Wir kommen noch einmal auf die zuletzt gelesene Stelle 1039b
28ff. zurück, wo die sinnlich erfassbaren Wesen aus der Wissenschaft
ausgeschlossen werden, und stellen sie 1037a 13ff. gegenüber, wo die
Betrachtung und sogar die Definierung solcher Wesen der Wissenschaft der Physik
zugeordnet wird, welche sogar als Philosophie bezeichnet wird und bekanntlich
von Aristoteles selber in einer umfangreichen Vorlesung abgehandelt worden war.
Aristoteles scheint also wichtige Aussagen in widersprüchlicher Form zu machen
und wir können sie in diesem Fall so verstehen, dass er verschiedene Phasen der
seit Sokrates und Platon in Gang gekommenen Diskussion einfach
festschreibt. 1037a 13ff. dürfte seiner eigenen Position entsprechen.
Sitzung vom 17. Oktober 2018
Wenn ich „seiend“ als das Grundwort und „Wesen“ als einen
Hauptbegriff der aristotelischen Ontologie bezeichne, so will ich damit die
beiden unterschiedlichen Ebenen auseinander-halten, welche diese Ontologie
gliedern. „Seiend“ ist sehr vieldeutig, es zerfällt in viele Seinsmodalitäten,
deren dominante das Wesen ist und daneben gibt es noch die Akzidenzien.
Mit dem Wesen sind Vermögen und Vollendung verbunden. Zu den
Wesen gehören die Grundstoffe wie Erde, Feuer, Luft – siehe Buch V,
1017b 10.
Mit dem Seienden geht das Eine Hand in Hand und weder das
Seiende noch das Eine können das Wesen der Dinge sein.
Mit der Engführung von Seiendem und Einem wird indessen jenes
aus seiner bisher so betonten Vielfältigkeit herausgeholt und es gewinnt einen
stärkeren ontologischen Status in Richtung Ursächlichkeit und Prinzipialität –
sodass seine Allgemeinheit eine eigene Existenz zu bekommen scheint. Etwa im
Sinne eines mächtigen „Seienden“ oder eines emphatischen „Seins“?
Doch Aristoteles äußert sich nicht in dieser Richtung, vielmehr
betont er neuerlich, dass nur die Wesen existieren und zwar immanent in jeder
Hinsicht: „Denn das Wesen kommt keinem anderen zu als ihm selbst und dem, das
über Wesen verfügt und dessen Wesen es ist.“ (1040b 24)
Die Vertreter der Ideenlehre schließen aus der Verschränkung von
Seiendem und Einem, dass es außer den sinnlichen Wesen auch unvergängliche
Wesen gibt – die aber seien nichts anderes als die Urbilder der vergänglichen
und insofern der Art nach gleiche. Über den Menschen gebe es das „Selbstmensch“
und außer den Pferden das „Selbstpferd“. So hatte Aristoteles schon in
Buch I, 991a 28ff. die platonische Lehre charakterisiert: als Verdoppelung der
irdischen Welt.
Für Aristoteles hingegen erschließen sich die ewigen Wesen auf
zwei Bahnen: einerseits haben wir von ihnen eine gewisse eventuell auch
sinnliche Erkenntnis, die aber nicht vollständig ist; und selbst wenn wir nicht
wüssten, was sie sind, wäre es notwendig anzunehmen, dass es solche Wesen gibt.
Also eine merkwürdige Kombination aus sinnlicher Andeutung und notwendiger
Annahme.
Dem letzten Abschnitt konnten wir entnehmen, dass Aristoteles
jene Wesen für individuelle Wesen im starken Sinn, für Unikate, hält. Und ihre
Funktion besteht nicht darin, den vergänglichen Wesen ihr Wesen zu liefern. Die
natürlichen Dinge bekommen ihr Wesen von den „Eltern“ mitgeteilt, die
künstlichen Dinge bekommen sie von den „Künstlern“.
Walter Seitter
PS.
Dazwischen ist Raum für vielerlei
Akteure und Produzenten.
Sitzung vom 17. Oktober 2018
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