereich der Natur setzt Aristoteles die physis als Wesen und somit als Seinsmodalität ein, wenn er in der Poetik davon spricht, dass die Entwicklung der Tragödie aufgehört habe, sobald sie „ihre Natur erreicht habe“.[1]
 
Walter Seitter


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Sonntag, 21. Oktober 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1040b 20 – 1041a 5)

    Wir kommen noch einmal auf die zuletzt gelesene Stelle 1039b 28ff. zurück, wo die sinnlich erfassbaren Wesen aus der Wissenschaft ausgeschlossen werden, und stellen sie 1037a 13ff. gegenüber, wo die Betrachtung und sogar die Definierung solcher Wesen der Wissenschaft der Physik zugeordnet wird, welche sogar als Philosophie bezeichnet wird und bekanntlich von Aristoteles selber in einer umfangreichen Vorlesung abgehandelt worden war. Aristoteles scheint also wichtige Aussagen in widersprüchlicher Form zu machen und wir können sie in diesem Fall so verstehen, dass er verschiedene Phasen der seit Sokrates und Platon in Gang gekommenen Diskussion einfach festschreibt. 1037a 13ff. dürfte seiner eigenen Position entsprechen.

Wenn ich „seiend“ als das Grundwort und „Wesen“ als einen Hauptbegriff der aristotelischen Ontologie bezeichne, so will ich damit die beiden unterschiedlichen Ebenen auseinander-halten, welche diese Ontologie gliedern. „Seiend“ ist sehr vieldeutig, es zerfällt in viele Seinsmodalitäten, deren dominante das Wesen ist und daneben gibt es noch die Akzidenzien.

Mit dem Wesen sind Vermögen und Vollendung verbunden. Zu den Wesen gehören die Grundstoffe wie Erde, Feuer, Luft – siehe Buch V, 
1017b 10.

Mit dem Seienden geht das Eine Hand in Hand und weder das Seiende noch das Eine können das Wesen der Dinge sein.

Mit der Engführung von Seiendem und Einem wird indessen jenes aus seiner bisher so betonten Vielfältigkeit herausgeholt und es gewinnt einen stärkeren ontologischen Status in Richtung Ursächlichkeit und Prinzipialität – sodass seine Allgemeinheit eine eigene Existenz zu bekommen scheint. Etwa im Sinne eines mächtigen „Seienden“ oder eines emphatischen „Seins“?

Doch Aristoteles äußert sich nicht in dieser Richtung, vielmehr betont er neuerlich, dass nur die Wesen existieren und zwar immanent in jeder Hinsicht: „Denn das Wesen kommt keinem anderen zu als ihm selbst und dem, das über Wesen verfügt und dessen Wesen es ist.“ (1040b 24)

Die Vertreter der Ideenlehre schließen aus der Verschränkung von Seiendem und Einem, dass es außer den sinnlichen Wesen auch unvergängliche Wesen gibt – die aber seien nichts anderes als die Urbilder der vergänglichen und insofern der Art nach gleiche. Über den Menschen gebe es das „Selbstmensch“ und außer den Pferden das „Selbstpferd“. So hatte Aristoteles schon in Buch I, 991a 28ff. die platonische Lehre charakterisiert: als Verdoppelung der irdischen Welt.

Für Aristoteles hingegen erschließen sich die ewigen Wesen auf zwei Bahnen: einerseits haben wir von ihnen eine gewisse eventuell auch sinnliche Erkenntnis, die aber nicht vollständig ist; und selbst wenn wir nicht wüssten, was sie sind, wäre es notwendig anzunehmen, dass es solche Wesen gibt. Also eine merkwürdige Kombination aus sinnlicher Andeutung und notwendiger Annahme.

Dem letzten Abschnitt konnten wir entnehmen, dass Aristoteles jene Wesen für individuelle Wesen im starken Sinn, für Unikate, hält. Und ihre Funktion besteht nicht darin, den vergänglichen Wesen ihr Wesen zu liefern. Die natürlichen Dinge bekommen ihr Wesen von den „Eltern“ mitgeteilt, die künstlichen Dinge bekommen sie von den „Künstlern“.

Walter Seitter

PS.
Dazwischen ist Raum für vielerlei Akteure und Produzenten.



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Sonntag, 14. Oktober 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1039b 20 – 1040b 4)


Das Buch VII, dessen Lektüre uns nun seit dem Juni des Vorjahres beschäftigt, konzentriert sich im Unterschied zu den früheren Büchern auf ein Spezialthema, nämlich das Wesen. Daraus muss man aber nicht schließen, dass es das Untersuchungsfeld, das man „Ontologie“ nennt und das explizit im Buch IV begründet worden ist, verlässt und etwa ein neues aufmacht.

Der Grundbegriff der Ontologie scheint das „Seiende“ zu sein – ein Begriff, der unseren Ohren hölzern klingen mag, dieses Partizip Präsens in dritten Geschlecht. Ein Begriff, dessen Allgemeinheit ins Vieldeutige geht, weil er sehr unterschiedliche Seinsmodalitäten bezeichnet – vom starken Wesen bis zur schwachen (?) Relation. Also eigentlich gar kein Begriff, sondern eher ein Grundwort, ein explodierendes, fast homonymes. Obwohl so allgemein, bezeichnet das Wort nicht eine Gattung, wie man vermuten möchte, zu der dann die Unterschiede kommen. Sondern es schmiegt sich den Seinsmodulierungen an, von denen das Wesen die dominante ist. Das „Wesen“ ist der Hauptbegriff der Ontologie – und der ist wieder so gewichtig, dass er eine ganze Reihe von Synonymen um sich hat, die seine verschiedenen Nuancen ausdrücken. Vieldeutigkeit des Seienden und Vielnamigkeit des Wesens - das sind die beiden  Multiplizitäten der aristotelischen Ontologie (ohne dass ich jetzt die vielen Entfaltungsbegriffe, es sind mindestens zwanzig, genannt hätte).

Die sogenannte Metaphysik, also dieses Gesamtbuch, behandelt neben der Ontologie noch ein anderes Feld – die Theologie (die quantitativ nur marginal ist).

Im Abschnitt 15 führt Aristoteles aus, dass sowohl Einzeldinge, z. B. menschliche Individuen, wie auch „Ideen“ (im platonischen Sinn) nicht definierbar und folglich nicht wissenschaftlich behandelbar sind.

Zum Beispiel die Unmöglichkeit von „dich definieren“ (1040a 13): mit der Angabe von qualitativen Bestimmungen körperlicher oder seelischer oder geistiger Art kann ich nicht sicher sein, dass sie nur dir zukommen und sonst niemandem. Der Vorschlag, den Namen als Bestimmung anzugeben, geht fehl, weil Eigennamen von vornherein keine Begriffe sind. Und eine andere Bestimmung – nämlich die Einnahme einer bestimmten Raumstelle zu einem bestimmten Zeitpunkt, könnte zwar ein Individuum treffen, liefert aber keine Qualitäten. Die Aussage, ein veränderliches und vergängliches individuelles Ding könne nicht Gegenstand von Definition und folglich von Wissenschaft sein – widerspricht sie einer anderen aristotelischen Aussage, nämlich in 1037a 14, die Betrachtung und Definierung der sinnlich erfassbaren Wesen sei Aufgabe der Physik?

Nach Aristoteles gibt es auch ewige und strikt individuelle, nämlich einzigartige Dinge wie Sonne und Mond. Auch sie können nicht definiert werden, weil jede Definition ihnen auch allgemeine Bestimmungen zuschreiben müsste, die ihre Einzigartigkeit beeinträchtigen würde. Mir scheint, dass die heute von manchen vertretene „Gaia-Hypothese“ eine ähnliche Auffassung von der Erde suggeriert: als einem einzigartigem quasi-lebendigen und göttlichen Wesen. Und eine platonische Idee wäre nach Aristoteles auch so ein undefinierbares Ding.

Walter Seitter

Sitzung vom 10.  Oktober 2018
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